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12. August 1979: Rassistische Morde in Merseburg

„Initiative 12. August“ (Gastbeitrag)
Einleitung

Am 12. August 1979 kamen in Merseburg die beiden kubanischen Vertragsarbeiter Delfin Guerra und Raúl Garcia Paret zu Tode. Die "Initiative 12. August" fordert sowohl Aufklärung und Strafverfolgung wegen Mordes, als auch ein öffentliches Gedenken und die Entschädigung der Familien.

Foto: Initiative 12. August

Wer in Merseburgs Innenstadt mit Passant*innen über den Tod der beiden kubanischen Vertragsarbeiter ins Gespräch kommt, erntet schnell erzürnte Reaktionen. In den harmloseren wird beteuert, dass es schließlich die Kubaner waren, die angefangen hätten und es einzig um Frauen und nicht um Rassismus ging. Andere Reaktionen enden in Beleidigungen und der Aufforderung, den Mund zu halten über Dinge, die man nicht selbst miterlebt habe. Tatsächlich sind verlässliche Quellen rar, anhand derer sich das Tatgeschehen am 12. August 1979 nachvollziehen lässt. Doch Leute, die etwas zu dem Fall sagen können und auch Augenzeug*innen findet man erstaunlich schnell. In den Kommentarspalten von Zeitungsartikeln und Facebookgruppen gibt es einige Aussagen wie die von Michael K.: „Die sahen dann etwas zerbeult aus. Wir haben unser Revier verteidigt und geschützt. …nicht mehr und nicht weniger.“ oder von Lutz W.: „[…] das es Tote gab war sofort klar aber die Strömung war zu stark um sie noch an der abgesuchten stelle zu finden“ (sic!).

Um so mehr verwundert es, dass bis heute niemand für dieses Verbrechen auf der Anklagebank sitzen muss. Auch nicht, nachdem die Morde und eine mögliche Vertuschung durch die DDR-Behörden 2016 durch eine MDR-Reportage1 öffentlich bekannt wurden. Daraufhin prüfte die Staatsanwaltschaft (StA) Halle erneute Ermittlungen und kam zu dem Schluss, dass es „ausweislich der umfangreichen polizeilichen Ermittlungen (zur Zeit der DDR, Anm. d. Verf.) keinerlei Anhaltspunkte für ein Tötungsdelikt der […] kubanischen Bürger gab oder gibt.“ Das blinde Vertrauen, das die StA Halle – die bereits in anderen Fällen rechte Gewalt verharmloste2 – den damaligen Ermittlungsbehörden gewährt, ist absurd. Schließlich lässt sich der politische Charakter der Ermittlungsführung, laut dem Historiker Harry Waibel, aus einem Schreiben des Ministeriums für Staatssicherheit belegen: „[...] unter Berücksichtigung der brüderlichen Beziehungen zwischen der DDR und der Sozialistischen Republik Kuba [wurde] entschieden, [...] das Ermittlungsverfahren gegen UNBEKANNT einzustellen“.3

Was ist am 12. August 1979 in Merseburg geschehen?

Die einzigen öffentlichen Quellen zu dem Mordfall sind die Recherchen von Harry Waibel, die ausschließlich auf der Sichtung von DDR-Akten beruhen, und mehrere MDR-Reportagen4 . Darin beschreibt Marcelo Figueroa, ein ehemaliger kubanischer Vertragsarbeiter: „In diesen Tagen fühlten sich die Kubaner sehr angefeindet. Es gab viele Auseinandersetzungen und Beleidigungen.“ Als am 11. August eine Gruppe Deutscher nach gewalttätigen Auseinandersetzungen in die Innenstadt Merseburgs zog und mehrere Kubaner grundlos niederschlug, beschlossen einige kubanische Vertragsarbeiter, sich am Folgetag zur Wehr zu setzen. Figueroa beschreibt es so: „Es war eigentlich kein Racheakt. So haben wir es empfunden. Wir waren es einfach leid, ständig vor den Deutschen wegrennen zu müssen und uns andauernd deren Beleidigungen anhören zu müssen.“ Am 12. August randalierten mehrere Kubaner in der Gaststätte „Saaletal“ und griffen die vermeintlichen Täter vom Vortag an. Besucher*innen der Gaststätte prügelten die Angreifer daraufhin gewaltsam bis zur Saaletalbrücke. Dort wurde den Verfolgten der Weg abgeschnitten, woraufhin einige von ihnen ins Wasser flüchteten.  Augenzeugen berichten auch, dass mindestens ein Kubaner von der Brücke geworfen wurde. In Panik flüchtend, wurden die Personen im Wasser mit Glasflaschen und Steinen beworfen und rassistisch beleidigt.

