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Eine Einschätzung des „Antifa Ost-Verfahrens“

Henning v. Stoltzenberg (Bundesvorstand der Roten Hilfe e.V.) (Gastbeitrag)
Einleitung

Am 31. Mai 2023 wurden vier Antifaschist*innen vor dem Oberlandesgericht Dresden (OLG) zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Den Angeklagten wurde vorgeworfen, in den vergangenen Jahren mehrere Neonazis angegriffen und eine kriminelle Vereinigung nach Paragraf 129 StGB gebildet zu haben. Die Hauptangeklagte Lina E., die bereits zwei Jahre und sieben Monate in Haft verbracht hatte, wurde zu fünf Jahren und drei Monaten verurteilt. Die Mitangeklagten erhielten Strafen von drei Jahren und drei Monaten, drei Jahren sowie zwei Jahren und fünf Monaten.

Das Oberlandesgericht in Dresden bei der Arbeit.
(Screenshot: youtube.com/@MDRInvestigativ)

Das "Antifa Ost-Verfahren" dauerte fast einhundert Verhandlungstage.

Das Verfahren dauerte fast einhundert Verhandlungstage und zog sich über einen Zeitraum von fast zwei Jahren hin. Der Prozess war erwartungsgemäß auf die Verurteilung der vier Antifaschist*innen gerichtet.

Mit der Verhaftung von Lina E. begann eine umfangreiche öffentliche Kampagne von Teilen der Medien und Politik, um die Angeklagten stellvertretend für die gesamte antifaschistische Bewegung zu dämonisieren. Der Prozess war begleitet von einer Vielzahl von offensichtlichen Ungereimtheiten bis hin zu politischen Skandalen.

So wurden während eines Prozesstermins im April 2022 Verstrickungen der Ermittlungsbehörde in rechte Netzwerke bekannt. MEK-Kommandoführer Mario W. machte in seiner Befragung als Zeuge vom Aussageverweigerungsrecht Gebrauch. Er begründete das damit, dass gegen ihn im Zusammenhang mit dem Munitionsskandal im Jahr 2018 ermittelt werde. Vier Jahre zuvor hatten MEK-Beamt*innen mutmaßlich eine unbekannte Menge an Munition gegen ein inoffizielles Schießtraining beim Betreiber eines Schießplatzes entwendet. Betreiber Frank T. zählt zum Kreis des rechtsterroristischen Netzwerks „Nordkreuz“. In den vergangenen Jahren waren immer wieder zentrale Personen des „Nordkreuz“-Netzwerks auf besagtem Schießstand „Baltic Shooters“.

Ein MEK aus Dresden, das im Verfahren mit Observationen betraut war, wurde im Zuge der Ermittlungen gegen die ursprünglich 17 Beamten aufgelöst. Die Generalstaatsanwaltschaft klagte drei Beamte wegen des Diebstahls von Dienstmunition an.

Die Aussage eines anderen Zeugen aus dem Neonazi-Milieu spricht für mindestens eine weitere Verbindung. Ein Beamter der SoKo „Linx“ hätte einen anderen Beamten vom LKA um Kontakt zu ihm gebeten, sagte dieser beim Prozess aus.

Dazu kommt, dass offensichtlich Informationen aus den Ermittlungsakten an mehrere Medien durchgestochen worden waren, zu denen auch die Rechtsaußenpostille "Compact" gehört. Gegen die Soko wurde dann auch ermittelt, der Leipziger Oberbürgermeister Burkhard Jung, die JVA Chemnitz und das LKA selbst stellten Strafanzeigen in diesem Zusammenhang.

Die Anwälte von Lina E. hatten erfolglos versucht, den Vorsitzenden Richter Hans Schlüter-Staats abzulehnen und für befangen zu erklären, nachdem er während eines Verhandlungstages erklärt hatte, es sei als Richter nicht seine Aufgabe, die Ermittlungsarbeit der Polizei zu überprüfen. Fragen der Verteidigung zur Herangehensweise der „Soko Linx“ hatte er nicht zugelassen. Dabei ging es um die Überprüfung der Neutralität und Unvoreingenommenheit der polizeilichen Ermittlungsgruppe, deren Arbeit die Grundlage für die Anklage war. Verteidiger Zünbül und Klinggräff attestierten der SoKo in einer Erklärung einen erheblichen Erfolgsdruck, der den Verlauf der Ermittlungen mitbestimmt und dazu geführt hätte, „aus einer Anzahl von Körperverletzungshandlungen eine kriminelle Vereinigung zu konstruieren“. Das Ergebnis sei ein politisierter Prozess, der unter den Bedingungen eines Terrorismusverfahrens vor einem Staatsschutz­senat stattfände. Beide Verteidiger vertraten die Auffassung, dass es sehr wohl zur Aufgabe des Gerichts gehöre, die Arbeit der Exekutive zu überprüfen. Der Vorsitzende hatte jedoch befunden, dass dies lediglich die Aufgabe der Dienstaufsicht und anderer Stellen sei, da es sich um Verwaltungsrecht handele. Den Verteidigern zufolge widerspricht diese Rechtsauffassung zentralen Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verfahrens. Das Gericht müsse nach dem Grundkonzept der Strafprozessordnung selber die Beweise erheben und würdigen. Dazu gehöre, die von Behörden vorgelegten Beweise und Indizien auf ihre Belastbarkeit zu überprüfen, damit auch Alternativhypothesen in den Blick genommen werden könnten.

