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Eine Welt auf der Flucht? Die Zukunft des Globalen Südens

Christian Jakob (Gastbeitrag)
Einleitung

Der Soziologe Ulrich Beck ist in den 1980er-Jahren mit der Behauptung berühmt geworden, die Risiken der modernen Industriegesellschaft seien so fundamental, dass sie alle gleichermaßen betreffen. „Smog ist demokratisch“1
, schrieb Beck damals. Er hatte ignoriert, wie sehr die gegenwärtigen und historischen Mechanismen der Ressourcenverteilung bestimmen, wer verwundbar ist. Heute ist dies sichtbarer denn je.

  • 1Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M., Suhrkamp 1986, S. 48.
(c) Duncan Rawlinson - Duncan.co
(Bild: flickr.com; Duncan Rawlinson - Duncan.co; CC BY-NC 2.0 Deed)

Smog ist nicht demokratisch. (Symbolbild)

„Wenn es um die Lebenswelt von Menschen geht, dann finden ja bereits Apokalypsen statt“, sagt Rolf Scheuermann vom Heidelberger „Centre for Apocalyptic and Post-Apocalyptic Studies“. Und zwar vor allem im Globalen Süden – mit Rekord-Dürren, Bränden, Überflutungen. Und während Menschen im Globalen Norden einen kommenden Untergang fürchten, dürfte sich anderen die Geschichte zeigen „als permanente Katastrophe, die Trümmer auf Trümmer häuft“1
, schreibt die Leipziger Gruppe Nevermore. „Der Notstand, der Ausnahmezustand, den sich die einen wünschen, diesen wissen die anderen als Zustand, in dem sie leben, als Regel ihres Daseins.“

Klimarassismus

Für all das können die Menschen vor Ort am wenigsten. Der Soziologe Ulrich Brand wies schon 2011 darauf hin, dass die EU ihre Umweltbelastungen zu einem großen Teil in den globalen Süden verschoben hat, um ihr eigenes Wohlstandsmodell zu sichern. Und so leiden „diejenigen, die am wenigsten dazu beigetragen haben, am stärksten unter dem Klimawandel“, sagt auch der Soziologe Matthias Quent2
, der 2022 den Band Klimarassismus3
veröffentlicht hat. Menschen im Globalen Süden seien stärker von Extremwetter betroffen, und gleichzeitig weniger gut in der Lage, sich dagegen zu schützen, weil die finanziellen Ressourcen dafür fehlen. „Schon jetzt sterben vor allem Schwarze Menschen, indigene Bevölkerungen und andere historisch diskriminierte Gruppen, sowie natürlich auch arme Menschen. Hier wie dort.“

So sind es keine „Naturkatastrophen“, an denen die Menschen im Globalen Süden sterben, sondern auch die Folgen des Kolonialismus. Gleichzeitig wollen die Länder der südlichen Hemisphäre denselben Wohlstand wie die westlichen Länder erreichen. Und während Staaten wie China und Indien dem Westen seine historische Emissionsverantwortung vorwerfen, zeigt dieser mit dem Finger auf steigende Emissionen in den Schwellenstaaten. Das ist die Gegenwart, in der Verantwortung hin- und hergeschoben, aber kaum übernommen wird.

Wie wird die Zukunft aussehen?

Der Geologe Parag Khanna hat 2016 eine damals bereits sieben Jahre alte Karte des britischen Magazins New Scientist veröffentlicht und sie damit berühmt gemacht.4
Sie zeigt, wie die Erde aussehen würde, wenn die Mitteltemperatur um vier Grad Celsius gegenüber dem Jahr 1900 ansteigt. Praktisch alles südlich einer Linie entlang der Südgrenze Kanadas, der Alpen und der Südgrenze Russlands ist dort als „unbewohnbar“ gekennzeichnet, von kleinen grünen Enklaven abgesehen. Das Bild dieser Karte hat sich massenhaft verbreitet.

Welche Folgen das konkret haben kann – darüber hat sich der Hamburger Historiker und Genozidforscher Jürgen Zimmerer Gedanken gemacht. Er fürchtet, dass „ethnische Säuberungen“ und Genozide deutlich zunehmen werden.5
Es gebe eine enge Korrelation zwischen Krisen und Gewalt, sagt Zimmerer. Die Geschichte der Genozide lasse sich auch als Geschichte von Krisen und Ressourcenkonflikten schreiben. „Im Kern kann die Klimakrise auch als Ressourcenkrise verstanden werden, mit einer bereits einsetzenden Verknappung von Land, das bewirtschaftet und bewohnt werden kann.“

Dies erhöhe die Wahrschein­lichkeit von Gewalt – individuell, indem jeder gegen jeden kämpft oder indem eine Gruppe gegen eine andere gewalttätig wird, diese entrechtet, vertreibt oder ermordet. „Der Übergang zum Genozid ist fließend.“ Er halte Konflikte mit Millionen Toten für möglich, sagt Zimmerer. „Mit der Größe der Krise steigt nicht nur die Wahrscheinlichkeit für genozidale Gewalt, sondern auch deren Dimension.“ Und wie man wisse, beeinflussten Konflikte kaskadenhaft auch die jeweils umliegenden Gebiete – und sei es durch Migrationsbewegungen.

