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Antisemitismus im Deutungskampf

Foto: Just (1JUST.de) CC BY NC ND 4.0

„Antisemitismus als Problem und Symbol“

Das Berliner ZfA veröffentlichte seine Studie unter dem Titel „Antisemitismus als Problem und Symbol“ in der Schriftenreihe der Berliner Landeskommission gegen Gewalt, die dem Innensenat unterstellt ist. Die Autoren der Studie, Michael Kohlstruck und Peter Ullrich, haben 29 Vertreter_innen nichtstaatlicher Organisationen, jüdischer Einrichtungen sowie Behörden, die sich mit der Thematik Antisemitismus in Berlin auseinandersetzen, befragt. Bei der Lektüre wird deutlich, dass es jedoch weniger um Antisemitismus, sondern vielmehr um die entsprechende Wahrnehmung und Deutung seitens der im Feld engagierten Akteure geht. Hier deutet sich schon an, was unter anderem vom AJC scharf kritisiert wurde: Durch den wissenschaftlichen Duktus schwingt im Subtext der Studie immer auch eine Portion Erhabenheit über die (subjektiven) Deutungen der befragten Akteure mit. Doch lässt sich ein Bedrohungsgefühl quantitativ belegen oder entkräften? Die Studie scheint dies nahe zu legen, etwa wenn hinsichtlich des Bedrohungsgefühls der jüdischen Interviewpartner_innen das Resümee gezogen wird, „emblematische Vorkommnisse“ würden als „typisch“ repräsentiert, während es an Beispielen für weitere vergleichbare Vorkommnisse mangele. Tatsächlich lässt sich so der Eindruck gewinnen, dass es den Autoren an Empathie fehlt.

Bereits im Titel wird eine Hauptaussage deutlich. Der Anti-Antisemitismus, so die Autoren, könne nicht abstrahiert werden von der Symbolik, die die Thematisierung von antisemitischen Phänomenen vor dem Hintergrund der Shoah in Deutschland einnehme. Kurz: Anti-Antisemitismus gehört heute zur Staatsräson und lasse sich als Symbol kaum unterschätzen. Dazu gehöre gleichermaßen die staatliche Rhetorik, gemäß der Deutschland immer an der Seite Israels steht. Soweit, so richtig.

Bei den befragten Akteuren sei vorrangig eine „entgrenzende Verwendung des Antisemitismuskonzeptes“ festzustellen: Durch den hohen moralischen Begründungszusammenhang (Shoah) würden verschiedene antisemitische Phänomene zu „dem Antisemitismus“ verdichtet und somit ein dringender Handlungsbedarf kons­tatiert. Gerade in der Bildungsarbeit mangele es Akteuren an einer eindeutigen Definition von Antisemitismus, die vielmehr implizit durch den moralischen Begründungszusammenhang Shoah ersetzt werde: „Mit einer gewissen beweispflichtentlasteten Unbekümmertheit scheint das Urteil „Antisemitismus“ vergeben werden zu können.“ So sei eine Tendenz des „entdifferenzierenden Gebrauchs von Antisemitismus“ festzustellen, wodurch nicht zuletzt Grauzonen dethematisiert würden.

Antisemitische Umwegkommunikation

Die Forderung nach einer konkreteren Definition, die über die in der Bildungsarbeit verwendeten Arbeitsdefinitionen hinausgeht, erstaunt angesichts dessen, dass die Autoren in ihrer theoretischen Rahmung selbst eine „Kommunikationslatenz des Antisemitismus“ konstatieren: Antisemitis­mus artikuliert sich in Deutschland gerade aufgrund der Shoah nicht mehr offen, sondern über eine Umwegkommunikation. Nur noch selten wird nach 1945 ganz offen gegen Juden gehetzt, sondern es werden vielmehr Chiffren (ZOG, Zionisten, Coca-Cola, Ostküste, Heuschrecken, FED...) verwendet. Gerade diese oft schwer zu ermittelnde Sicherheit, ob es sich dabei tatsächlich um eine Umwegkommunikation mit dem Ziel der Äußerung antisemitischer Sinngehalte handelt, sei laut den Autoren einer der Gründe, warum es immer wieder zu gesellschaftspolitischen Debatten zum Thema kommt. Daher sind Definitionen in der geforderten Eindeutigkeit eher schwer zu leisten. Nicht ohne Grund untersuchen Theoretiker wie Klaus Holz die semantische Konstruktion antisemitischer Denk- und Deutungsmuster.

Ziel antisemitismuskritischer Bildungsarbeit ist es daher auch, für die Anschlussfähigkeit bestimmter Denk- und Deutungsmuster an ein antisemitisches Weltbild zu sensibilisieren und die jeweiligen Ursachen für entsprechende Haltungen im Einzelfall zu analysieren, um diese anschließend bearbeiten zu können.

Und die Rechtsprechung?