Auch weitere Verteidiger*innen beschwerten sich über den Umgang und die Verfahrensweise des Richters. Laut Rita Belter war eine ungestörte Zeugenbefragung durch die Verteidigung quasi unmöglich. Es sei ein ständiger Streit um Verteidigungsrechte. Ständig wolle der Vorsitzende den Zeug*innen die Fragen erklären und gleich selbst weiter fragen, erklärte die Verteidigerin im Interview mit der Tageszeitung "Junge Welt". Eine gemeinsame Erklärung der Angeklagten sei nicht zugelassen und die Verlesung unterbrochen worden. Offenbar interessiere ihn als klassischen Vertreter der „Hufeisen-Theorie“ der Standpunkt der Angeklagten nicht. An einer Stelle hätte er die Angeklagten mit der SS verglichen und damit gezeigt, dass es mit seinem Geschichtsverständnis nicht weit her sei.

Eine besondere Dynamik gewann das Verfahren, als das LKA schließlich einen Kronzeugen präsentierte. Johannes D., selbst beschuldigt aber nicht angeklagt, machte umfangreiche Aussagen und belastete die Angeklagten schwer. D. war bereits seit einiger Zeit wegen sexualisierter Gewalt aus allen linken und antifaschistischen Zusammenhängen ausgeschlossen worden. Er wurde in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen. Seine Aussagen sollen mehrere hundert Seiten zum Verfahren umfassen. Der Komplex um den Kronzeugen löste eine notwendige Debatte über sexualisierte Gewalt aus, die in antifaschistischen Zusammenhängen, den Solidaritätsstrukturen sowie der „Roten Hilfe“ weiter anhält. Die Aussagen von D. blieben inhaltlich vage und konnten keine vermeintlichen Belege liefern, dennoch wurden sie von der Anklage als glaubwürdig gewertet. Dass den teils offensichtlichen Unwahrheiten und nachweislich widersprüchlichen Angaben diese zentrale Rolle in der Beweisführung zukam, zeigt, wie wenig reales Beweismaterial das OLG als Basis für das politisch gewollte Urteil für eine Verurteilung in der Hand hatte. Dies hinderte die Anklage nicht an einer derart hohen Verurteilung. D. konnte außerdem mit einer milderen Strafe rechnen, wenn er durch seine Aussage andere belastet. Er hatte also eine ganz klare Motivation, belastend auszusagen, was den Wahrheitsgehalt auch aus Sicht der Verteidigung zusätzlich in Frage stellt, wie Rechtsanwalt Einar Aufurth im Interview erklärte.

Die Urteilsbegründung dauerte fast neun Stunden und ließ zum Teil selbst anwesende Journalist*innen verständnis­los zurück. Detailliert wurden verschiedene vage Indizien aufgezählt, die sowohl für als auch gegen eine Beteiligung der Angeklagten an den zur Last gelegten Taten sprachen. Am Ende wurde fast jeder Tatkomplex mit den Worten „in der Gesamtschau hat das Gericht keinen Zweifel an der Tatbeteiligung“ abgeschlossen. Zwei Interpretationen des Gesagten in der Innenraumüberwachung von Fahrzeugen konnten durch die Verteidigung widerlegt werden. Dies reichte dem Gericht jedoch nicht aus, um die übrigen beiden als Indizien geltenden Gespräche infrage zu stellen. Im Gegenteil wurde erklärt, dass der Senat davon überzeugt sei, die Interpretation würde zutreffen.

Selbstverständlich legten die Angeklagten Revision gegen das Urteil ein. Der Bundesgerichtshof als zuständiges Revisionsgericht prüft das Urteil jedoch nur auf formelle Rechtsfehler. Eine Überprüfung der Beweise beziehungsweise der Beweiswürdigung findet hingegen nicht mehr statt. Auch die Bundesanwaltschaft legte Revision gegen die Urteile ein, vermutlich um noch höhere Haftstrafen durchzusetzen.

Mit weiteren Verfahren ist zu rechnen. „Soko Linx“ Leiter Dirk Münster kündigte bereits öffentlich an, das Verfahren sei erst der Anfang. Es gibt noch weitere Beschuldigte, gegen die bisher noch keine Anklage erhoben wurde. Dass es in diesem Zusammenhang noch weitere Verfahren geben wird, die in ähnlicher Art und Weise als politisches Großverfahren inszeniert werden, scheint die Absicht die Verfolgungsbehörden zu sein.

Daher bleibt es absolut essentiell, sich weiter mit den Betroffenen zu solidarisieren und öffentlich Position zu beziehen. Auch kommende Prozesse sollten genau beobachtet und kommentiert werden. Die zahlreichen großen und kleinen Protestaktionen und Kampagnen wie „Wir sind alle Antifa – Wir sind alle Linx“ haben dazu beigetragen, eine kritische Öffentlichkeit herzustellen. Zum Widerstand gegen einen zunehmend autoritär agierenden Repressionsapparat gehört außerdem eine entschlossene und politische Prozessführung von Verteidigung und Angeklagten, die sich trotz starker Repression und hohen Haftstrafen nicht haben einschüchtern lassen.