Das rassistische Motiv räumt die StA anhand der Aussage des Beteiligten Hans B. selbst ein: „Schweine, Euch schwarze Hunde müsste man erschlagen.“ Im Interview mit dem MDR lobte Hans B. auch den „Zusammenhalt: die Masse gegen die Angreifer. Das habe ich so überhaupt noch nicht erlebt.“  Eine andere Zeugin gab zu, einen Kubaner mit einer Glasflasche am Kopf getroffen zu haben, sodass dieser „zeitweilig unter Wasser“ geriet.5 Die rassistische Moti­vation der Täter*innen, das Auftreten als deutscher Mob, der Mord selbst, zumindest aber der Versuch und die Anstiftung zum Mord sind also in den Akten der StA belegt und müssten auch heute noch geahndet werden. Folgerichtig verweigert ein weiterer Zeuge dem MDR vor laufender Kamera nähere Details zu seiner eigenen Beteiligung mit der Begründung: „Ich hab Ihnen doch […] gesagt: ‚Mord verjährt nicht.‘“

Entgegen der Einschätzung der StA Halle, ein Tötungsdelikt auf Grundlage der Obduktionsergebnisse ausschließen zu können, bekräftigte die damalige Gerichtsmedizinerin 2019 in der ARD6 erneut ihren damaligen Befund: Bei einer Leiche konnte die Todesursache nicht festgestellt werden, da die Fäulnisprozesse, nach vier Tagen in der Saale liegend, bereits zu fortgeschritten waren. Bei der anderen Leiche ist ein Tod durch Ertrinken wahrscheinlich. Die StA lässt hier aus „kein Befund“ direkt „keine Tat“ werden.

Sagen, was war!

Wir als „Initiative 12. August“ gründeten uns Anfang 2019 durch die Vernetzung von Einzelpersonen aus dem „Tribunal – NSU-Komplex auflösen“ mit lokalen Bündnissen und Gruppen in Merseburg. Schnell wurde uns klar, dass nicht weiter über diesen Fall geschwiegen werden darf. In einem offenen Brief an den Oberbürgermeister (OB) Merseburgs, der von ca. 300 Einzelpersonen und Institutionen aus dem ganzen Bundesgebiet unterschrieben wurde, forderten wir ihn auf, mit uns in den Dialog über die Gestaltung eines Gedenkortes zu treten. Doch stattdessen diskreditierte der OB unsere Initiative7 , unterstellte uns „Spekulationen“ und sendete uns kurz vor der Gedenkveranstaltung eine Absage. Während unseres Gedenkens mit rund 200 Teilnehmer*innen errichteten wir einen symbolischen Gedenkort am ehemaligen Tatort und gedachten der beiden Ermordeten. Auf einer vorhergehenden Demonstration durch die Innenstadt Merseburgs thematisierten Paulino Miguel (ehem. mosambikanischer Vertragsarbeiter), das "UnSichtbar - Netzwerk für Women* of Colour Magdeburg" und Betroffene des Duldungssystems aus Merseburg das Fortbestehen des gesellschaftlichen und institutionellen Rassismus‘ von der DDR bis heute.

