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Antisemitismus in der Schweiz

Einleitung

Mit der Debatte um die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg wurden in der Schweiz vermehrt wieder antisemitische Töne laut. Parallel zu dieser Zunahme erhielt die Justiz 1994 mit der Anti-Rassismus-Strafnorm ein Instrument in die Hände, das inzwischen häufig Anwendung findet. Die 1995 als Folge des Beitritts der Schweiz zur UNO-Konvention geschaffene «Eidgenössische Kommission gegen Rassismus» legt nun in einem Bericht dar, wie sich der Antisemitismus in den letzten Jahren in der Schweiz entwickelt hat.

Bild: wikimedia.org; Emil Rahm; CC BY-SA 3.0

Der Herausgeber der rechen Postille „Memopress“ Emil Rahm zählte zu den Gegnern des Antirassismus-Gesetzes.

Sowohl gestern als auch heute

Der Zufall wollte es, daß ausgerechnet am vergangenen 9. November, dem 60. Jahrestag der von den Nationalsozialisten organisierten Pogrome gegen JüdInnen in Deutschland, die Rechtskommission des Schweizer Nationalrats beantragte, die Immunität von Rudolf Keller, Nationalrat und Zentralpräsident der rechten „Schweizer Demoraten“, aufzuheben, damit ein Strafverfahren in die Wege geleitet werden kann. In seiner Funktion als Parlamentarier und Parteivorsitzender hatte Keller im Sommer 1998 zu einem Boykott jüdischer Waren aufgerufen.1

Trotz dieser eindeutigen Aussagen beantragt eine Minderheit der Rechtskommission, die Immunität nicht aufzuheben mit der Begründung, «der Aufruf müsse als Teil jener heftigen Auseinandersetzungen gesehen werden, als die Schweiz massiv unter Druck kam und auch in der Öffentlichkeit teilweise gefragt wurde, ob sich denn niemand für das Land wehre»2 Die Argumentationsweise der «legitimen Verteidigung gegen Angriffe von außen» ist eine in der schweizerischen Tradition des Antisemitismus wohl vertraute Figur, nicht nur in Bezug auf JüdInnen, sondern auf «das Fremde» schlechthin.

In dieser Kontinuität steht auch die bis nach dem Zweiten Weltkrieg antisemitisch geprägte Flüchtlingspolitik. Der 1938 auf Wunsch der Schweiz in Deutschland und Österreich eingeführte J-Stempel in den Pässen jüdischer Menschen markierte am augenfälligsten, wie die rassistische Kategorisierung integraler Bestandteil schweizerischer Asylpolitik war. Diese wird heute noch weitergeführt.

Nach 1945 manifestierte sich der Antisemitismus kaum mehr öffentlich. Sowohl in ultra-rechten Zirkeln als auch in weiten Teilen der Bevölkerung blieb dieses Gedankengut jedoch erhalten und konnte jederzeit in unterschiedlicher Form wieder an die Oberfläche treten. Zudem gibt es für diese Zeit keine umfassende Forschung. «Man kann deshalb (...) nur vermuten, daß es, ähnlich wie in Deutschland, eine große desinteressierte Mehrheit gab, daß im Rahmen eines Generationenwechsels sich ein Teil der Antisemiten zu Gleichgültigen und ein Teil der Gleichgültigen zu Anti-Antisemiten wandelten».

1989 und die Folgen

Noch vor der aktuellen Debatte über die Befindlichkeit der Schweiz angesichts der konkreten Vorhaltungen zu Verfehlungen der eidgenössischen Politik im Zweiten Weltkrieg wurde von verschiedenen Gruppen versucht, Antisemitismus salonfähig zu machen. Diese Avancen erreichten jedoch nie eine breitere Resonanz. Erst als 1989 die Schweiz in mancherlei Hinsicht um identitätsstiftende Elemente bangen mußte3 und einige Grundpfeiler ins Wanken gerieten, wurde als Reaktion darauf gewalttätiger Rassismus offenbar, in dessen Folge auch antisemitische Töne an die Oberfläche kam.

