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„Es kriselt in der tschechischen Neonaziszene“

Einleitung

Ein Interview mit Antifas aus Prag

Über die anhaltende antiziganistische Stimmung in der Tschechischen Republik ist in dieser Zeitschrift regelmäßig berichtet worden. In Orten wie Duchcov, Varnsdorf oder Litvinov — nahe der Grenze zu Sachsen — kam es zu schweren Ausschreitungen. Eine temporäre Allianz aus Einwohner-Innen und militanten Neonazis versuchte, von Roma bewohnte Viertel zu stürmen. Ein Ende dieser Dynamik ist nicht abzusehen. Allerdings: Gerade für das parteifreie Neonazi-Spektrum hat es in Tschechien in jüngster Vergangenheit bedeutsame Rückschläge sowie politische und kulturelle Änderungen gegeben.

Foto: Thomas Rassloff

Tschechische Neonazis demonstrieren am 8. Oktober 2011 gegen eine Roma-Siedlung in Usti nad Labem.

Als wie stark schätzt ihr die parteifreie Neonazi-Bewegung in Tschechien zurzeit ein?

Zurzeit gibt es in Tschechien erfreulicherweise nur noch wenige aktive Gruppen. Denen gelingt es, von Ausnahmen abgesehen, nicht, ausdrucksstarke Demonstrationen zu organisieren. Was an Straßenpolitik passierte, basierte auf den Aktivitäten der extrem rechten Parteien. Im parteifreien Bereich gibt es keine stärkeren Strukturen. Die meisten Aktivitäten werden eher von einigen immer gleichen Einzelpersonen initiiert.

Besonders die „Autonomen Nationalisten“, gewissermaßen ein deutscher Import, sind in Tschechien in den vergangenen Jahren doch sehr präsent gewesen.
Das hat sich geändert. Die „Autonomen Nationalisten“ (AN) sind in Tschechien im Niedergang. Ihre öffentlichen Aktivitäten beschränken sich momentan auf eine einzige Demonstration im Jahr — 2013 nahmen nur 100 Neonazis teil, im Jahr davor 150. Das ist wenig. Sonst gibt es vor allem Webseiten, ab und zu tauchen einige Graffiti auf.

Die einzige Gruppe von „Autonomen Nationalisten“, die noch Bedeutung hat, ist die Struktur in Liberec. Sie hat etwa zehn bis zwanzig Mitglieder, die vor allem aus der Hooliganszene stammen. „Autonome Nationalisten“ waren auch immer ein Jugendphänomen. Zurzeit steigt in Tschechien der Altersschnitt. Die meisten Neonazis sind schon länger aktiv und gegen 30 Jahre alt. Der Niedergang der AN fing direkt nach der Hochphase 2009 an.

Woher kommt dieser Niedergang?

Es gibt mehrere Ursachen. Die wichtigste ist die Polizeirepression. In der Nacht zum 19. April 2009 haben vier tschechische Neonazis ein Haus in Vitkov, in dem eine Roma-Familie wohnte, angezündet. Bei dem Brandanschlag wurde ein vierjähriges Mädchen schwer verletzt. Diese Tat erregte große öffentliche Aufmerksamkeit, und so gab es Druck, die Täter schwer zu bestrafen. Wichtige Anführer der „Autonomen Nationalisten“ gingen in Haft. Neben der Repression gab es Konflikte innerhalb des Neonazismus, etwa einen größeren Streit zwischen der Partei „Delnicka Strana“ (DS, „Arbeiterpartei“) und den AN. DS und AN haben zusammen Demos veranstaltet. Die Partei kümmerte sich um Formalia wie Anmeldungen, die „Autonomen Nationalisten“ besorgten die Redner, gestalteten die Flyer und sorgten für die Organisation vor Ort. Im Konflikt ging es um Geld. Seitdem veranstalten die „Autonomen Nationalisten“ nur noch eine jährliche Demonstration zum St.-Wenzelstag am 28. September sowie einige unangemeldete Kundgebungen gegen Polizeirepression. Der Kontakt zwischen den AN und der DS ist noch da, aber weniger intensiv. Die DS heißt inzwischen DSSS („Delnicka strana socialni sprave­dl-nosti“, zu deutsch: „Arbeiterpartei der sozialen Gerechtigkeit“), nachdem 2010 ein Verbot aus­gesprochen worden war. Wir, die tschechi­schen Antifas, haben auch zum Niedergang der „Autonomen Nationalisten“ beigetragen — unsere konstanten Aktionen haben den Druck entscheidend verstärkt.

