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»Die Mehrheit ist dagegen«

Einleitung

Interview mit Volker Beck(MdB) zur Situation Homosexueller in Osteuropa

Foto: Angelika Kohlmeier

Müssen Schwule und Lesben Angst haben, wenn sie in Osteuropa Urlaub machen oder dorthin zum Arbeiten oder Studieren gehen?

Osteuropa ist nicht gleich Osteuropa. Es gibt Licht und Schatten – und man kann nicht alle Staaten über einen Kamm scheren. In Polen wird aktuell zum Beispiel über ein Lebenspartnerschaftsgesetz diskutiert. Das wäre noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen. In Tschechien und Slowenien gibt es bereits entsprechende Gesetze. Dagegen gehen Russland, Weißrussland, Moldavien und die Ukraine den umgekehrten Weg. Dort soll eine langsam entstehende Aktivist_innenszene im Keim erstickt werden. In St. Petersburg und anderen russischen Provinzen gibt es bereits Gesetze, die sogenannte »Propaganda von Homosexualität« – also jedes Reden über Homosexualität! – unter Strafe stellen. In der Duma und im ukrainischen Parlament werden aktuell ebenfalls solche Gesetze debattiert.

Was steht in diesem Propaganda-Gesetz?

Letztlich soll mit diesem Gesetz jedes öffentliche Reden über Homosexualität verboten werden. Das geht vom öffentlichen Coming Out über Filmveranstaltungen bis hin zu Demonstrationsverboten. Selbst das Tragen eines Regenbogenpins kann bestraft werden – das trifft dann womöglich auch deutsche oder westeuropäische Tourist_innen. Die Strafen sind empfindlich: Für Personen kann diese ein durchschnittliches russisches Jahresgehalt umfassen. Vereine werden sogar verboten. Damit wird jede Coming-Out-Arbeit oder HIV-Prävention verunmöglicht. Und das noch nebenbei angemerkt: In der Ukraine hat man extra gewartet, bis das letzte EM-Kamerateam das Land verlassen hat, bevor das Gesetz zur Abstimmung gestellt wurde.

Ist also die Situation in Osteuropa schlimmer als in Westeuropa?

Zunächst: Das Leben ist für schwule und lesbische Jugendliche auch in Deutschland nicht einfach. Die Selbstmordrate ist noch immer viermal höher als bei Heteros. Und ein Jugendlicher, der in der bayerischen Provinz aufwächst hat es bestimmt nicht leichter, als jemand der in Warschau oder Prag sein Coming Out hat. Ein wesentlicher Unterschied ist aber die Politik der Regierungen. In Westeuropa sind wir überall auf dem Weg der Gleichstellung – langsam, aber sicher. In den neuen EU-Mitgliedsstaaten werden auch Antidiskriminierungsgesetze und Partnerschaftsgesetze verabschiedet. Da findet ein Wechsel in der Wahrnehmung und Wertschätzung von Schwulen und Lesben statt. Man darf nicht unterschätzen, welchen psychologischen Unterschied es macht, ob die Polizei einen CSD schützt und sich gegen rechte Schläger stellt oder ob sie selbst mitprügelt, wie in Russland. 2010 habe ich beispielsweise in Moskau den – so genannten – Menschenrechtsbeauftragten der Stadt getroffen. Auf die Frage, warum die Gay-Pride von der Stadt verboten wurde, antwortete er sehr höflich, dass eben die Mehrheit in Moskau dagegen sei, dass diese Minderheit öffentlich eigene Rechte einfordert. Und ich fürchte, er hat Recht. Umfragen haben ergeben, dass über 80 Prozent der Russ_innen das Propagandagesetz gut finden.

Von wem wird diese homophobe Stimmung forciert und getragen?

Das sind klerikale Gruppen auf der einen und rechtsextreme Schläger auf der anderen Seite. Die geben sich Mühe, getrennt zu marschieren, beispielsweise bei der Pride in Kiew. In Moskau allerdings haben die rechtsextremen Schläger in einer Gruppe alter Damen mit Ikonen in den Händen Schutz vor dem Zugriff der Polizei gefunden. Das ist jetzt nicht sehr verwunderlich, beim jährlichen »Marsch für das Leben«, Burschenschaften, Pius-Brüdern oder Kreuz.net gibt es ja bei uns in Deutschland ähnliche Verbindungen, wenn man genauer hinsieht.

Auf welchen ideologischen Grund­lagen baut diese Menschenfeindlichkeit auf? Ist es die katholische bzw. orthodoxe Religion?

