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Antifaschistische Geschichte sichtbar machen!

Ein Beitrag der Antifaschistischen Linken international
Einleitung

Antifaschistische Geschichtspolitik ist wichtiger denn je. In Zeiten, in denen es von 1998 bis 2005 unter Rot-Grün einen postulierten staatlichen Antifaschismus in der BRD gegeben hat und die Rolle der antifaschistischen Bewegung dadurch uneindeutig wurde. In Zeiten, in denen spätestens zur Fußballweltmeisterschaft der Männer 2006 eine Kampagne betrieben wurde, in denen die deutsche Bevölkerung wieder ein positives Bewusstsein zur deutschen Nation entwickeln sollte. Und in Zeiten, in denen letzte ZeitzeugInnen des deutschen Faschismus als authentische VermittlerInnen jener Zeit sterben. 

Wie der Begriff es schon sagt, gründet antifaschistische Politik per se auf einem historischen Bezug zum Antifaschismus der 1920er und 1930er Jahre, der sich gegen den aufkommenden Faschismus in Deutschland und Europa entwickelt hat. Es ist an uns, diese Geschichte als die unsere zu begreifen, kritisch zu hinterfragen und für unsere gegenwärtigen Kämpfe fruchtbar zu machen. Fast 70 Jahre nach der Befreiung vom Faschismus in Europa stehen wir vor der Herausforderung, antifaschistische Geschichte zu vermitteln. Dieser Aufgabe müssen sich antifaschistische Strömungen in ganz Europa stellen. In Deutschland stehen wir im Land der TäterInnen dabei vor besonderen Herausforderungen. Als lokal verankerte Gruppe versuchen wir in Göttingen geschichtspolitische Debatten anzustoßen und zu beeinflussen. Gleichzeitig ist uns bewusst, dass wir bundesweit antifaschistische Politik neu ausrichten müssen. In den nächsten Jahren wird sich unserer Einschätzung nach die Identität antifaschistischer Politik zwangsläufig verändern, sobald es keine ZeitzeugInnen des deutschen Faschismus mehr gibt. Nicht zuletzt verweisen die immer größer werdende Schwäche bzw. die Auflösung von bundesdeutschen Antifagruppen auf diese drängenden Aufgaben und Fragen.

Wir nehmen uns als Gruppe seit 2005, seit dem 60. Jahrestag der Befreiung vom deutschen Faschismus, antifaschistischer Geschichtspolitik an. 2010 haben wir uns mit der Geschichte der deutschen Arbeiter­Innenbewegung zwischen 1918 und 1945 beschäftigt. Dabei haben wir den Blickwinkel antifaschistischer WiderstandskämpferInnen, die in Deutschland aktiv waren, eingenommen. 2011 erweiterten wir diesen um eine internationalistische Perspektive, indem wir in Göttingen die Ausstellung „Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg“ vom Rheinischen JournalistInnenbüro präsentierten und entsprechende inhaltliche Auseinandersetzungen initiierten. 2012 lenkten wir unseren Blick auf die lokale antifaschistische Geschichte in Göttingen. Wir führten historische, regionale Recherchen zur Geschichte des antifaschistischen Widerstands in Göttingen durch. Dabei stellten wir kommunistische Strukturen und Aktivitäten in den 1930er Jahren in den Mittelpunkt. Diese Geschichte wird in den bisherigen lokalpolitischen Diskussionen kaum gewürdigt. 2013 fingen wir an, uns mit der Vermittlung antifaschistischer Geschichte zu beschäftigen und probierten verschiedene Aktionsformen und Medien dafür aus. Unsere geschichtspolitischen Vorschläge sind:

Begegnung mit den letzten lebenden ZeitzeugInnen organisieren

In diesen Jahren bieten sich die wahrscheinlich letzten Gelegenheiten der Begegnung mit den ZeitzeugInnen des historischen antifaschistischen Widerstands. 2012 führten wir ein öffentliches Gespräch mit Karin Rohrig, deren Großeltern Karl und Louise Meyer in den 1920-40er Jahren als KPDlerInnen und Rote HelferInnen in Göttingen aktiv waren. Von Karin erfuhren wir, dass Karl Meyer während seiner Verhaftung 1935 noch einen Geldboten der Roten Hilfe, der auf dem Weg zu Meyers Wohnung war, mit einem Zeichen warnen konnte. Karins Großmutter Louise und ihre Mutter Else hielten 1945 den Kommunisten Willy Eglinsky in ihrer Scheune versteckt, nachdem er aus dem KZ Buchenwald geflohen war. Karin erinnerte sich, wie sie als Kind damals die Scheune nicht betreten durfte. Von einem jüngeren Zeitzeugen wissen wir, dass Eglinsky nach dem Faschismus Gewerkschaftszeitungen vor Göttinger Werkstoren verteilt hat. Als ZeugInnen der ZeitzeugInnen ergibt sich für uns durch solche Puzzlestücke ein größeres und v.a. lebendigeres Bild, als nur durch trocken geschriebene Worte.

