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»Medizin ohne Menschlichkeit«

Einleitung

»Bewältigung der Schuld kann nichts anderes heißen, als der Wahrheit ins Auge zu sehen; Anerkennung dessen, was war, ohne Feilschen; Einsicht in die Anteilnahme, und sei sie nur das ‚harmloseste’ Mitlaufen, Mitdenken der Parolen, Mithoffen auf das Verheißene gewesen.«1  

  • 1Alexander Mitscherlich: Von der Absicht dieser Chronik (1960), in: Ders. /Fred Mielke (Hg.): Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses, Frank furt/M. 2001, S. 11.

Karl Brandt bei der Urteilsverkündigung in Nürnberg.

Diese Sätze stellte Alexander Mitscherlich seiner Dokumentensammlung zum Nürnberger Ärzteprozess voran, die unter dem Titel »Medizin ohne Menschlichkeit« im Jahr 1960 erstmals als Taschenbuchausgabe erschien. In dem Vorwort reflektierte Mitscherlich nicht nur über die Dimensionen der Verbrechen, an denen Mediziner während der NS-Zeit mitgewirkt hatten. Er verwies darauf, dass es in der Folge des Nürnberger Ärzteprozesses, der im August 1947 zu Ende gegangen war, weder in der Ärzteschaft noch in der deutschen Gesellschaft eine Auseinandersetzung um die nationalsozialistischen Medizinverbrechen gegeben habe.

Mitscherlich wusste, wovon er sprach. Zehn Monate lang hatte er eine Kommission geleitet, die im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft der Westdeutschen Ärztekammern den Prozess dokumentieren sollte. Als Mitscherlich im Jahr 1947 einen Zwischenbericht und zwei Jahre später den Abschlussbericht veröffentlichte, schlug ihm unter Ärzten und Wissenschaftlern demonstratives Desinteresse, aber auch offenkundige Feindseligkeit entgegen. Zwischenzeitlich avancierte der Psychoanalytiker zu einem der »bestgehassten Männer der deutschen Medizin.« 

»Heilen und Vernichten« – Medizin im Nationalsozialismus

Der Nürnberger Ärzteprozess, der am 9. Dezember 1946 begann, war der erste von insgesamt 12 Prozessen, in denen die US-Militärverwaltung vormalige Vertreter der administrativen und gesellschaftlichen Elite des »Dritten Reichs« anklagte. Der »Hauptkriegsverbrecherprozess« zwischen  November 1945 und Oktober 1946 hatte deutlich gemacht, dass für die dort verhandelten »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« nicht ausschließlich eine Clique fanatischer Überzeugungstäter im unmittelbaren Umfeld Adolf Hitlers die Verantwortung trug. »Willige Vollstrecker« fanden sich vielmehr in sämtlichen Berufsgruppen und gesellschaftlichen Schichten.

Diese Feststellung galt auch und vor allem für die deutsche Ärzteschaft. Unter den Medizinern hatte der Nationalsozialismus eine überdurchschnittliche Basis gefunden. Rund 45 Prozent der praktizierenden Ärzte traten der NSDAP bei; 26 Prozent gehörten der SA an, neun Prozent der SS.

Die ärztlichen Standesorganisationen vollzogen schon kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten ihre Selbstgleichschaltung. Die Verdrängung jüdischer Kollegen setzte ein, noch bevor das Regime entsprechende Maßnahmen anordnete. Vor allem junge Mediziner, die an Universitäten und Forschungsinstituten tätig waren, sympathisierten mit den sozialdarwinistischen Konzepten nationalsozialistischer Gesundheitspolitik, die einen ethnisch homogenen, »gesunden Volkskörper« postulierte, von dem »kranke« Elemente durch »Selektion« zu trennen seien.

Bereits im Juli 1933 trat das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« in Kraft, auf dessen Grundlage rund 300.000 Menschen zwangssterilisiert wurden. Die vom Nationalsozialismus angestrebte systematische »Vernichtung lebensunwerten Lebens« setzte kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs mit der so genannten »Aktion T 4« ein. Den verharmlosend als »Euthanasie« bezeichneten Patientenmorden fielen mindestens 260.000 Personen zum Opfer.1 Einen weiteren Komplex nationalsozialistischer Medizinverbrechen bildeten die vielfach tödlich verlaufenen Menschenversuche in Konzentrations- und Vernichtungslagern.