Unter anderem als Konsequenz aus den ersten gewalttätigen Übergriffen auf AsylbewerberInnen-Wohnheime wurde im Dezember 1989 das Antirassismus-Gesetz sowie der Beitritt zur UNO-Konvention gegen Rassendiskriminierung ratifiziert. Knapp fünf Jahre später wurde das Gesetz, nachdem die extreme Rechte erfolgreich das Referendum dagegen ergriffen hatte, der Stimmbevölkerung vorgelegt und mit schäbigen 54% Ja- Stimmen gutgeheißen. Im Zuge dieses Referendumskampfes waren deutlich antisemitische Töne zu hören, bangten doch gerade jene Kreise um ihre sogenannte «Meinungsäußerungsfreiheit», die seit Jahren gegen eine «jüdische Weltverschwörung» und die «Vernichtung der weißen Rasse» ins Feld gezogen sind. Die größte und am breitesten abgestützte reaktionäre Lobbygruppe, die "Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz" (AUNS), um den charismatischen Volksparteiler Christoph Blocher, wollte sich die Finger jedoch nicht verbrennen. Sie überließ das Feld, trotz Übereinstimmung in der Ablehnung dieses «Maulkorb-Gesetzes»4 , den rechten Akteuren wie etwa den St. Galler Arzt Walter Fischbacher, dem Herausgeber der rechen Postille „Memopress“ Emil Rahm5 und dem Herausgeber der rechten Zeitschrift „Recht + Freiheit“ Ernst Indlekofer. Emil Rahm, Walter Fischbacher und Ernst Indlekofer zählten zu den Gründern einer «Aktion für freie Meinungsäußerung – gegen UNO-Bevormundung» (AfM), die 47.000 Unterschriften zum Referendum gegen die Einführung der Rassismus-Strafnorm sammelte. Weitere Aktivisten der Gruppierung waren Wolfgang von Wartburg und Reto Kind.

Der sich Mitte der 1990er Jahre manifestierende Antisemitismus wurde in erster Linie von den umtriebigen Gegnern der Antirassismus-Strafnorm vertreten. Über diesen beschränkten Kreis hinaus wurde dank eines breiten, wenn auch z.T. taktischen Konsens der Regierungsparteien bis hin zur Schweizerische Volkspartei (SVP Schweiz), die sich die Finger nicht verbrennen mochte, nicht offen antisemitisch argumentiert.

Bundesrätliche Entschuldigung und Verunglimpfung

Anders bei der seit 1996 intensiv geführten Auseinandersetzung über die nachrichtenlosen Vermögen aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges auf Schweizer Bankkonten. Das lange gehegte Bild von der «humanitären Tradition» der Schweiz konnte zwangsläufig nicht mehr länger aufrechterhalten werden. Die bereits am 7. Mai 1995, anläßlich der 50-Jahre-Gedenkfeier zum Ende des Zweiten Weltkrieges erfolgte Entschuldigung des damaligen Bundespräsidenten Kaspar Villiger für die Zurückweisung von JüdInnen an der Grenze erschütterte diesen identitätsstiftenden Grundpfeiler der modernen Schweiz.

Doch nur eineinhalb Jahre später waren vom inzwischen verstorbenen Volkswirtschaftsminister Jean-Pascal Delamuraz ganz andere Töne zu vernehmen. Wenn angesichts der berechtigten Forderungen von jüdischen Organisationen selbst ein Regierungsmitglied von „Erpressung" spricht und sich rhetorisch fragt, ob Auschwitz in der Schweiz liege, ist einer antisemitischen Argumentationsweise derart Vorschub geleistet, daß die vorgehaltene Hand spätestens dann hemmungslos entfernt werden kann.

Auch die darauf erfolgte Entschuldigung an den Präsidenten des jüdischen Weltkongresses vermag da nicht mehr viel auszurichten. Das Bild von den »geldgierigen Erpressern« war längst in der Bevölkerung verbreitet, und der bundesrätliche Ausspruch kann in diesem Kontext auch als Ausdruck eines bereits herrschenden Konsenses gesehen werden.

