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Neonazis in Russland

russischen AntifaschistInnen (Gastbeitrag)
Einleitung

Gewalttätige Übergriffe auf Menschen, deren Aussehen auf eine nichtrussische Herkunft schließen lässt, gehören in Russland zum Alltag. Allein in St. Petersburg mussten rund um den staatlichen Feiertag für die »Verteidiger des Vaterlandes« Ende Februar 2006 mehrere Menschen infolge brutaler Angriffe in Krankenhäuser eingeliefert werden. Eine  Frau mit kirgisischem Pass ­­erlag ihren schweren Verletzungen noch vor Ort.

Russische Neonazis demonstrieren in Moskau

Das vielgelobte »Tor zum Westen« hält somit seinen Spitzenplatz in der traurigen Liste rassistisch motivierter Straftaten. Doch immer häufiger trifft man in der Berichterstattung auf den Beisatz, ob die ausländischen Gewaltopfer eigentlich ihrer Meldepflicht nachgekommen seien. Der darin implizierten Logik folgend kann die Nichteinhaltung der schwer zu befolgenden strengen und komplizierten Meldevorgaben eine Strafe bis hin zum Totschlag nach sich ziehen. Das eigentliche Verbrechen wird dadurch zu einer Bestrafung für ein vermeintliches Vergehen umdefiniert und die Täter dürfen sich in ihrem Vorgehen bestätigt sehen.

Ohne eine Einmischung seitens der Miliz befürchten zu müssen, ziehen Gruppen von Schlägern auf der Suche nach passenden Opfern durch die Moskauer Metro. Auf Gegenwehr treffen sie selten, wie beispielsweise in einem Fall im vergangenen Jahr, als zwei aus dem Kaukasus stammende Männer die Angreifer erst mit Messerstichen stoppen und sich retten konnten. Seit geraumer Zeit bildet sich jedoch in einigen Städten wie Moskau, Petersburg und Wolzhskij bei Wolgograd organisierter antifaschistischer Widerstand gegen die rechte Dominanz auf der Strasse. Diese begann in Russland vor etwa vier Jahren, als die Strafverfolgungsbehörden erstmals nach zahlreichen Überfällen auf Märkte und einer Massenschlägerei in Moskau nach einer Niederlage der russischen Mannschaft bei der Fußball-WM empfindliche Haftstrafen gegen einige Anführer der rechtsextremen Szene erließen. Damals soll zudem der Inlandsgeheimdienst FSB die Kontrolle über einen Teil der rechten Strukturen übernommen und einen anderen Teil zerschlagen haben. Gleichzeitig gibt es Hinweise darauf, dass jener Vorfall während der WM aus Regierungskreisen provoziert wurde, um die Abstimmung über das geplante »Extremismusgesetz« zu beeinflussen.

Was mit ersten Angriffen von Fußballhooligans gegen Rechte in den eigenen Reihen begann, zog immer weitere Kreise. Nach wie vor stellen zwar Hooligans, darunter auch eine größere Gruppe armenischer Fans, den Großteil derer, die rechter Gewalt auf der Straße offensiv begegnen. Doch gleichzeitig entstanden aus einer politischen Motivation heraus weitere Gruppen aus dem anarchistischen Umfeld und in der Hardcore-Musikszene. Ihr Ziel war es, die zu dem Zeitpunkt schwindenden Kräfte der extremen Rechten zu binden und von deren bisherigen Zielgruppen, in erster Linie aus dem Kaukasus und aus Mittelasien stammende Händler, abzulenken.

Antifaschistischer Widerstand

Kaum von der Öffentlichkeit wahrgenommen, gibt es seit geraumer Zeit erfolgreiche Aktionen von AntifaschistInnen auf den Straßen Moskaus und St. Petersburgs. So auch am Abend des 4. Novembers 2005, als in Moskau etwa 3.000 und in St. Petersburg etwa 300 Anhänger verschiedener extrem rechter Parteien und Gruppen wie der Nationalen Großmachtspartei, des Eurasischen Jugendbundes, der Slawischen Union und weiterer Abspaltungen der Russischen Nationalen Einheit aufmarschierten. Aus dem Kreml sei im Vorfeld grünes Licht für den rechten Marsch signalisiert worden, kremlnahe Strukturen wie die vorgeblich1 antifaschistische Jugendbewegung »Naschi« (Unsere) bedienen sich zudem des extrem rechten Wachschutzes der Moskauer Fußballmannschaft, der »Gladiatoren«. Bürgerrechtler sprechen von 50.000 rechten Skinheads, russische Antifaschistinnen halten diese Zahlen hingegen für übertrieben.2 In Moskau gehörten maximal 400 Neonaziskins organisierten Kampfgruppierungen an, wobei ältere Gruppierungen wie die seit 1995 existierende »Vereinigte Brigade 88« seit Jahren mit einem Kern von nur 20 Leuten operieren und auch neuere Gruppen nur einen geringen Zulauf verzeichnen. Doch gibt es auch vorsichtigere Stimmen.