Die katholische und die russisch-ortho­doxe Kirche haben da selbstverständlich ihren negativen Verdienst dran. Da in der Sowjetunion aber unter Lenin und Stalin eine massive Christenverfolgung mit Ermordungen und Deportationen in den Gulag stattfand, hatte Religion bis in die 1990er Jahre keine herausragende Rolle. Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kehr­ten dort viele Menschen wieder zum religiösen Glauben zurück. Die Religion nimmt heute wieder eine identitätsstif­tende Funktion ein: Heimat, Kirche, Staat – das ist der alte Gleichklang im neuen Russland Putins. Das Problem ist meiner Meinung nach aber komplexer. Der Großteil der Bevölkerung ist noch immer gegen die fundamentalen Rechte der Lesben und Schwu­len, weil es an einem grund­sätzlichen Verständnis der Gleichwertigkeit von Menschen fehlt. Es wurde im Kommunismus viel von Gleichheit gesprochen, Marx zitiert und darüber philosophiert.  Dabei ging es um ökonomische Gleichheit – die Gleichwertigkeit von Menschen mit unterschiedlichen persönlichen Merkmalen fand dort aber keine Umsetzung. Ich würde deshalb nicht der Religion allein die Schuld geben. Religiöse Verbrämtheit trifft hier auf Nationalismus und ein fundamentales Unverständnis von individueller Freiheit von Minderheiten. Es gibt keine Kultur der Vielfalt.

Wie konstitutiv/impulsgebend sind die homophoben Mobilisierungen für die extreme Rechte in den Ländern?

Wenn der gemeinsame Feind klar ist, lassen sich die eigenen Reihen fester schließen. Da ist die homophobe Stimmung gerade recht und billig zum Hetzen und Aufstacheln. Antisemitismus, Antiziganismus und Rassismus ist da aber ebenso präsent. Es geht im Grunde um Hass auf Menschen, die man als anders definiert, dadurch irrationale Ängste produziert und so tatsächliche Probleme verdrängt, auf die man keine Antworten hat. Arbeitslosigkeit zum Beispiel. Das weiß auch das Regime Putins, das sich diese Tendenzen im letzten Wahlkampf ganz bewusst zu Eigen gemacht hat. Es war ja kein Zufall, dass das Propaganda-Gesetz in St. Petersburg wenige Wochen vor der Wahl auftauchte.

Was wird vor Ort getan um Homo­phobie zurückzudrängen?

Nichts. Abgesehen von wenigen mutigen Engagierten und NGOs. In der Realität versucht Russland gleichzeitig, das Tabu der Homosexualität mit staatlichen Repressionen weiter durch­zusetzen. Ich engagiere mich ehrenamtlich in der Hirschfeld-Eddy-Stiftung. Diese versucht Aktivist_innen vor Ort zu unterstützen, hat aber chronisch zu wenig Geld. Von der europäischen Politik würde ich mir da etwas mehr Entschlossenheit erwarten. Während alle auf die Euro-Rettung blicken, verlieren manche den Blick für die europäische Idee. Dazu gehört auch das Eintreten für Minderheiten – in der Außenpolitik und zu Hause. Die EU muss von ihren Mitgliedsstaaten eine aktive Politik gegen jede Form von Homophobie, Rassismus und Antisemitismus verlangen. Sie muss zeigen, dass sie sich hinter ihre diskriminierten Bürger stellt, auch wenn das gegen eine nationale Regierung geschehen sollte. Besondere Sorge bereitet mir da aktuell Ungarn, wo die rechtsextreme Jobbik-Partei den Diskurs massiv mitbestimmt und zum Beispiel beim letzten CSD in Budapest mit Fackelaufmärschen provozierte.

Was ist Dein Fazit?

Für Schwule und Lesben stehen die Zeichen in Teilen Osteuropas auf Sturm. In Russland und seinen Nachbarstaaten ist ein Roll-Back im Gange. Der wird angefacht von Rechtsextremen in unheiliger Allianz mit religiösen Anführern. Die Gefahr besteht auch in Ungarn. Noch halten dort die Dämme des Rechtsstaates. Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass das auch so bleibt. 

Volker Beck ist Mitglied des Deutschen Bundestags und menschenrechtspolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen. 2006 wurde eine Bürgerrechtsdemonstration im Anschluss an eine internationale Konferenz für sexuelle Minderheiten in Moskau (Moscow Pride) vom dortigen Bürgermeister Juri Luschkow wegen möglicher »negativer Reaktionen gegen die Teilnehmer« verboten. Die Demonstration fand trotzdem statt und wurde u.a. von Neonazis angegriffen. Beck wurde geschlagen und von einem Stein am Kopf getroffen. Er wurde von der Mos­kauer Polizei verhaftet und eine Stunde lang festgehalten.