Insbesondere LeserInnenbriefe, Briefe an jüdische Persönlichkeiten sowie andere Personen aus dem öffentlichen Leben spiegeln die weite Verbreitung antisemitischer Vorurteile. Im Unterschied zum Antisemitismus der extremen Rechten kann in diesem Zusammenhang von einem alltäglichen oder gar «gewöhnlichen Antisemitismus» gesprochen werden: Weder handelt es sich um ein durchdachtes ideologisches Konstrukt, das zum Erreichen bestimmter politischer Forderungen zurechtgelegt wird, noch ist er organisiert. Es sind BürgerInnen, die sich bei beliebigen Gelegenheiten entsprechend äußern.

Damit soll eine als krisenhaft interpretierte Situation auf Kosten der JüdInnen bewältigt werden. In dieser Hinsicht gleicht der aktuelle dem historischen Antisemitismus, indem JüdInnen zu TäterInnen konstruiert werden (im Fall der Schweiz: ErpresserInnen). Der altbewährte Abwehrreflex, das Einigeln, das ja schon gegen Hitler erfolgreich war, wird nun auch gegen die «Unverschämtheit der Juden» angewandt. So und ähnlich argumentiert manch ein Vertreter der Kriegsgeneration. Hitler und die Juden seien Bedrohungen für die Schweiz und müßten deshalb ferngehalten werden; und was sich in der Vergangenheit bewährt hatte, wird auch heute nützlich sein.

Der alltägliche Antisemitismus

Als Beleg für diese Tendenzen analysierte die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus in ihrem aktuellen Bericht «Antisemitismus in der Schweiz» die LeserInnenbriefeinsendungen an verschiedenen Tageszeitungen und findet dort die gesamte Palette an Antisemitismen. Eine immer wiederkehrende Rechtfertigung ist die Behauptung der SchreiberInnen, kein/e Rassist/in oder Antisemit/in zu sein, um danach das berühmte «Aber» zu zücken. Allen öffentlichen Äußerungen in der Art der LeserInnenbriefe ist gemeinsam, daß altbekannte Stereotypen bemüht werden.

Nicht weniger erstaunlich ist, mit welcher Hartnäckigkeit sich Vorurteile selbst in der Berichterstattung der Massenmedien halten können. Mit dem Titel «Wir und die Juden. Report: der Einfluss der Juden» suggeriert das Hochglanz- Nachrichtenmagazin «Facts» in seiner Ausgabe 3/1997 einerseits einen Gegensatz zwischen Schweizern und Juden und andererseits einen speziellen Einfluß der Juden.

Als eine Konsequenz solcher Berichterstattung und der Weitergabe von Vorurteilen läßt sich bei Meinungsumfragen denn auch zwischen den Jahren 1995 und 1997 ein signifikanter Wandel feststellen. Exemplarisch soll hier nur auf folgendes Ergebnis hingewiesen werden: In einer Umfrage des Soziologischen Instituts der Universität Zürich wurden Jugendliche u.a. gefragt, «ob die Juden auf der Welt zu viel Einfluß hätten». Stimmten dieser Frage 1995 bereits erschreckende 14 Prozent zu, so waren es 1997, nachdem in der Öffentlichkeit durch die Aussagen von PolitikerInnen und Medien das Terrain geebnet wurde, unglaubliche 31 Prozent. Diese krasse Zunahme ist kein Einzelfall, an Deutlichkeit jedoch kaum zu übertreffen.

Justiz bleibt nicht untätig

Praktisch parallel mit dieser Zunahme antisemitischer Äußerungen griff auch die Justiz härter durch und konnte Dank dem neugeschaffenen Strafgesetz-Artikel 261 etliche Urteile aussprechen. Seit Inkrafttreten der Antirassismus- Strafnorm sind bis zum Sommer vergangenen Jahres 100 Urteile bekannt (38 Verurteilungen und 62 Freisprüche oder Einstellungen).

