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»Es waren nicht die bleiernen Jahre«

Einleitung

Über das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen in den Tagen vom 22. bis 24. August 1992, die Reaktionen unabhängiger Antifaschist_innen, über Verantwortung und historisches Versagen sowie die bis heute anhaltenden Konsequenzen des Pogroms sprach das AIB mit Olga, Karen, Erwin und Paul, Antifaschist_innen aus Rostock und Berlin, die während des Pogroms vor Ort waren.

Die Zentrale Aufnahmestelle (ZASt), auch »Sonnenblumenhaus« genannt, direkt daneben befand sich die Unterkunft der vietnamesischen Vertragsarbeiter_innen.

AIB: Im Rückblick anlässlich des 20. Jahrestags des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen: Welche Szenen aus dieser Woche stehen euch noch besonders vor Augen bzw. welche Szenen könnt ihr immer noch aus dem Gedächtnis abrufen?

Olga: Ich war damals 16 Jahre. Die erste Szene, an die ich mich entsinne: Es ist Sonntag, 23. August 1992, später Nachmittag oder früher Abend: Da sind wir endlich das erste Mal rausgefahren nach Lichtenhagen, mit knapp 100 Leuten. Meine Erinnerung: So stelle ich mir Bürgerkrieg vor, wir versuchen das Sonnenblumenhaus von der Nordseite zu erreichen, schleichen von hinten heran, Hubschrauber kreisen über unseren Köpfen, wir robben durchs Gebüsch, Verstecken, Schleichen, und immer wieder Verstecken, ständig die Gefahr, als Antifas erkannt zu werden, von Polizisten oder Nazis, und immer das Gefühl, im Feindesland zu sein, dazu die Geräuschkulisse der rassistischen Hassparolen. Ein Zustand zwischen Angst und der Entschlossenheit, irgendwie an das Haus heran zu kommen. Wir haben uns von der Rückseite genähert und dann doch entschieden, wieder zurück zu fahren, weil wir zu wenige waren und entdeckt wurden. Ich kann wirklich nicht sagen, wie die Entscheidung zustande kam – Strukturen wie einen Aktionsrat oder ähnliches gab es meines Wissens nach nicht. Danach war das Gefühl nicht Ohnmacht, sondern Wut.
Szene 2.: Endlich – nach stundenlangen endlosen Diskussionen – sind wir nachts gegen 3 Uhr am Sonntag wieder raus gefahren. 300 Leute, haben die Autos geparkt an der Stadtautobahn, haben Ketten gebildet, waren zügig, kraftvoll, laut und wütend, sind voller Hass auf den Mob vors Sonnenblumenhaus losgelaufen und haben die Nazis, die davor standen, vertrieben. Ein unbeschreibliches Gefühl... Wir hätten dort bleiben sollen: Stattdessen sind wir in die Stadt zurück gefahren und wurden auf dem Rückweg festgenommen.

Erwin: Auch wenn es schon zwanzig Jahre her ist, erinnere ich mich noch gut an diese Nacht, die Olga beschreibt. Am 23. August 1992,  als wir mit 200 bis 300 Leuten nach Lichtenhagen rausgefahren sind, Autos abgestellt haben und dann wie im Guerilla-Krieg, ohne einen Mucks von uns zu geben, an den Häuserwänden Lichtenhagens entlang geschlichen sind, weil über uns Hubschrauber kreisten. Als wir dann an dem Parkplatz südlich des Sonnenblumenhauses ankamen, haben wir uns formiert, sind mit »Nazis-Raus«-Rufen losgelaufen und haben die Nazis verjagt. Das war schon ein sehr wichtiges Erlebnis, diese Wut, dieser Hass, die Nazis laufen zu sehen. Leider sind wir nicht geblieben.