Internationale Projekte und auch die„Identitären“ sind inzwischen aber auch in Tschechien präsent?

Ja. Ehemalige AN sind schon länger von der italienischen Casa Pound fasziniert und beeinflusst. Einige fuhren regelmäßig nach Italien. Es ist kein Zufall, dass dieses Jahr ein Redner vom „Blocco Studentesco“ am 1. Mai in Tschechien war. Casa Pound und damit verbundene, internationale Projekte wie „European Solidarity Front for Syria“ oder die pro-serbische „European Solidarity Front for Kosovo“ fanden relativ großen Anklang in der tschechischen Neonazi-Szene. Und nicht nur bei ex-AN, sondern  auch bei einigen ehemaligen „Narodni odpor“ (NO, Nationaler Widerstand) Aktivisten.

Ein paar ehemalige AN versuchen jetzt unter dem Label „Identitäre“ ihre Politik fortzusetzen. Das sieht ähnlich aus wie in Deutschland, ist in Tschechien aber noch ein ganz neues Phänomen. Aber: Ehemalige AN-Kader eignen sich diese als trendy empfundene Ideologie und Ästhetik an und versuchen damit, neue Leute zu gewinnen. In den letzten Monaten entstanden viele neue Webseiten, die sich auf die Identitäre Bewegung berufen. Ob das Erfolg hat, werden wir in den nächsten Monaten sehen. Für eine Bewertung ist es noch zu früh.

Wie steht es um andere parteifreie Neonazis?

Wichtig war immer der „Narodni odpor“. Diese Struktur entstand 1999 aus der tschechischen Division von „Blood & Honour“. Vorbild war die deutsche Kameradschaftsszene. Nach einer Hochphase zu Beginn der 2000er Jahre folgten interne Konflikte, 2005 kam es zur Spaltung. Der „progressive“ Flügel gründete die „Autonomen Nationalisten“. Der „Narodni odpor“ ist noch existent, aber politisch tot. Verbliebene Mitglieder organisieren Konzerte oder produzieren rechte Kleidung. Vereinzelt gibt es auch noch politische Veranstaltungen, z.B. Kundgebungen in Solidarität mit dem Assad-Regime in Syrien. Als Dachstruktur funktioniert NO jedoch nicht mehr.

Im Zusammenhang mit NO ist auch die 2007 gegründete Frauenorganisation „Resistance Women Unity“ (RWU) zu nennen, die sehr viel Gefängnissolidaritätsarbeit gemacht hat. Ein Standbein in der RWU-Ideologie ist ein aggressiver Antifeminismus. Kurioserweise sind viele der Frauen jedoch sehr selbstbewusst, aktiv und ideologisiert und dabei gewissermaßen emanzipiert. 2014 standen fünfzehn ehemalige RWU-Aktivistinnen wegen Volksverhetzung vor Gericht.

Neugründungen gibt es keine?

Die Identitäre Bewegung wurde schon genannt. Neu ist auch die „Wotan Jugend“. Vorbild hierfür waren nicht die deutschen Neonazis. Diese Bewegung entstand im Umfeld russischer NS-Black-Metal-Bands wie Moloth und Shepot Run. Die „Wotan-Jugend“ bekennt sich offen zu Adolf Hitler und nutzt nationalsozialistische Symbole. Sie vertreten dabei ein germanisches Heidentum und orientieren sich sowohl an der germanischen als auch der slawischen Mythologie — sie sind also explizit anti-panslawisch. Die „Wotan-Jugend“ rekrutiert sich aus der Metal- und Skinheadszene und tritt seit 2012 öffentlich auf, ist zurzeit im Neonazismus aber noch recht weit isoliert. Kürzlich gab es mehrere Polizeirazzien bei „Wotan Jugend“-Anhängern. Es ist noch unklar, welche Folge das haben wird.