In 55 Fällen ist der Tatbestand antisemitisch motiviert. Den Befürchtungen, Holocaust-Leugner könnten Prozesse dazu nutzen, ihre Ansichten öffentlich wiederzugeben, wurde bereits 1995 mit einem Bundesgerichtsurteil der Riegel vorgeschoben. Die höchste Schweizer Instanz meinte dazu in einem Verfahren gegen die Negationistin Mariette Paschoud: «Die Forderung nach einem einzigen Beweis für die Existenz von Gaskammern ist angesichts des vorhandenen Beweismaterials absurd

Nicht nur in Fällen von bekannten und notorischen Holocaust- LeugnerInnen kam es zu Verurteilungen. Auch im Bereich des «alltäglichen Rassismus/Antisemitismus» schritt die Justiz ein, so z.B. gegen LeserbriefschreiberInnen. Wenn nun in einer der nächsten Sitzungen der eidgenössischen Räte über die Aufhebung der parlamentarischen Immunität des Präsidenten der Schweizer Demokraten verhandelt wird, damit er eventuell vor Gericht zur Verantwortung für seine antisemitischen Äußerungen gezogen werden kann, dann wäre dies zwar eine unübliche Angelegenheit, wurde doch das letzte Mal in den 1930er Jahren die rechtliche Unantastbarkeit von Parlamentariern aufgehoben.

Doch läge es in der Konsequenz der bisherigen Rechtsprechung, solche Äußerungen strafrechtlich zu sanktionieren. Gleichzeitig ist es aber auch Ausdruck eines Wettlaufs der Justiz gegen die Häufung antisemitischer Aussagen, denen mit strafrechtlichen Maßnahmen alleine nicht beizukommen ist.

  • 1«Heute appellieren wir an alle Schweizerinnen und Schweizer, sämtliche amerikanischen und US-jüdischen Waren, Restaurants und Ferienangebote so lange zu boykottieren, bis diese gemeinen und völlig unberechtigten Angriffe und Klagen gegen die Schweiz (...) aufhören! Wir lassen uns nicht mehr erpressen und schreiten zur Tat!»; zitiert nach Niggli/Frischknecht, «Rechte Seilschaften» 1998, S. 456
  • 2Neue Zürcher Zeitung, 10. November 1998
  • 3Neben den geopolitischen Umwälzungen, stellt das Jahr 1989 auch in einem spezifisch nationalen Kontext in der Schweiz eine Umbruchphase dar, die einen entscheidenden Einfluß auf die Neuformierung der politischen Rechten hatte. Die vier wichtigsten Ereignisse, die 1989 die politische Landschaft maßgeblich beeinflußten waren: 1. Volksabstimmung über die Abschaffung der Armee. 35% der Stimmberechtigten votierten für eine Auflösung der am meisten identitätsstiftenden Institution der Kriegs- und Nachkriegszeit. 2. Der Beschluß im Rahmen der Efta und EU Staaten über einen gemeinsamen Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) zu verhandeln, legte eines der zentralen Themen fest, entlang dessen die (extreme) Rechte ihre Propaganda gegen eine wirtschaftliche und politische Öffnung schmieden konnte. 3. Die Verwicklung des ersten weiblichen Bundesratsmitglieds in undurchsichtige Geldwäschereigeschäfte ihres Mannes führte zu einer Krise der FDP als DIE staatstragende Partei. 4. Das Aufdecken der 900.000 sog. persönlicher «Fichen», Registrierungen des schweizerischen Staatsschutzes, führten zu einer weiteren schweren Vertrauenskrise gegenüber dem politischen System.
  • 4Dieser Begriff wurde vom international äußerst umtriebigen Alt-Nazi Gaston-Armand Amaudruz (*1920) geprägt, bevor er zum Standardausdruck breiterer rechter Kreise wurde.
  • 5Wegen der Verbreitung von rund 50 Exemplaren des antisemitischen Buches „Geheimgesellschaften“ von Jan Udo Holey wurde Rahm 1997 vom Untersuchungsrichteramt Schaffhausen wegen Rassendiskriminierung zu einer Geldbuße von 5.000 Franken verurteilt