Authentische Orte der Erinnerung und des Gedenkens gestalten

In Göttingen entwickelt sich seit 2012 eine konstruktive Diskussion um die Würdigung antifaschistischer WiderstandskämpferInnen im öffentlichen Stadtbild. Speziell geht es um die heutige Stadtbibliothek in der Gotmarstraße 8. In diesem Gebäude residierte während des deutschen Faschismus u.a. die Polizei. Über 100 AntifaschistInnen, u.a. Karl und Louise Meyer, wurden in das Gebäude verschleppt und z.T. von hier weiter in KZs deportiert. Karl und Louise wohnten nur drei Häuser von der damaligen Polizeiwache entfernt. Im Keller der Wache befand sich auch der Luftschutzbunker für die umliegenden Straßenzüge. Die Meyers trauten sich wegen der Bedrohung durch die Polizei nie hinein — nur einmal, als tatsächlich ein Granatsplitter die Wohnung der Meyers traf und in Louises Nähmaschine stecken blieb.

Die öffentliche Lage des Gebäudes bietet sich für einen regionalen Erinnerungsort zum antifaschistischen Widerstand an. Bei einer Gestaltung dieses Ortes, an dem wir mitwirken, ist es uns wichtig, dass Namen und Zusammenhänge benannt werden, damit historische Tatsachen nicht hinter nichtssagenden Formulierungen verwischt werden, wie es oft der Fall ist.

Die eigene Bewegungsgeschichte recherchieren und aufbereiten

Um authentische Orte der Erinnerung gestalten zu können, muss die Geschichte dazu auch bekannt sein und mit Leben gefüllt werden. Zur Geschichte des ehem. Polizeigefängnisses liegen erst Informationen vor, seitdem wir sie aufgespürt haben. Wir recherchierten, indem wir verschiedene Stadt-, Landes-, Staats- und Bundesarchive kontaktierten und dort Polizei-, Entschädigungs- und Meldeakten durcharbeiteten. Wir wälzten alte Adress- und Telefonbücher. Seitdem können wir fundierte Einschätzungen zur Qualität des Widerstands geben. So waren KommunistInnen die einzigen in der Göttinger ArbeiterInnenbewegung, die sich bewaffnet haben. Aus Akten wissen wir, dass die drei KPDler Gustav Kuhn, Gustav Weiss und Adolf Reinicke  eine selbstgezimmerte Waffenkiste vergruben. Das Geld dafür hatte  Kuhn noch aus seiner Zeit als Rote-Hilfe-Kassierer übrig. Zumindest auf der regionalen Ebene können durch eigene Recherchen neue Widerstandsgeschichten erzählt werden.

Medien für die Zukunft entwickeln

Welches sind die Medien, die zukünftige Generationen nutzen werden? Wir videografieren nicht nur unsere ZeitzeugInnenverstanstaltungen, sondern haben auch selbst Video- und Audiodateien produziert, die wir bei einer geschichtspolitischen Kunstaktion einsetzten: Das ehemalige Stadthaus versetzten wir durch bewegte Silhouetten in die Vergangenheit und bereiteten exemplarische Biographien von ehemaligen gefangenen AntifaschistInnen durch gleich­zeitig realistische und fiktionale Biographien auf, die wir mit Musik untermalt im öffentlichen Raum abgespielt haben: „Mein Name ist Adolf Reinecke. Ich war als Kommunist ziemlich bekannt in Göttingen. Ich brannte für die Sache, wollte nichts unversucht lassen, gegen die Nazis zu kämpfen. Ich hasste sie (…). Wir wollten bereit sein, wenn es an der Zeit sein würde, es ernsthaft mit den Nazis aufzunehmen. Den Zeitpunkt haben wir verpasst. (…) Ich komme ins KZ Sachsenhausen und friste dort mein Leben bis zur Befreiung durch die Sowjets. An meine Frau Frida schreibe ich 1942 aus dem Konzentrationslager: ‚... nichts ist gestattet, das einzige, was man hier darf und was gestattet ist, ist sterben.‘ Tausende sterben um mich herum. Aber ich schaffe es, zu überleben.“

Wir hoffen, durch unsere Vorschläge und Beispiele weitere Diskussionen in der radikalen Linken um antifaschistische Geschichtspolitik führen zu können — nächstes Jahr, 2015, jährt sich die Befreiung vom Faschismus zum 70. Mal und sollte Anstoß dazu geben. 

Weitere Infos und Kontakt:
www.ali.antifa.de | www.inventati.org/ali