Wie sehr Klimawandel und Migration zusammenhängen (werden), war 2022 Gegenstand des Berichts des UN-Weltklimarats IPCC: „Klima- und Wetterextreme treiben die Vertreibung in allen Regionen immer weiter voran.“6

Zahlen zur klimabedingten Vertreibung innerhalb des eigenen Landes bietet das Internal Displacement Monitoring Center (IDMC) der UN. Seit Beginn der Erhebungen 2012 zählt es zwischen rund 17 und rund 31 Millionen durch Katastrophen neu vertriebene Menschen pro Jahr.7
Zuletzt zwangen 2021 „wetterbezogene“ Katastrophen – etwa Fluten oder Stürme – demnach 22,3 Millionen Menschen, ihr Haus zu verlassen. Doch: Wer etwa wegen immer schlechterer Ernten umzieht, wird vom IDMC nicht erfasst – das gilt nicht als „Wetterkatastrophe“.

Klar aber ist: In Zukunft wird es mehr Vertriebene geben. 2023 kam die Weltbank zu dem Schluss, dass der Klimawandel bis 2050 etwa 216 Millionen Menschen dazu zwingen könnte, umzuziehen – allerdings innerhalb ihres eigenen Landes.

Es ist also von Binnenmigration die Rede. Doch was es in die Schlagzeilen schafft, sind dreistellige Millionenzahlen, die spätestens in den Köpfen vieler Leser:in­nen vor den Grenzen Europas imaginiert werden. Das macht Angst – und die schwingt immer mit, wenn heute über Grenzschutz gesprochen wird. So wird mit solchen Zahlen auch versucht, Akzeptanz für Abschottung zu schaffen.

Die Militarisierung der Grenzen sei zum Teil auf nationale Strategien zur Klima­sicherheit zurückzuführen, die seit den frühen 2000er-Jahren Klimaflüchtlinge überwiegend als „Bedrohung“ und nicht als Opfer von Ungerechtigkeit betrachten, schreibt das Amsterdamer Transnational Institute in einer Studie von 2021.8
„Diese ‚globale Klimamauer‘ zielt darauf ab, mächtige Länder gegen Migranten abzuschotten.“ Sieben der größten Treibhausgasemittenten der Welt würden demnach heute im Schnitt 2,3-mal so viel für die Aufrüstung der Grenzen ausgeben wie für Klimaschutz.

Das stärkste Missverhältnis weise demnach Kanada auf, das heute jährlich 15-mal so viel für die Grenzaufrüstung wie für den Klimaschutz ausgibt (1,5 Milliarden gegenüber rund 100 Millionen US-Dollar), gefolgt von Australien, (13,5-mal so viel - 2,7 Milliarden zu 200 Millionen US-Dollar) und den USA (11-mal so viel - 19,6 gegenüber 1,8 Milliarden US-Dollar). Gemeinsam mit Großbritannien, Japan, Deutschland und Frankreich haben diese Staaten seit 1850 zusammen 48 Prozent der weltweiten Treibhausgase ausgestoßen. Ihre Grenzschutzausgaben sind zwischen 2013 und 2018 um 29 Prozent gestiegen.

Gleichzeitig haben diese Länder ihre Versprechen zur Klimaschutzfinanzierung nicht eingehalten: Für die Jahre 2013 bis 2018 hatten die Regierungen dieser sieben Staaten im Schnitt jährlich rund 30 Milliarden Dollar für Grenzschutz bezahlt – fast genauso viel wie für den Klimaschutz. Doch laut der NGO Oxfam waren davon nur 14,4 Milliarden Dollar tatsächliche Ausgaben – beim Rest handelte es sich um Kredite für Länder des Globalen Südens.

Eine wachsende Anzahl von (Ex-)Führungskräften aus dem einen Sektor sitzt schon heute in Vorständen des jeweils anderen Sektors: In den Chefetagen von fünf großen Energiekonzernen, die auf fossile Ressourcen setzen, sind ehemalige Manager von Grenzschutzfirmen vertreten. 21 Unternehmen aus dem Grenzschutzbusiness wiederum haben aktive oder ehemalige Führungskräfte solcher Energieunternehmen in ihren Reihen.

(Der Artikel ist ein Vorabdruck aus „Endzeit. Die neue Angst vor dem Weltuntergang und der Kampf um unsere Zukunft“, Ch. Links Verlag, September 2023.)

  • 1Gruppe Nevermore, Mein Freund, der Untergang, S. 10, archive.org/details/Mein_Freund_der_Untergang.
  • 2Oliver Buschek: „‚Es sterben vor allem Schwarze Menschen, Indigene, historisch diskriminierte Gruppen sowie Arme‘“, Interview mit Matthias Quent, Bayern 2, 14.09.2022, www.br.de/radio/bayern2/sendungen/zuendfunk/das-buch-klimarassismus-am-….
  • 3Matthias Quent/Christoph Richter/Axel Salheiser: Klimarassismus. Der Kampf der Rechten gegen die ökologische Wende. München, Piper 2022.
  • 4Parag Khanna: „The World 4 Degrees Warmer“, www.paragkhanna.com/2016-3-9-the-world-4-degrees-warmer.
  • 5Petra Schellen: „Klimakrise begünstigt Genozide“, Interview mit Jürgen Zimmerer, taz, 22.04.2021, taz.de/Genozidforscher-ueber-Klima-und-Gewalt/!5768089.
  • 6IPCC: Climate Change 2022: Impacts, Adaptation and Vulnerability, Working Group II, 2022, report.ipcc.ch/ar6/wg2/IPCC_AR6_WGII_FullReport.pdf.
  • 7IDMC: Global Report on Internal Displacement 2022, www.internal-displacement.org/global-report/grid2022.
  • 8Todd Miller/Nick Buxton/Mark Akkerman: „Global Climate Wall. How the world’s wealthiest nations prioritise borders over climate action“, Transnational Institute, 25.10.2021, www.tni.org/en/publication/global-climate-wall