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„… das hier ist auch mein Land“

Antifaşist haber bülteni
Einleitung

Wenn geschaut wird, wie sich die Entwicklung in der DDR auf die Westberliner Bevölkerung auswirkt, werden meist die MigrantInnen und Flüchtlinge übersehen. Der folgende von türkischen MigrantInnen geschriebene Artikel beschreibt die Angst davor, von den Deutschen aus der DDR verdrängt zu werden, die Angst, dass Rassismus und Neonazismus stärker und ihnen weitere Rechte genommen werden.

Am 9. November 1989 strömten die Menschen von Ost nach West. Daß auf einmal die Grenzen geöffnet waren und Millionen von Menschen die Reisefreiheit genießen, wurde im Westen logischerweise erfreulich aufgenommen. Ohne Zweifel haben auch wir uns darüber gefreut. Doch wenn wir ein wenig weiterdenken und es mit unserer alltäglichen Lebenssituation vergleichen, sieht es anders aus. Wir werden von diesem Staat mit unseren Rechten total ausgegrenzt. Konkret heißt das: keine Reisefreiheit für unsere Familienangehörigen, keine Einreisemöglichkeiten auch für die Menschen aus den sonstigen Ländern. Da kommt Bitterkeit in uns hoch. Das zeigt uns nochmals, wie rassistisch dieser "mächtige" Staat mit uns umgeht.

Daß am 9. November '89 in Westberlin das große Chaos herrschte, Freude gemischt war mit Schock und eine ungewöhnliche Ratlosigkeit, war die eine Seite der Medaille. Außer dem Schlangestehen vor den Banken, Verkehrsstaus und vollen Straßen in Westberlin gab es Auswirkungen auf die Menschen, die seit etlichen Jahren hier leben und von den Herrschenden einen Status als "Ausländer" verpaßt bekommen, obwohl sie schon seit langen Jahren Teil dieser Gesellschaft sind. Dies, um sie von der Gesellschaft getrennt zu halten oder sie auszugrenzen und isolieren zu können. Die Auswirkungen auf die hier lebenden nicht-deutschen Menschen aus anderen Landern interessiert auf einmal niemanden mehr, weder die regierende SPD/AL-Koalition, noch natürlich die anderen (rechten) Parteien.

Mit der Besucherwelle aus der DDR veränderte sich sogar das gewohnte Bild von Berlin-Kreuzberg. Auf einmal war von den "Ausländern" nichts mehr zu sehen, als ob sich alle in ihren Häusern eingeschlossen und auf etwas Furchtbares gewartet hätten. So eine Atmosphäre konnte am 20. April 1989 ("Hitlergeburtstag") nicht mal von den Neonazis geschaffen werden, wo diese direkte Drohungen ausgesprochen und Angriffe angekündigt hatten. Es ist eine Tatsache - und auch verständlich - daß der Massenandrang aus dem Osten die "Ausländer" eingeschüchtert und verängstigt hat. Seit Jahren arbeiten und leben sie hier, ständig gedemütigt, die Rechte als Menschen entzogen, angegriffen, verunsichert und eingeschüchtert, da fällt es ihnen schwer, sich gegen die Dinge wehren, die sie bedrohen. Zudem haben sie Angst, daß sie falsch verstanden werden und die Feindseligkeit gegen "Ausländer" stärker wird.

Die Stellung als "Ausländer" mit weniger Rechten trägt dazu bei, daß sie jetzt fürchten, ihre Wohnungen und Arbeitsplätze den Deutschen aus der DDR übergeben zu müssen und daß ihre sozialen Rechte weiter gekürzt werden, um den Lebensunterhalt der Aus- und Übersiedler zu finanzieren. Auch die "Ausländergesetze" werden immer mehr verschärft, um die Rückkehr der "Ausländer" in ihre Herkunftsländer zu beschleunigen; jetzt können die Arbeitsplätze der "Ausländer" mit den deutschen Arbeitern aus der DDR besetzt werden.

Unterschiedliche Interessen und Einschätzungen

Dennoch gibt es unter den "Ausländern" Menschen, die sich über die Welle aus Ost nach West besonders freuen und sagen: "Warum sollten die denn uns schaden? Mensch, das hier ist auch deren Land, ein Recht auf Freiheit haben auch diese Menschen und wir freuen uns darüber." Das ist die Meinung der Menschen, die Lebensmittelgeschäfte, Importläden und Imbisse betreiben. Klar, noch nie ging es den Geschäften der Nicht-Deutschen so gut, noch nie waren die Kassen dieser kleinen Geschäfte so voll. Es ist verständlich, daß die sich so äußern. Aber eines müßten auch diese Leute versuchen zu verstehen: daß dies nur vorübergehend für sie so glänzend aussehen wird und daß die Brandanschläge auf Läden, Häuser und Flüchtlingsheime durch Neonazis sich häufen werden. Wenn wir alles stillschweigend hinnehmen, werden die Angriffe stärker werden, die Parolen wie "Türken raus" und die revanchistischen Wiedervereinigungsparolen immer mehr und lauter.