Karen: Ich erinnere mich noch an mein eigenes Zögern, als der Anruf über die Berliner »Häuser-Telefonkette« bei uns in der WG ankam, dass in Rostock ein Mob aus Nazis und AnwohnerInnen gegen die Zentrale Aufnahmestelle für Flüchtlinge und ein Vertragsarbeiter_innen-Wohnheim mobil machen würde. Seit dem Pogrom in Hoyerswerda im September 1991 hatten wir fast jedes Wochenende irgendwo in Brandenburg oder Ost-Berlin vor einem Flüchtlingsheim oder einem besetzten Haus gestanden. Und, ganz ehrlich, die erste Reaktion war: ›Uff, schon wieder losfahren?‹ Dann, in Rostock angekommen, gab es quasi ein Open-Air-Plenum, wo Antifas aus Norddeutschland völlig bunt durcheinander gewürfelt zusammen kamen: Die Positionen lagen extrem auseinander – zwischen »los, lasst uns endlich rausfahren nach Lichtenhagen, egal wie viele Nazis da rumstehen« über »was macht eigentlich die Polizei« – denn nach Hoyerswerda dachten viele, dass eine derartige Situation durch die Sicherheitsbehörden auf jeden Fall nicht mehr gewollt sei – bis hin zu großer Angst, weil kaum jemand von uns sich auskannte vor Ort und der Mob in Hoyerswerda kleiner und insgesamt überschaubarer gewesen war.

Paul: In Erinnerung sind noch viele Szenen aus dieser Woche. Wir sind mit Beginn der Ansammlung vor dem Haus am Sonnabend in mehrere Wohnungen der Vietnames_innen. Eine Szene  ist, wie die Vietnames_innen, während draußen am späten Abend die Angriffe liefen, relativ ruhig in ihrer Wohnung saßen und das Abendessen zubereiteten, während wir uns die ganze Zeit auf dem Balkon aufhielten und immer wieder Gegenstände von oben herab warfen, um die wenigen Polizisten, die das Haus gegen die Angreifer zu verteidigen versuchten, zu unterstützen. Immer wenn sie zurückgedrängt wurden, haben wir versucht, was uns möglich war. Hinterher bedankte sich der Einsatzleiter bei uns.

Ein weiteres Bild, das ich nicht vergessen werde, waren die ankommenden Wasserwerfer. Über mehrere Stunden worden sie bereits angekündigt, doch sie kamen nicht. Als sie dann eintrafen und wir sahen, wie langsam sie anrollten und bereits dabei ihre Wasservorräte in der Luft versprühten, wussten wir, irgendwas stimmt hier nicht.

Am nächsten Tag, dem Sonntag, kamen viele aus anderen Städten zur Unterstützung und es gab viele Diskussionen. Es gab immer wieder Versuche, in größeren Gruppen nach Lichtenhagen zu gelangen, um dort irgendwie einzugreifen. Ich werde nie vergessen, wie wir mit 50–60 Personen von der Nordseite auf das Haus zustürmen wollten, um entweder hinein zu gelangen oder eine Kette um das Haus zu bilden. Es war verabredet worden, dass gleichzeitig von der anderen Seite eine größere Gruppe versuchen sollte, an das Haus zu kommen. Für mich schien das eine machbare Angelegenheit. Das Ziel war, den weiteren Verlauf des Abends irgendwie zu beeinflussen und so weitere Angriffe  zu verhindern. Wir ahnten, dass wenn wir nichts tun, es weiter gehen und wahrscheinlich noch schlimmer werden würde als am Vorabend. Kurz bevor wir loslaufen wollten, sahen wir von der Seite eine Polizeikette in Richtung des Hauses aufziehen, in die wir gerade laufen wollten. Ein Teil der Gruppe lief trotzdem los. Letztendlich waren es aber zu wenige und die Leute waren zu unentschlossen.

AIB: Wie bewertet ihr im Nachhinein die politische und praktische Reaktion von unabhängigen Antifas auf das Pogrom? Das AIB schrieb anlässlich des fünften Jahrestags 1997, die unabhängige Antifa habe die Dimension der historischen Verantwortung, die wir damals gehabt hätten, aus Angst um den »eigenen weißen Arsch« nicht erkannt und versagt, weil wir uns nicht getraut haben, uns dem Mob entgegen zu stellen und das Wohnheim der Vietnames_innen offensiv zu schützen. Was denkt ihr dazu?