Neben der DSSS ist noch die Plattform „Cesti lvi“  („Tschechischer Löwe“) zu nennen. Das sind ehemalige DSSS Mitglieder, die eine eigene Partei aufbauen wollen. Das wird noch dauern, muss aber beobachtet werden.

Und im nicht-organisierten Spektrum?

Das ist der Bereich, wo es zurzeit die größte Dynamik gibt. Wir registrieren eine Annäherung von Hooligans und nichtorganisierten Neonazistrukturen. Daraus folgt eine gesteigerte Straßengewalt, die uns Sorgen macht. Die Aufmärsche und Ausschreitungen gegen Roma werden von rechten Hooligans für Angriffe genutzt.

Inhaltlich bleibt Antiziganismus das wichtigste Thema?

Definitiv. Der Hass auf Roma hält die Szene zusammen und am Laufen. Dieses Thema spricht auch „normale,  ordentliche“ Bürger an. Ansonsten sind Antisemitismus und antisemitische Verschwörungstheorien von Bedeutung. Das ist aber eher ein Internet-Phänomen. Laut einer aktuell veröffentlichten Studie sind im vergangenen Jahr antisemitische Äußerungen im Internet sehr deutlich gestiegen. Das hat viel mit dem Online-Aktivismus der ehemaligen AN zu tun. Zum Glück gibt es nur wenige antisemitische Angriffe auf der Straße, wie es in den 1990ern häufig passierte.

Wie groß ist der Neonazismus zahlenmäßig?

Man kann das an den Demonstrationen nur teilweise abschätzen. Bei den größeren antiziganistischen Aufmärschen kommen ein- bis zweitausend Personen zusammen: Neo­nazis, rechte Hooligans, aber auch Leute aus der „Normalbevölkerung“. In manchen Städten wie Ostrava bleiben die Rechten und Hooligans fast unter sich.  In Orten wie Varnsdorf ist der Anteil der EinwohnerInnen sehr hoch. Bei den Aktionen zu neonazistischen Kernthemen kommen selten mehr als 200 Personen zusammen. Es gibt allerdings auch viele Neonazis, die aus verschiedenen Gründe keine Demos mehr besuchen. Der Blick allein auf die Demos kann also täuschen.

Wie steht es um die Kontakte nach Deutschland?

Generell gibt es sehr viele Kontakte zwischen tschechischen und deutschen Neonazis. Deutsche sind bei fast allen rechten Demonstrationen präsent, oft auch als Redner. Regen Austausch gibt es zwischen böhmischen Neonazis, etwas aus Karlovy Vary und dem bayerischen Netzwerk „Freies Netz Süd“. Ausdruck davon war die Gründung des „Deutsch-Böhmischen Freun­deskreises“ im Sinne der völkischen Ideologie eines „Europas der Vaterländer“. Ein Grundsatzpapier des Freundeskreises enthält einen Absatz zu den Beneš-Dekreten, die tschechischen Neonazis stimmten der Forderung nach einer Abschaffung der Dekrete zu. Auch tschechische Neonazis treten zuweilen in Deutschland auf, etwa am 1. Mai 2013 bei der Demonstration in Würzburg oder am 1. Mai 2014 in Plauen. Am 15. Februar 2014 gab es eine Demonstration unter dem Motto „Ein Licht für Dresden“, die in Karlovy Vary stattfand. Eine ähnliche Demo wurde schon letztes Jahr in Ostrava veranstaltet. Neben der Verbindung nach Bayern sind die Kontakte nach Brandenburg, ins Vogtland und das Ruhrgebiet nennenswert. Eine tschechische Delegation nahm 2013 an der 1.-Mai-Demonstration in Dortmund teil.

Vielen Dank für das Gespräch!