In diesem und im nächsten Jahr wird das ganze Land überzogen mit Gedenken an die sog. „friedliche Revolution“ und mit deutsch-deutschem Wiedervereinigungsschlager. Wir möchten mit unseren Veranstaltungen die Erzählungen über die DDR und die Wendezeit um die Perspektive von Vertragsarbeiter*innen und Rassismusbetroffenen erweitern und etablierte Narrative in Frage stellen. Auch wenn qua staatlicher Verordnung Rassismus in der DDR nicht existieren durfte, waren sowohl rassistische Übergriffe als auch strukturelle Diskriminierung an der Tagesordnung. Das System der Vertragsarbeit beruhte auf zutiefst rassistischen Ausbeutungsmechanismen. Es muss als Teil des DDR-Unrechts anerkannt und aufgearbeitet werden. Ausstehende Lohn- und Rentenzahlungen dürfen nicht länger verweigert werden. Rassistisch motivierte Gewalt gegen Menschen begann nicht erst in den 1990er Jahren, sondern lange davor, sowohl in Westdeutschland als auch in der DDR. Deshalb fordern wir öffentliche Erinnerungsorte und ein Gedenken an Delfin Guerra, Raúl Garcia Paret, Carlos Conceição und Manuel Diogo8 sowie die Aufklärung aller rassistischen Morde in der DDR, die bisher allein im Gedächtnis ehemaliger Vertragsarbeiter*innen fortbestehen.

Denn bei Gedenken, so formulierte es kürzlich die Kulturwissenschaftlerin Peggy Piesche, gehe es ja gerade „darum, dass sich die kollektive Mentalität noch einmal neu sortiert, ausrichtet, dass Orientierungen und Werte gegebenenfalls neu verhandelt werden.“9

  • 1MDR Exakt – Die Story: „Vertuscht und verdrängt – Warum starben Vertragsarbeiter in der DDR?“ (Christian Bergmann und Tom Fugmann, 17.08.2016)
  • 2AIB Nr. 122 (1.2019): "Die „Aryans“ in Halle (Saale) vor Gericht" und AIB Nr. 118 (1.2018): "Oury Jalloh oder die unendliche Geschichte eines Justizskandals" und AIB Nr. 79 (2.2008): "Blood & Honour – Kurzer Prozess in Halle"
  • 3Harry Waibel, Die braune Saat, S. 293
  • 4S. Fußnote 1; MDR Exakt – Die Story: „Schuld ohne Sühne – Warum rassistische Täter in der DDR davon kamen“ (Christian Bergmann und Tom Fugmann, 15.11.2016); MDR: „Schatten auf der Völkerfreundschaft – Rassistische Verbrechen in der DDR“ (Christian Bergmann und Tom Fugmann, 16.01.2017)
  • 5Harry Waibel, Die Braune Saat, S. 293
  • 6daserste.de: "Rassismus in der DDR nicht aufgearbeitet. Zwei Kubaner wurden am 12.08.1979 in Merseburg zu Tode gehetzt. Das Ereignis wurde in der DDR verschwiegen. Bis heute lehnt die Staatsanwaltschaft neue Ermittlungen ab. Strafrechtler kritisieren das." 13.08.2019.
  • 7mz-web.de: "Streit ums Gedenken an Kubaner Initiative fordert Gedenkstätte auf der Neumarktbrücke" von Michael Bertram, 15.06.2019.
  • 8Die Mordfälle an den beiden mosambikanischen Vertragsarbeitern Carlos Conceicao und Manuel Diogo werden auch in den o.g. MDR-Reportagen beleuchtet.
  • 9taz.de: "Peggy Piesche über den CSD - „Eine entpolitisierte Geschichte“. 68, 89 und das Erinnern von Stonewall: Die Wissenschaftlerin und Aktivistin Peggy Piesche über die Leerstellen im kollektiven Gedenken." das Interview führte
    Stefan Hunglinger.