Erwin: Ich weiß nicht, ob die historische Verantwortung, die wir zweifellos hatten, für uns damals erkennbar gewesen ist. Ich kann mich nicht daran erinnern, daran gedacht zu haben. Dass es um den »eigenen weißen Arsch« ging, trifft nach meiner Erinnerung nur teilweise zu. Es waren damals viele dazu bereit, ihren »eigenen weißen Arsch« zu riskieren. Und es gab ja auch Versuche, da was zu machen. Es sind ja mehrmals am 23. und 24. August größere Gruppen nach Lichtenhagen rausgefahren. Aber man konnte sich nicht einigen. Die Bedenkenträger_innen – ich mein das auch gar nicht abfällig – waren einfach mehr – und ich glaub, vor allem lauter. Und oft standen auch Polizisten im Weg. Aber klar: Wenn wir die damals verjagt und das Sonnenblumenhaus militant verteidigt hätten, wäre die Geschichtsschreibung der letzten zwanzig Jahren eine andere gewesen.  

Olga: Wir haben die historische Verantwortung wahrscheinlich wirklich nicht erkannt, zumindest ich nicht in diesem Moment. Oder wir hatten damals nicht in diesen Dimensionen gedacht. Im Nachhinein hat mich bzw. viele von uns – damit meine ich immer Leute aus Rostock –die Frage »Warum haben wir das Pogrom und die Nacht vom 24. August 1992, als das Vertragsarbeiterwohnheim mit Molotow-Cocktails in Brand gesetzt wurde, nicht verhindern können«, immer begleitet. Ich weiß aber auch, dass viele von uns nicht auf »ihren weißen Arsch » geachtet haben, sondern ständig raus gefahren sind – und sowohl kleine, als auch größere Gruppen im Haus waren... Was aber auch richtig ist, dass wir in der Masse nicht entschlossen waren, nicht einig und die Bedenken bei Teilen der Antifas zu groß waren. Vielleicht doch »der weiße Arsch«, der Angst hatte. Der Rest war nicht laut genug bzw. konnte sich nicht durchsetzen.

Karen: Mir hat der Text aus dem AIB Nr. 41/1997 aus dem Herzen gesprochen, ohne dass ich Olga und Erwin widersprechen würde – in dem Moment waren wir uns ganz sicher nicht bewusst, welche Konsequenzen es haben würde, dass wir nicht entschieden haben, um jeden Preis zum Sonnenblumenhaus zu kommen und zu bleiben. Ich habe oft im Nachhinein gedacht, dass wir dadurch die ganze Dynamik der folgenden 24 Stunden geändert hätten – weil vielleicht viele von uns verletzt worden wären, aber wir hätten damit auch einen Polizeieinsatz provoziert, der die Situation vor Ort verändert hätte. Und ich bin davon überzeugt, dass die Welle der rassistischen Gewalt des folgenden Jahrzehnts und die extrem rechte Hegemonie, die wir heute haben, anders verlaufen wären ohne das Pogrom.

Paul: Ich teile die Einschätzung, dass wir in diesem Moment nicht genügend und mutig genug gewesen sind. Das hatte sicherlich auch mit den unterschiedlichen Erfahrungen von Leuten aus West und Ost zu tun. Wenn wir es geschafft hätten, mit etlichen Leuten vor das Haus zu kommen und auch rein, dann wäre das weitere Geschehen anders verlaufen. Das wäre sicherlich mit einem hohen persönlichen Risiko verbunden gewesen, aber zumindest die Polizei hätte im weiteren Verlauf anders agieren müssen. Womöglich wäre es dann auch nicht zu den vielen weiteren Angriffen auf Flüchtlingsheime in der Art (wie geschehen) gekommen.

AIB: Welche politischen und praktischen Konsequenzen habt ihr nach dem Pogrom aus dieser Erfahrung gezogen?

Olga: Die Straßen nazifrei zu halten, Gegenwehr zu organisieren, die politische Aufarbeitung in Rostock vor Ort voranzutreiben und eine breit getragene Antifapolitik in Rostock zu etablieren. Wir haben linke bzw. linksradikale Inhalte in die Bündnisse tragen können – auch Themen über Antifapolitik hinaus. Wir haben Räume geschaffen und verteidigt. Es ging ums intervenieren, um kontinuierliche politische Arbeit und eine politische, bundesweite, antifaschistische Vernetzung. Und natürlich: Handy erfinden und kaufen...

Erwin: Meines Erachtens gab es in Rostock vier vordringliche Aufgaben, die wir erfüllen mussten. Einen durch ein breites Bündnis getragenen Anti-Nazi-Konsens zu schaffen. Die Nazis auf der Straße zurückzudrängen. Eine Verbesserung der Situation für die Flüchtlinge durchzusetzen, wozu auch eine dezentrale Unterbringung gehörte. Die (radikale) Linke und die alternative Subkultur breit aufzustellen, wozu die Sicherung und Ausweitung der linken Freiräume gehörte, aber auch die linke Szene als akzeptierten lokalen Player zu etablieren.

