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25 Jahre Mythos »Rudolf Heß«

Einleitung

»Der Kampf um die Wahrheit wird weitergehen«, heißt es bei der Aktionsgruppe Merseburg im August 2011. Gemeint ist eine Erzählung, die sich um die wichtigste Person für die neonazistische Mobilisierung der letzten 25 Jahre rankt: Rudolf Heß (Zum Mythos Heß vgl. AIB Nr. 76 und AIB Nr. 67)

Bild: attenzione-photo.com

Neonazis beim Heß-Gedenken 2004 in Wunsiedel.

Am 17. August 1987 wurde der Stellvertreter Adolf Hitlers leblos im Gartenhaus des Militärgefängnisses Berlin-Spandau aufgefunden. 46 Jahre saß der frühere ›Reichsminister ohne Geschäftsbereich‹ in Haft. Nach der Entlassung von Albert Speer und Baldur von Schirach im Jahr 1966 war er der »einsamste Gefangene der ganzen Welt«, wie das deutsche Neonazi-Magazin »Zentralorgan« 1998 schrieb.

»Let him go«, sang die englische Band Angelic Upstarts in dem Song »The lonely man of Spandau«. Das war 1980. Und die alles andere als naziaffinen Upstarts waren mit ihrem Mitleid für den alten Mann nicht allein. In den 1980er Jahren gab es aus Politik und Öffentlichkeit diverse Stimmen, die eine Entlassung aus humanitären Gründen forderten, mehrere Bundesregierungen reichten erfolglos Amnestieanträge bei den Alliierten ein.

Das änderte sich mit dem Tod von Rudolf Heß. Als Gedenk- und Symbolfigur diente der Hitlerstellvertreter von nun an vor allem Alt- und Neonazis. Schon kurz nach der Beisetzung im März 1988 rückte das Grab im bayerischen Wunsiedel in den Fokus. In jenem Jahr meldete Berthold Dinter den ersten Heß-Gedenkmarsch mit ca. 120 Teilnehmenden an. Von nun an waren Wunsiedel und der Todestag von Heß über Jahre hinweg bestimmende Faktoren in der neonazistischen Mobilisierung. Über 1.000 Neonazis kamen 1990 in die bayerische Kleinstadt, der Heßmarsch war zum größten Ereignis der extremen Rechten avanciert. Die Geschichte der »Heßmärsche« ist aber auch eine Geschichte staatlicher Verbote. Schon 1991 mussten die Veranstalter und mit ihnen 1.500 Alt- und Neonazis auf das nahe gelegene Bayreuth ausweichen. In den Folgejahren entstand eine Art wiederkehrende Schnitzeljagd, an der nicht nur Staat und Neonazis teilnahmen, sondern auch Antifaschist_innen.

»Antifa heißt Busfahren« lautete die selbstironische Parole der 1990er Jahre. In vordigitalen Zeiten ohne Internet, SMS und Mobiltelefone waren die Mobilisierungen zu Heß Todestag für alle Beteiligten eine Herausforderung. Neonazis verabredeten sich u.a. über Nationale Infotelefone an Schleusungspunkten. Antifaschist_innen organisierten Busse und machten sich auf den Weg zu einem möglichst zentralen Ort in der Bundesrepublik, ohne zu wissen, wohin die Reise am Ende gehen würde. Die Polizei versuchte Verbote durchzusetzen und ein Aufeinandertreffen von Neonazis und Antifas zu verhindern. So wurden beispielsweise 1993 Busse von Antifas an der Autobahnausfahrt nach Fulda von der Polizei festgesetzt, während 500 Neonazis durch die Stadt marschierten.

Die immer absurder werdenden klandestinen Mobilisierungen gingen einher mit einer schwindenden TeilnehmerInnenzahl. Gerade mal 150 Neonazis kamen zu einer Kundgebung vor der deutschen Botschaft in Bern, dem »Höhepunkt« der Rudolf-Heß-Aktionswoche 1999. Gleichwohl haben die Heßmärsche der 1990er Jahre Strategie und Taktik, ja sogar das Verständnis von antifaschistischer Politik nachhaltig geprägt. Die hier gemachten Erfahrungen, die Frage nach der Sinnhaftigkeit des eigenen politischen Handelns spielten mit hinein in die Krise der antifaschistischen Bewegung um die Jahrtausendwende.