»Verbrechen gegen die Menschlichkeit« – Die NS-Medizin auf der Anklagebank

Angesichts dieser Verbrechensdimensionen erscheint die Zahl der Angeklagten im Nürnberger Ärzteprozess niedrig. Lediglich 23 Beschuldigte, 20 Ärzte und drei hohe Beamte mussten sich vor dem US-Militärgericht verantworten. Die vermeintlich willkürliche Auswahl der Angeklagten hatte mehrere Ursachen. Erstens war die Anklageschrift unter enormen Zeitdruck verfasst worden, so dass zahlreiche Tatkomplexe darin kaum Berücksichtigung fanden. Zweitens konzentrierten sich die Anklagepunkte auf die Menschenversuche in den Konzentrationslagern. Die Patientenmorde spielten demnach im Nürnberger Ärzteprozess eine untergeordnete Rolle. Drittens waren etliche an NS-Medizinverbrechen beteiligte Wissenschaftler unmittelbar nach Kriegsende in militärischen Forschungsprojekten der Alliierten untergekommen und somit dem Zugriff der US-Anklagebehörden entzogen.

Dennoch war offenkundig, dass die Beschuldigten im Dezember 1946 zu Recht auf der Anklagebank saßen. Verantworten musste sich etwa Prof. Karl Brandt, der als Reichskommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen mit der Organisation der »Aktion T 4« befasst gewesen war. Prof. Gerhard Rose, während des »Dritten Reichs« stellvertretender Präsident des Robert-Koch-Instituts für Tropenmedizin, wurde beschuldigt, an Fleckfieberversuchen in den Konzentrationslagern Natzweiler und Buchenwald mitgearbeitet zu haben. Prof. Karl Gebhardt, ehemals Oberster Kliniker beim Reichsarzt SS, zeichnete für eine Reihe bestialischer Experimente in verschiedenen Konzentrationslagern verantwortlich. Ein  Angeklagter, der nicht aus der Ärzteschaft stammte, war der SS-Standartenführer Wolfram Sievers, der als Reichsgeschäftsführer der Gesellschaft Ahnenerbe amtiert hatte. In dieser Funktion war er mit der Vervollständigung einer Skelettsammlung der Reichsuniversität Straßburg beauftragt worden. In Auschwitz wurden für dieses Projekt mindestens 112 jüdische Häftlinge ermordet.

Der Prozess konzentrierte sich auf vier Tatkomplexe. Der erste betraf den Vorwurf der »gemeinsamen Verschwörung«. Demnach hatten sich die Beschuldigten in den Jahren 1939–1945 zusammengefunden, um gemeinschaftlich »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« zu begehen. Der zweite und dritte Teil des Verfahrens umfasste konkrete »Kriegsverbrechen« und »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«. Im vierten Komplex ging es um die »Mitgliedschaft in einer verbrecherischen Organisation«, da immerhin zehn der Beschuldigten der SS angehört hatten.

Das Gericht führte den Prozess nach rechtsstaatlichen Maßstäben und war bemüht, den Angeklagten jeweils ihre individuelle Schuld nachzuweisen. Alexander Mitscherlich konstatierte im Rückblick: »Hier wurde […] blinder Hass nicht mit blinder Rache vergolten, vielmehr in einer ernsten Bemühung die Distanz für Reflexion geschaffen.«2 So versuchte das Gericht angesichts der grausamen Menschenversuche, die den Kern der Anklage ausmachten, zu Beginn des Verfahrens grundlegende ethische Maßstäbe für die Durchführung medizinischer Humanexperimente zu definieren. Im »Nürnberger Kodex«, der noch heute weltweit als, wenn auch vielfach missachteter, Referenzrahmen gilt, wurde die freiwillige Zustimmung der Versuchsperson zur unveräußerlichen Voraussetzung »zulässiger medizinischer Versuche« erklärt.

Hier setzten die Rechtfertigungsstrategien der Angeklagten an, die behaupteten, über die näheren Umstände der Experimente in den Konzentrationslagern nicht informiert gewesen zu sein. Vielmehr seien sie davon ausgegangen, dass sich zum Tode verurteilte Schwerverbrecher freiwillig als Versuchspersonen gemeldet hatten. Hinsichtlich der »Euthanasie«-Verbrechen erklärten sie, zu allen Zeiten sei es üblich gewesen, unheilbar Kranke zu töten. Die Anklagevertretung bemühte sich hingegen, die spezifischen Merkmale der nationalsozialistischen Medizinverbrechen herauszuarbeiten. Sie versuchte zu zeigen, dass entgegen jeder medizinischen Ethik, das Versprechen der »Heilung« nahezu unauflöslich mit der Praxis der »Vernichtung« verknüpft gewesen war.