Karen: Wir sind aus Rostock zurückgekommen und die Spaltung, die sich schon vorher abgezeichnet hatte, vertiefte sich eigentlich: Die einen haben sich auf Antira-Politik konzentriert, die damals noch sehr praktisch ausgerichtet war: Flüchtlinge zu unterstützen, die vor den Angriffen auf die Heime im Osten in die alten Bundesländer und nach Berlin flüchteten und politisch gegen das System der Zwangsverteilung vorzugehen. Für viele andere, und dazu gehörte ich auch, gingen Anti-Nazi-Recherche und Antifa- bzw. linke und autonome Gruppen, vor allem in den kleinen Orten in Brandenburg, unterstützen und deren Strukturen verteidigen, Hand in Hand. Und natürlich die Versuche von bundesweiter Vernetzung. Zusammengekommen sind Antira- und Antifa-Bewegung, aber auch viele bürgerliche Gruppen und Institutionen, die sich heute zu den Themen gar nicht mehr verhalten, dann noch einmal 1993 in den Protesten gegen die Abschaffung des Artikel 16 Grundgesetz, also des uneingeschränkten Rechts auf Asyl.

Paul: Für uns in Rostock ging es in den Jahren danach erstmal ganz einfach darum, uns gegen rechte Mobilisierung, die durch das Pogrom einen kräftigen Schub bekam, zur Wehr zu setzen. Das bedeutete bestehende Freiräume zu verteidigen und auszubauen. Daraus entwickelten wir einen linken Politikansatz, der auf das Schaffen von Bündnissen und Netzwerken ausgerichtet ist, der Menschen überzeugen und mitnehmen will, der eine Auseinandersetzung mit anderen Meinungen und Haltungen nicht scheut, der auf der Basis einer linken Subkultur funktioniert und eher auf Breite statt auf Abgrenzung setzt. Ich glaube, dass wir damit recht erfolgreich waren. Rostock ist ein gutes Beispiel, was damit zu erreichen ist. Das Ereignis Lichtenhagen hat hierfür Räume und Gelegenheiten eröffnet, die es anderswo nicht gab.

AIB: Was hätte die unabhängige Antifabewegung in den 1990ern anders machen müssen – im Rückblick –, wenn wir jetzt sehen, dass es die Generation der durch Rostock-Lichtenhagen politisierten Neonazis ist, die den Kern des NSU-Unterstützungsnetzwerks bildete?

Olga: Eine schwierige Frage, vielleicht hätten wir viel früher, viel eher interventionistische Politikansätze durchsetzen sollen, »no pasaran« und »Dresden Nazi frei« sind aktuelle Beispiele dafür. Was aber war die Antwort damals: Wohlfahrtsausschüsse.

Erwin: Ich würde von mir sagen, dass ich nie in der Antifa-Bewegung war. Antifaarbeit gehörte einfach dazu, wenn man Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre im Osten politisch sozialisiert worden ist. Nur soviel: Ich weiß nicht, ob man als Antifa sicher verhindern kann, dass sich rechtsterorristische Netzwerke herausgebilden. Ansonsten richtet sich die Frage eher an die »Recherche-/Analyse-Abteilung«: In den 1990er Jahren wurde permanent vor Rechtsterrorismus gewarnt. Warum die NSU-Morde nicht als solche erkannt worden sind, war bei uns ein Fehler.
Zur linken Bewegung allgemein: Wir hätten früher und konsequenter gegen den auf Selbstvergewisserung und Selbstbezüglichkeit ausgerichteten Teil der linken Bewegung opponieren müssen und unseren pragmatischen, auf gesellschaftliche Veränderung gerichteten Politikansatz stärker machen müssen. Diese auf Abgrenzung und Ghettoisierung gerichteten Tendenzen in der radikalen Linken, die ab Mitte der 1990er Jahre sehr stark geworden sind, waren verheerend. Wir hätten besser und attraktiver sein können.