Doch nicht nur in Berlin wird derzeit die Auseinandersetzung um die Definition von Antisemitismus verstärkt geführt. In den letzten Monaten ergingen unterschiedlichste Urteile zum Thema. Im November 2014 bestätigte die Generalstaatsanwaltschaft Koblenz die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Mainz, dass auf einer Demonstration im Sommer 2014 gerufene Parolen wie „Tod, Tod, Israel“ nicht als Volksverhetzung zu bewerten seien: „Kritik“ an einem ausländischen Staat falle nicht unter den Straftatbestand der Volksverhetzung.

Zu einem anderen Ergebnis kam das Amtsgericht Essen in einem noch nicht rechtskräftigen Urteil im Januar 2015. Die auf einer Demonstration angesichts des Gaza-Krieges im Sommer 2014 ausgerufene Paro­le „Tod und Hass den Zionisten“ wurde vom Gericht als Volksverhetzung gewertet. Im Urteil heißt es: „Die Bezeichnung ,Zionist’ stellt aber auch im Sprachgebrauch des Antisemitismus ein Codewort für Juden dar. Dass der Angeklagte Juden meinte und nicht Zionisten im eigentlichen Sinne ergibt sich aus den Begleitumständen der umstrittenen Äußerung. Denn der Angeklagte nahm an einer zunächst friedlichen Demonstration anlässlich des aktuellen Nahostkonfliktes teil, bei der es im weiteren Verlauf zu antisemitischen Ausschreitungen kam. (…) Diese Begleitumstände stehen in keinem erkennbaren Zusammenhang mit einer zionistischen Bewegung oder zionistischen Zielen. Vielmehr bediente sich der Angeklagte eines antisemitistischen Codes für die jüdische Bevölkerung, um seiner Missbilligung der Vorgehensweise der israelischen Armee Nachdruck zu verleihen.“

"Antisemitismus? Ist abgeschafft."

Interessant ist nicht zuletzt das Urteil des Landgerichts München gegen Jutta Ditfurth, in dem das Gericht der Beklagten unter Androhung einer hohen Geldstrafe untersagte, Jürgen Elsässer als „glühenden Antisemiten“ zu bezeichnen. Jutta Ditfurth hatte Jürgen Elsässer, auch aufgrund seiner politi­schen Aktivitäten im Rahmen der „Montagsmahnwachen“, als „glühenden Antisemiten“ bezeichnet, woraufhin dieser eine Unterlassungsklage angestrengt hat. In der mündlichen Urteilsbegründung argumentierte die Richterin: „Ein glühender Antisemit in Deutsch­land ist jemand, der mit Überzeugung sich antisemitisch äußert, mit einer Überzeugung, die das Dritte Reich nicht verurteilt und ist nicht losgelöst von 1933 bis 45 zu betrachten vor dem Hintergrund der Geschichte.“ Das Urteil ignoriert damit sämt­liche Ergebnisse der Antisemitismusforschung der letzten Jahrzehnte, in denen immer wieder auf die Umwegkommunikation verwiesen wird. Die TAZ überschreibt in Reaktion auf das Urteil ihren Artikel daher mit: „Antisemitismus? Ist abgeschafft.“

Staatliche Symbolpolitik gemeinsam dekonstruieren

Es ließen sich an dieser Stelle noch weitere Beispiele für den aktuellen Deutungskampf um Antisemitismus heranziehen. Traurig stimmt diese Entwicklung vor allem aber aus einer anderen Perspektive, die oft auch mit der problematischen Bezeichnung „Opferkonkurrenz“ beschrieben wird. Gemeint ist, dass eine Ursache für antisemitische Äußerungen bei Menschen mit familiärem Bezug zum Nahen Osten darin zu suchen sei, dass die Erinnerung an die Shoah in Deutschland sehr dominant sei, während gleichzeitig eigene Diskriminierungserfahrungen zu wenig Anerkennung erfahren würden. Diese würden auf den Staat Israel projiziert, um so die erfahrene Ohnmacht „abladen“ zu können. In der Auseinandersetzung geht es daher auch um die Frage, inwieweit der Rassismus in Deutschland als Generator von Antisemitismus begriffen werden kann.

Diese Polarisierung und Hierarchisierung ist nicht nur vor dem Hintergrund der staatlichen Aneignung und symbolischen Besetzung dieser Themen fatal. Initiativen und Akteure, die sich die Bekämpfung von Rassismus und/ oder Antisemitismus auf die Fahnen geschrieben haben, sollten sich verstärkt auf Gemeinsamkeiten berufen. Ein Beispiel: Eine Umsetzung der Empfehlungen des Untersuchungsausschusses des Bun­destages zum NSU findet ebenso schleppend bis gar nicht statt, wie die Umsetzung der durch die 1. Expertenkommission gegen Antisemitismus ausgesprochenen Empfehlungen. Hier gilt es anzusetzen und die vielfach symbolhaften Beteuerungen staatlicher Behörden im Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus aufzuzeigen. Dass sowohl Betroffene von Rassismus als auch von Antisemitismus im Diskurs kaum zu hören sind, ist eine Gemeinsamkeit, die auch durch ein gemeinsames Vorgehen angegangen werden sollte.