Der Prozess endete am 20. August 1947. Sieben Angeklagte wurden zum Tode verurteilt und Anfang Juni 1948 im Kriegsverbrechergefängnis Landsberg hingerichtet. Neun erhielten langjährige Freiheitsstrafen. Die Verurteilten profitierten allerdings von Gnadenerlassen des amerikanischen Hochkommissars John McCloy, so dass sich seit 1955 keiner der im Ärzteprozess Angeklagten mehr in Haft befand.

Das große Schweigen – Reaktionen auf den Nürnberger Ärzteprozess

Die ärztlichen Standesorganisationen sahen dem Verfahren mit unterschiedlichen Erwartungen entgegen. Einerseits fürchtete man, angesichts der in Nürnberg zur Verhandlung anstehenden Verbrechen erhebliche Reputationsverluste für die deutsche Ärzteschaft. Andererseits erkannten die Standesvertreter in dem Prozess und der wahrscheinlichen Aburteilung einer Handvoll schwer belasteter Angeklagter die Chance, breiteren Diskussionen über die Verstrickung von Medizinern in das NS-Regime zu entgehen. Diese Absicht verfolgte vermutlich auch die Arbeitsgemeinschaft der Westdeutschen Ärztekammern, als sie im November 1946 beschloss, eine Beobachterkommission zum Nürnberger Ärzteprozess zu entsenden. Der Kommissionsbericht sollte vor allem unter Medizinern verbreitet werden.

Die Erwartungshaltung, die an den Prozess und dessen Dokumentation geknüpft war, brachte der Dekan der Medizinischen Fakultät der Universität Freiburg im November 1946 auf den Punkt: »Dass die Ärzte sich einschalten, ist jedenfalls berechtigt und notwendig. Es muss ganz energisch klargelegt werden, dass doch nur eine äußerst beschränkte nat. soz. Clique sich hier die Finger verbrannt hat und dass vielmehr der deutsche Arzt im allgemeinen ebenso wie der deutsche Wissenschaftler nicht das geringste mit diesen Scheußlichkeiten zu tun hat«.3

Unter den etablierten Standesvertretern fand sich allerdings niemand bereit, die Beobachterkommission zu leiten. Schließlich übernahm die Aufgabe der junge Heidelberger Privatdozent Alexander Mitscherlich. Als er im Februar 1947 seinen Zwischenbericht mit dem Titel »Das Diktat der Menschenverachtung« vorlegte, hegte er die Befürchtung, die Veröffentlichung der Prozessunterlagen werde ihn »außerordentlich unpopulär machen«.4 Mitscherlich täuschte sich nicht. In seinen Lebenserinnerungen schrieb er: »Meine medizinischen Kollegen haben mich damals nicht nur als Vaterlandsverräter beschimpft, sondern auch verschiedentlich versucht, mich beruflich zu diffamieren und zu schädigen. Das Verhalten der Kapazitäten grenzte an Rufmord.«5

Die Redaktion der Deutschen Medizinischen Wochenschrift, in der die Dokumentation ursprünglich hätte veröffentlicht werden sollen, weigerte sich, den Zwischenbericht der Kommission abzudrucken. Auf noch größere Ignoranz stieß der Abschluss-bericht, der als Buch unter der Überschrift »Wissenschaft ohne Menschlichkeit« im Jahr 1949 erschien. Reaktionen auf die Dokumentation blieben vollständig aus. Das Buch fand weder Erwähnung in den ärztlichen Verbandszeitschriften, noch in den Tageszeitungen. Schon bald war »Wissenschaft ohne Menschlichkeit« aus den Buchhandlungen verschwunden. Der Verbleib des Buches, das in einer Auflage von immerhin 10.000 Stück gedruckt worden war, ist bis heute ungeklärt. Mitscherlich selbst vermutete rückblickend, dass die Dokumentation kurz nach ihrem Erscheinen von den Ärztekammern aufgekauft worden war, um deren Verbreitung zu verhindern.