Karen: Wir hätten unsere eigenen Analysen ernster nehmen und dann auch entsprechend besser weitervermitteln müssen. Nur ein Beispiel: Das Verhältnis zum Staat und zu Polizei. Spätestens nach den Erfahrungen der frühen 1990er muss allen klar gewesen sein, dass die Polizei im Zweifel weder Flüchtlinge, Migrant_innen noch Linke vor Nazis schützen würde. Und dennoch ist dieses Wissen im Laufe der 2000er Jahre auch bei Teilen der Antifa-Bewegung verschwunden – und das Erstaunen angesichts der Rolle von Polizei und Geheimdiensten im NSU-Komplex nun umso größer. Und noch etwas. Die Reaktionen aus der Antifa-Bewegung auf die NSU-Morde zeigen ziemlich erschreckend, wie weit entfernt wir inzwischen von einer gemeinsamen Praxis oder den selbstverständlichen Kontakten mit Migrant_innen sind. Ich hätte mir wirklich gewünscht, dass zum Beispiel massenhaft Antifagruppen am Strassenfest der Keupstrasse in Köln anlässlich des achten Jahrestags des NSU-Bombenanschlags oder an den Gedenkveranstaltungen in Kassel oder Dortmund teilgenommen hätten. Und wem das zu staatstragend ist, der oder die sollte sich eben was eigenes dazu ausdenken. Wir haben beim NSU-Komplex als unabhängige Antifas auch im Nachhinein eine Verantwortung, der wir gerade noch nicht einmal ansatzweise gerecht werden. Letztendlich geht es doch noch immer um die Frage, ob und wie wir als radikale Linke gesellschaftliche Verantwortung übernehmen wollen.

Paul: Ich weiß nicht, was man hätte anders machen müssen. Es kommt immer auch darauf an, an welchem Ort man lebt und agiert. Es gibt sicherlich große Unterschiede, ob man in einer großen Stadt oder in einer Kleinstadt bzw. im ländlichen Raum aktiv ist. Jedenfalls wusste man, schon Mitte/Ende der 90er, dass es zahlreihe quasi-militärische Ausbildungslager gibt und dass die rechte Szene Zugang zu Waffen und Sprengstoff hat.  Ich habe mich eher gewundert, dass bei jahrelangem militärischen und ideologischen Drill nicht mehr passiert ist. Einige in der rechten Szene waren sicherlich tickende Zeitbomben. Der Anschlag in Düsseldorf hat dann bestimmt vielen auch außerhalb der Linken die Augen geöffnet, auch wenn bis heute unklar ist wer tatsächlich dafür verantwortlich war.

AIB: Was sind die Themen, die jetzt zum 20. Jahrestag des Pogroms bei den Gedenk- und Erinnerungsveranstaltungen bearbeitet werden sollten ? Was sollte nicht vergessen werden?

Erwin: Es sollte die Gegenwehr nicht vergessen werden. Es waren nicht die bleiernen Jahre. Es waren auch Jahre des Aufbruchs und der Gegenwehr. Sowohl von Antifas als auch von Migrant_innen. Und diese Gegenwehr war auch an nicht wenigen Stellen erfolgreich. Zu zeigen, dass die Pogrome nicht widerspruchslos hingenommen worden sind und welche Möglichkeiten es gab, sich gegen eine so breite faschistische und nationalistische Mobilisierung zu stellen, das kann auch hilfreich sein für die Auseinandersetzungen heute.

Olga:  Die Themen, die mir wichtig wären, hat Erwin zum Teil schon genannt: Die Gegenwehr, weg vom bloßen Opferstatus, die migrantische Gegenwehr, aber auch das Aufzeigen von rassistischen Kontinuitäten in all ihren Auswüchsen: Pogrome, die Grundgesetz-Änderung, der NSU, die Schengen-Grenzen und die Festung Europa.

Karen: Differenziert hinzuschauen und einzugreifen – überall!

Paul: Man sollte sich in Erinnerung rufen, welche Bedeutung die quasi-Abschaffung des Artikels 16 GG für die Gesellschaft hat. Eine Politik, die auf den Aufbau von Mauern setzt, wird die Probleme in der Welt letztlich mit militärischen Mitteln zu lösen versuchen. Am Beispiel des Lagers für Flüchtlinge in Horst, die sogenannte Erstaufnahmestelle und Wohnunterbringung, zeigt sich in eklatanter Weise eine menschenunwürdige Politik in der Form von Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen.

AIB: Danke für das Gespräch.