Ausgerechnet nach dem sogenannten Antifa-Sommer, dem von Gerhard Schröder ausgerufenen »Aufstand der Anständigen«, meldete der Hamburger Rechtsanwalt Jürgen Rieger erneut einen Gedenkmarsch in Wunsiedel an. Diesmal wurde das zunächst erlassene Verbot vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof aufgehoben. Den Verbotsgrund, nämlich die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch das Aufeinandertreffen politischer Gegner_innen, sah das Gericht als nicht mehr gegeben an.

Am 18. August 2001 marschierten 900 Neonazis nach über zehn Jahren wieder durch die Festspielstadt. Bis zum Jahr 2004 sollten es 5.000 werden. Der Heßmarsch war erneut das zentrale Event der Neonaziszene. Mehr noch: In dieser zweiten Phase öffentlichen Gedenkens entwickelte sich in Wunsiedel das, was heute als »Trauermarsch« bekannt ist.

Diese Art neonazistischen Gedenkens beinhaltet Elemente wie gemeinsames Schweigen und Singen, an Appelle angelehnte Kundgebungsformationen und ein gleich bleibendes äußeres Erscheinungsbild unter Einsatz entsprechender Fahnen und Transparente. Im Vordergrund steht die Innenwirkung: Die gemeinsam inszenierte Trauer, das Insichgekehrtsein zielt in hohem Maße auf emotionalisierende, integrative und identitätsstiftende Effekte.

Nachdem neuerlich breiter Protest laut wurde und auch die Wunsiedler_innen aktiv wurden, gründete sich die bundesweite antifaschistische Kampagne »NS-Verherrlichung stoppen«. Am Ende folgte das Verbot des Heß-Gedenkmarsches in Wunsiedel. Durch die Änderung des Versammlungsgesetzes im »Supergedenkjahr« 2005 wurde mit dem § 130 Absatz 4 die Billigung, Verherrlichung oder Rechtfertigung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft unter Strafe gestellt. Im Jahr 2009 wurde die Verfassungsmäßigkeit des Absatzes festgestellt, mit der sogenannten Wunsiedel-Entscheidung bleibt die dortige Demonstration dauerhaft verboten.

Im Juli letzten Jahres folgte ein weiterer Schlag für die Neonazis: Als der Grabnutzungsvertrag mit den Erben auslief, verständigte sich die Kirchengemeinde Wunsiedel mit der Enkelin von Heß darauf, das Grab aufzulösen. Die Gebeine wurden ausgegraben und eingeäschert, der Grabstein mit der Inschrift »Ich hab’s gewagt« entfernt. »Dein Grab können sie brechen, Dein Gedenken nicht!«, meint das Aktionsbüro Nordsachsen/Muldental. An dieser holperigen Parole scheint sogar ein bisschen was dran zu sein.

Neonazis reagierten auf die Auflösung des Grabs zum Todestag von Heß mit mehreren kleinen Demonstrationen, angelehnt an sogenannte Flashmobs. Nach eigenen Angaben marschierten etwa 40 Neonazis am 19. August 2011 nachts mit Fackeln durch Querfurt und skandierten »Rudolf Heß – Es war Mord« und »Rudolf Heß, Märtyrer des Friedens«. Auch in anderen Städten hätten AktivistInnen mit Pyrotechnik, Rauchbomben, Fackeln und lauten Sprechchören auf den »Todestag des Friedensfliegers« aufmerksam gemacht. Die TeilnehmerInnenzahlen blieben übersichtlich.

Kein anderer Anlass hat es bisher geschafft, neonazistische Mobilisierungen und Inszenierungen so nachhaltig zu beeinflussen wie das Gedenken an Rudolf Heß. Auch heute noch strickt die extreme Rechte weiter an einer mythisch verklärten Erzählung, in der es weniger um historische Fakten als um eine bestimmte Botschaft geht: Rudolf Heß als Sinnbild für Treue, Ehre, Opferbereitschaft, Standhaftigkeit und Pflichterfüllung in einem Abenteuer voll Hinterlist und Verrat. Der »Mythos Heß«, die Geschichte vom »Friedensflieger«, vom »Märtyrer für Deutschland« wird weiter gepflegt. Noch immer lebt die Legende vom »Heßflug« nach England, um »den Frieden zu retten«, wie Landser im Song »Rudolf Heß« singen. Und noch immer ist die extreme Rechte überzeugt, dass Heß von den Alliierten ermordet wurde, um die »Wahrheit« über die Schuld am Zweiten Weltkrieg zu vertuschen. Ohne Aktualisierung auf der Straße wird dieser Mythos ein Schattendasein führen. Und doch ist er in dem Moment revitalisierbar, in dem Neonazis zu einer öffentlichen, ritualisierten Form des Gedenkens finden. Die Chancen hierfür stehen momentan zum Glück schlecht.