Die Widerstände, auf die Mitscherlich stieß und die geringe Beachtung, die seine Dokumentation des Nürnberger Ärzteprozesses fand, können als typisch für den Umgang mit der NS-Zeit in der frühen Bundesrepublik gelten. Das »kommunikative Beschweigen der Vergangenheit« (Hermann Lübbe) schien in der Ärzteschaft jedoch besonders ausgeprägt zu sein. Spätestens mit dem Beginn der 1950er Jahre gelang es auch schwer belasteten Medizinern, sich erneut an Universitäten, Forschungseinrichtungen oder in Arztpraxen zu etablieren. So erhielt selbst Dr. Wilhelm Beiglböck, der wegen Menschenversuchen in Dachau im Ärzteprozess zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt worden war, kurz nach seiner vorzeitigen Haftentlassung im Dezember 1951, eine Stelle an der Freiburger Universitätsklinik.

»Weißwäschersyndikate« – Ärztliche Vergangenheitspolitik in der Bundesrepublik

Die Rückkehr ins Berufsleben konnte auf drei, oftmals miteinander verschränkten Wegen erfolgen. Erstens erklärten zahlreiche Mediziner, ein distanziertes Verhältnis zum NS-Regime gepflegt zu haben. In diesem Kontext wurden gerne religiöse Überzeugungen angeführt, die mit der »gottlosen« Ideologie des Nationalsozialismus nicht zu vereinbaren gewesen seien. Eine Behauptung, die sich hervorragend ins vorwiegend konservativ-kulturpessimistisch geprägte gesellschaftliche Klima der frühen Bundesrepublik fügte. So berief sich auch Otmar Freiherr von Verschuer, der seit 1935 in leitender Funktion am neu geschaffenen »Institut für Erbbiologie und Rassenhygiene« der Universität Frankfurt beschäftigt gewesen war, erfolgreich darauf, aufgrund seiner Nähe zur »Bekennenden Kirche« dem NS-Staat ablehnend gegenübergestanden zu haben. Im Jahr 1951 wurde Verschuer Professor an der Universität Münster.

Zweitens formierten sich schon kurz nach Kriegsende Schweigekartelle und »Weißwäschersyndikate« (Gerhard Paul). Ehemalige NS-Ärzten wechselten, oftmals mit Unterstützung von Kollegen, die Identität und praktizierten unter neuem Namen weiter. Der spektakulärste Fall war zweifellos die »Heyde/Sawade«-Affäre am Ende der 1950er Jahre. Prof. Werner Heyde, der während des »Dritten Reichs« die »Aktion T 4« geleitet hatte, nahm 1947 den Namen Fritz Sawade an und arbeitete in Flensburg als medizinischer Gutachter für verschiedene Behörden und die Justiz des Landes Schleswig-Holstein. Nachdem Sawades wahre Identität im November 1959 bekannt geworden war, zeigte sich, dass Heyde auf zahlreiche Mitwisser hatte vertrauen können – darunter einen Generalstaatsanwalt, den Vorsitzenden des Landesozialgerichts sowie etliche angesehene Mediziner.

Hans Glatzel, Direktor des Oberversicherungsamtes, für das Heyde als Dr. Sawade gutachterlich tätig gewesen war, erklärte vor einem Untersuchungsausschuss des Schleswig-Holsteinischen Landtags: »Es war praktisch allgemein bekannt, insbesondere in ärztlichen Kreisen, dass der Name Dr. Sawade ein Pseudonym war. Wenn der Name Sawade genannt wurde, zwinkerte man mit den Augen und schwieg.«6 Drittens kam die Strafverfolgung von NS-Medizinverbrechen während der 1950er Jahre faktisch zum Erliegen. Die wenigen Angeklagten, die sich vor Gericht wegen ihrer Beteiligung an den Patientenmorden verantworten mussten, durften darauf hoffen, vom Vorwurf des »Mordes« freigesprochen zu werden, da ihnen »niedere Motive« angeblich nicht nachzuweisen waren. Diese juristische Absolution wurde vom größten Teil der Ärzteschaft  auch als moralische Rehabilitierung aufgefasst, so dass die Verstrickung in »Euthanasie«-Verbrechen für eine Fortsetzung der medizinischen Karriere in der Bundesrepublik selten ein Hindernis darstellte.

Die hier beschriebenen Entwicklungen ließen sich in ähnlicher Weise auch in den anderen beiden Nachfolgestaaten des »Dritten Reichs« beobachten. Sowohl in der DDR als auch in Österreich gelangten Ärzte in führende Positionen, die an Medizinverbrechen in der NS-Zeit beteiligt gewesen waren. Vor allem die Patientenmorde fanden weder im heroischen Antifaschismus der DDR Beachtung, noch im österreichischen Opfermythos.