Es gibt keinen Zweifel, daß es so kommen wird. Der größte Teil der "Ausländer", die sich dieser Entwicklung gegenüber unzufrieden äußern, sind die LohnarbeiterInnen, die zwar Verständnis für die Ausreisewelle haben, aber auch längerfristig um ihre eigene Existenz fürchten. Sie haben Angst, daß die Situation von den Herrschenden ausgenutzt und gegen die "Ausländer" gerichtet wird. Wir müssen klar machen, daß wir das alles nicht so hinnehmen und für unsere Rechte und Gleichberechtigung kämpfen werden, koste es, was es wolle.

Aus Gesprächen mit türkischen Migranten

Ein Arbeiter aus der ersten Generation: „Natürlich werden sie kommen. Das ist auch ihr Land. Auch wir freuen uns darüber. Aber wenn wir an uns selbst denken, dann haben wir Angst, daß wir unsere Arbeit loswerden und keine Wohnung mehr finden“. Ein Jugendlicher: "Sollen sie doch kommen, Bruder, mir werden sie keinen Schaden zufügen“. Ein Arbeiter: "Ich war noch nie in Ostberlin und bin schon zufrieden, daß sie hierher kommen. Ich habe sie hier kennengelernt. Die sind sehr bescheidene und respektvolle Menschen. Sie haben auch keine unangenehmen Verhaltensweisen. Sie sprechen auch ganz ruhig und leise. Wie die Erwachsenen verhalten sich auch die Kinder sehr rücksichtsvoll. Es muß denen da drüben finanziell ziemlich beschissen gegangen sein, ich glaube deswegen drängeln sie sich vor den Banken. Morgens und Abends stehen sie Schlange vor den Banken, sogar mit ihren Babies kommen sie und warten in der Schlange. Jetzt habe ich noch keine Bedenken, aber für die Zukunft, wenn aus zwei Teilen ein Teil gemacht wird, also ein geeintes Berlin, kann es sehr schlimme Folgen haben."

Die Gruppe, die heraussticht, sind die Gewerbetreibenden. Sie sind sehr zufrieden mit der Lage. Sie äußern sich stärker als die einheimischen westlichen Menschen positiv zur jüngsten Entwicklung. „Das sind unsere Gäste“ und „Auch wir müssen unsere Herzen für diese Menschen, die zu ihrer Freiheit gefunden haben, öffnen“. Dabei kriegen auch wir ein wenig Unterricht über Freiheit, bekamen wir zu hören. Ein Lebensmittelgeschäftinhaber und Leute aus der Umgebung: "Vorige Woche wurden wir völlig überrascht. Aber diese Woche haben wir uns gut vorbereitet. Den Laden habe ich bis jetzt nicht mehr gefüllt. Am meisten wird Ananas, Kiwi, Bananen und Mandarinen gekauft. Ich habe keine Bedenken. Die werden uns keinen Schaden zufügen. Ohm irgendeinen Ton warten sie in der Schlange bis sie an die Reihe kommen, nehmen ihre Sachen und zahlen ihr Geld. Solche Kunden wünsche ich für alle Freunde." Einer neben dem Ladeninhaber: „Warum sollten sie mir Angst
einjagen, es ist ihr eigenes Land und Recht
“. Ein anderer: „Klar ist es deren Recht. Es ist ihr eigenes Vaterland und sie werden natürlich herkommen. Sie haben zu ihrer Freiheit gefunden. Auch wir freuen uns darüber“. Einer auf der anderen Straßenseite ruft uns zu: „Ich freue mich überhaupt nicht darüber. Es ist nicht mal Platz auf der Straße zum Laufen, Mensch. Wir können nicht mal mit der U-Bahn oder mit dem Bus fahren. Wir können nicht mal einkaufen gehen. Entweder sollen sie uns rausschmeißen oder diesen Leuten verbieten, hierher zu kommen“. Ein anderer: "So geht es doch nicht. Das sind doch auch Menschen. Außerdem ist das hier deren eigenes Land“. Ein Jugendlicher: „Was heißt, das ist ihr Land. Das hier ist auch mein Land. Ich bin hier aufgewachsen und hier zur Schule gegangen“.