Derzeit erlebe die rechtsradikale Szene nach Meinung einiger aktiver Antifas einen sichtbaren Aufschwung. Viele ehemalige Aktive hätten die Bewegung zwar verlassen, geblieben seien jedoch die abgehärtetsten Neonazikader, die sich unter anderem hinter legalen Strukturen wie der »Bewegung gegen illegale Immigration« (DPNI) verschanzen. Gleichzeitig hat sich die rechte Musikszene neubelebt und den gängigen Trends angepasst. Mit Gruppen wie Clockworktimes, Reactor, Kowschi und Belyj kraj entstanden neue Ska-Punk und Oi-Bands, deren Konzerte nicht selten über 1.000 Fans anlocken und die teils, wie z.B. die Clockworktimes, eigene Schlägereinheiten unterhalten. Auch rein äußerlich machen sich die Veränderungen bemerkbar: Neonaziskinheads in Bomberjacken mit Hakenkreuzsymbolik sind zwar gelegentlich anzutreffen, die Masse der Skins und Boneheads kopiert indessen den Stil gewöhnlicher Fußballfans.

»Anti-Antifa«-Bestrebungen

Im vergangenen Sommer hatte eine Gruppierung mit dem Namen »Vereinigte Brigade 46« (OB 46) eine Internetseite eingerichtet und sich darauf mit anderer Bezeichnung als antifaschistisch zu erkennen gegeben. Ein anberaumtes Treffen zum »Kennenlernen« endete mit etlichen Verletzten bei den überrumpelten Antifas. Längst existiert eine organisierte »Anti-Antifa«, im Internet sind zahlreiche Fotos von Aktivisten und Aktivistinnen in erster Linie aus der anarchistischen Szene mit Namen veröffentlicht und mit Tötungsaufrufen versehen, Wohnadressen werden gegen Barzahlung bei der Miliz erstanden. Die ernstzunehmende Absicht derartiger Drohungen steht außer Zweifel. Im Sommer vergangenen Jahres wurde ein junger Antifaschist in Moskau ermordet, ein weiterer Antifaschist blieb nur mit Glück schwerverletzt am Leben, nachdem ihn rechte Skinheads in seinem Hauseingang abgepasst und mit Eisenstangen niedergeprügelt hatten. Mitte November schließlich starb Timur Katscharawa in St. Petersburg an den Folgen einer Messerattacke.

Jener Mord hatte die Gemüter mehr als sonst erregt und stark zur Verunsicherung der St. Petersburger Antifaszene beigetragen. Obwohl die Täter in diesem Fall außergewöhnlich schnell gefasst wurden, gibt sich in St. Petersburg niemand Illusionen hinsichtlich einer effektiven staatlichen Bekämpfung der aktiven Neonaziszene in der Stadt hin. Wo Moskauer Antifas gelegentlich gar von Sympathiebekundungen einzelner der rechten Schläger überdrüssiger Milizionäre berichten, werden der für die Untersuchung rechtsextremer Gewalt in St. Petersburg zuständigen 18. Milizabteilung zur Bekämpfung organisierter Kriminalität Affinitäten für die extreme Rechte nachgesagt. In der Vergangenheit wurden zwar immer wieder Urteile gegen Neonazis verhängt – so beispielsweise gegen den Anführer von »Schulz-88«, Dmitri Bobrow – doch wer einen Menschen mit nichtrussischem Pass ermordet, muss bislang jedenfalls nicht mit einer hohen Haftstrafe rechnen.

  • 1vorgeblich antifaschistisch, weil sie zwar gegen neonazistische Tendenzen vorgehen, aber der autoritären Putin-Regierung nahestehen
  • 2Entscheidend ist hier, ob man nur organisierte Neonazikader zählt oder auch gewalttätige rassistische Jugendliche und Anhänger der Russischen Nationalen Einheit (RNE) und der völkischen Kosakenbewegung, welche neonazistische Attacken forcieren.