Die »vergessenen Opfer« der NS-Medizin

Erst rund vier Jahrzehnte nach dem Nürnberger Ärzteprozess setzte eine kritische Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Medizinverbrechen ein. Die Impulse hierzu gingen oftmals von wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Außenseitern aus. So machten Aktivisten der seit dem Beginn der 1970er Jahre entstehenden »Antipsychiatrie-Bewegung« auf die vielfach katastrophalen Zustände in bundesdeutschen Heimen und Anstaltspsychiatrien aufmerksam und verwiesen hinsichtlich des dort praktizierten Umgangs mit Patienten auf offenkundige Kontinuitätslinien zur Zeit des Nationalsozialismus.

Der Journalist und Sozialpädagoge Ernst Klee dokumentierte in zahlreichen Veröffentlichungen die Dimensionen der »Euthanasie«-Verbrechen und skandalisierte in diesem Zusammenhang ebenso die Nachkriegskarrieren der Täter. Auch Mitscherlichs »Medizin ohne Menschlichkeit« wurde nun breiter rezipiert. In der Ärzteschaft selbst begannen im Zuge generationeller Umbrüche, die Schweigekartelle zu bröckeln. An einigen Kliniken konstituierten sich seit dem Ende der 1970er Jahre historische Arbeitskreise, die ebenso wie zahlreiche Geschichtswerkstätten daran gingen, die verdrängte Geschichte der Medizinverbrechen frei zu legen. Dabei rückten erstmals auch die »vergessenen Opfer« des NS-Regimes ins Blickfeld.

Obgleich sich die Kenntnisse über die Rolle der Ärzteschaft im Nationalsozialismus in jüngster Zeit stark erweitert haben, sind zahlreiche Facett-en des Themas bislang weitgehend unbeachtet geblieben. Genauer zu untersuchen wären etwa die Praktiken der Ausgrenzung jüdischer Mediziner durch die deutsche Ärzteschaft in den Jahren nach 1933. Ebenso ist nach den Dimensionen von Zwangsarbeit an Krankenhäusern und Universitätskliniken zu fragen. Zu beiden Aspekten gibt es mittlerweile erste Studien, die jedoch innerhalb der Ärzteschaft nicht nur Zustimmung hervorgerufen haben. Somit bleibt 60 Jahre nach Beginn des Nürnberger Ärzteprozesses die von Alexander Mitscherlich erhobene Forderung, ohne zu »feilschen« der »Wahrheit ins Auge zu sehen«, weiterhin aktuell.

Literatur:
Ebbinghaus Angelika/Dörner, Klaus (Hg.): Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Ärzteprozess und seine Folgen, Berlin 2001.
Freimüller, Tobias: Mediziner: Operation Volkskörper, in: Norbert Frei (Hg.): Hitlers Eliten nach 1945, München 2003, S. 13-65.
Frewer, Andreas/Wiesemann, Claudia (Hg.): Medizinverbrechen vor Gericht. Das Urteil im Nürnberger Ärzteprozess gegen Karl Brandt und andere sowie aus dem Prozess gegen Generalfeldmarschall Milch, Erlangen/Jena 1999.
Klee, Ernst: Was sie taten – Was sie wurden. Ärzte, Juristen und andere Beteiligte am Kranken- oder Judenmord, 11. Aufl. Frankfurt/M. 2001.
Mitscherlich, Alexander/Mielke, Fred (Hg.), Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses, 15. Aufl. Frankfurt/M. 2001. 
Paul Gerhard: „…zwinkerte man mit den Augen und schwieg“. Schweigekartell und Weißwäschersyndikat im hohen Norden oder: Wie aus NS-Tätern und ihren Gehilfen Nachbarn und Kollegen wurden, in: Ders.: Landunter. Schleswig-Holstein und das Hakenkreuz, Münster 2001, S. 346-389.

  • 1Vgl. Hans-Walter Schmuhl: Die Patientenmorde, in: Angelika Ebbinghaus/Klaus Dörner (Hg.): Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Ärzteprozess und seine Folgen, Berlin 2001, S. 295–328.
  • 2Mitscherlich: Chronik, S. 14
  • 3Zitiert nach: Jürgen Peter: Unmittelbare Reaktionen auf den Prozess, in: Ebbinghaus/Dörner: Heilen und Vernichten, S. 452-475, hier S. 455.
  • 4Ebenda, S. 452.
  • 5Zitiert nach: Tobias Freimüller: Mediziner: Operation Volkskörper, in: Norbert Frei (Hg.): Hitlers Eliten nach 1945, München 2003, S. 13-65, hier S. 27.
  • 6Ebenda, S. 52.