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Aufräumen des „Saustall Frankreichs“

Max Krause, Tanja von Fransecky (Gastbeitrag)
Einleitung

Vor 80 Jahren wurde in Marseille ein ganzes Stadtviertel, Saint Jean, im Zuge einer zweitägigen Razzia geräumt, seine über 20 000 Einwohner:innen interniert und deportiert und 1500 Häuser gesprengt. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich, ist dieses Verbrechen relativ unbekannt.

Abbildung: Sprengungen nahe des Hafens von Marseille, Februar 1943
(Bundesarchiv, Bild 101I-027-1481-29 / Vennemann, Wolfgang/CC-BY-SA 3.)

Sprengungen nahe des Hafens von Marseille im Februar 1943.

Am 29. Januar 2023 wurde des 80. Jahrestags der Zerstörung des Marseiller Hafenviertels Saint Jean/Port Vieux sowie der Internierung und Deportation der Einwohner:innen gedacht. Zu diesem Anlass wurde unter anderem im Hafen die Open-Air-Ausstellung „1943-2023. Rafles, évacuation et destruction. Marseille se souvient“ (1943-2023. Razzien, Evakuation und Zerstörung. Marseille erinnert sich) mit einer feierlichen Zeremonie vom Bürgermeister eröffnet. 

Für die Erinnerung an dieses Verbrechen sorgt das „Collectif St Jean, 24 Januar 1943“, das die Überlebenden, Familien und Nachkommen vereint, mit jahrelanger Unterstützung des Rechtsanwalts Pascal Luongo und des Historikers Michel Ficetola. „Es hat 80 Jahre gedauert, bis ein Bürgermeister und Minister gemeinsam die Ereignisse als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt haben“, sagte der Bürgermeister von Marseille, Benoît Payan. „Die Geschichte der Zerstörung der alten Viertel und der Razzien von 1943 steht nicht einmal in den Schulbüchern.“ Marseille habe damals als „Weltstadt, in der Menschen aller Identitäten miteinander in Kontakt sind“, all das dargestellt, „was die Nazis hassten“, sagte der linksgerichtete Bürgermeister. Auf Payans Initiative hin beging Marseille erstmals ein Gedenken in großem Rahmen, um an die Ereignisse im Januar 1943 zu erinnern. Diese seien „zu lange vergessen und fast aus unserem kollektiven Gedächtnis gelöscht“ worden.

Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Frankreich

Am 10. Mai 1940 marschierte die deutsche Wehrmacht in Frankreich ein und besetzte Teile des Landes. Südfrankreich blieb unbesetzt, deshalb flohen viele Menschen dorthin. Im südfranzösischen Vichy befand sich der Sitz der neugebildeten, nur formal unabhängigen, französischen Regierung für ganz Frankreich. Der französische Verwaltungsapparat und die Regierung unter Philippe Pétain arbeiteten unter der Aufsicht der deutschen Besatzer und erließen binnen kürzester Zeit sehr weitreichende antijüdische Gesetze und verfügten eine Ausweitung der Internierungen von in- und ausländischen Kommunist:innen und „feindlichen Ausländern“ auf jüdische und/oder politische Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich, spanische Franco-­Flüchtlinge und ehemalige Angehörige der internationalen Brigaden in verschiedene Lager.

Marseille: Hoffnung und Falle 

Gegen die Politik der Vichy-Regierung gab es vielfach Widerstand von unterschiedlichen Gruppierungen, etwa der kommunistisch geprägten FTP-MOI, der ebenfalls militanten Armée Juive oder dem Kinderhilfswerk OSE. Zudem waren in der unbesetzten Zone etliche Hilfsnetzwerke und - Komitees aktiv, die versuchten, Verfolgte außer Landes zu bringen. Viele Geflüchtete in Südfrankreich wollten der Internierung durch die französischen Behörden entkommen, indem sie versuchten von Marseille aus eine Schiffspassage nach Übersee zu ergattern. Das endlose Warten auf Ausreisepapiere auf unterschiedlichen Konsulaten und bei Hilfskomitees, Hoffnung, Fatalismus und Verzweiflung, schildert Anna Seghers, die selbst von Marseille aus nach Mexiko fliehen konnte, in ihrem Roman „Transit“ eindrücklich. 

Als alliierte Streitkräfte an der nordafrikanischen Küste anlandeten, fürchteten die Nationalsozialisten, die Alliierten könnten von dort aus eine Invasion in Südfrankreich vorbereiten und den Hafen von Marseille als Brückenkopf nutzen wollen. Um das zu verhindern marschierte die Wehrmacht und ein kleines italienisches Truppenkontingent am 11. November 1942 in Südfrankreich ein, besetzten es und begannen mit dem Bau von Verteidigungsanlagen entlang der Küste. Dadurch schnappte die Falle für viele Verfolgte weiter zu. Schiffe in die Freiheit verkehrten nun nicht mehr, es gab kaum noch Fluchtwege, die Grenze nach Spanien wurde von Gebirgsjägern bewacht. Die Besatzer veranstalten Razzien. Auch im von Migration und Armut geprägten Viertel Saint Jean.    

Großrazzien und Sprengung des Hafenviertels

Der "Reichsführer SS" Heinrich Himmler wies Carl Albrecht Oberg, damals Höherer SS- und Polizeiführer in Frankreich, an, er solle die Verhältnisse in Marseille radikal bereinigen. Am 22. und 23. Januar 1943 führte die Wehrmacht mit Unterstützung französischer Polizeikräfte im eng und verwinkelt bebauten und daher schwer zu kontrollierenden Hafenviertel Saint Jean Razzien durch.

Schwerbewaffnete Polizisten des Polizeiregiments Griese riegelten das Viertel ab, welches von Armut und Migration geprägt war. 20.000 Einwohner:innen wurden überwiegend in das Internierungslager in Fréjus verschleppt. Viele der Internierten wurden von dort in das KZ Sachsenhausen überstellt. 1642 weitere Festgenommene wurden in Güterwaggons in das Lager Compiègne gebracht, von wo aus die 780 Jüdinnen und Juden jeweils über Drancy in das Vernichtungslager Sobibór deportiert wurden.

Pioniereinheiten der Wehrmacht begannen am 1. Februar 1943 das Viertel Saint Jean zu sprengen und zerstörten etwa 1.500 Gebäude, um den Hafen militärstrategisch besser kontrollieren zu können.

Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Acht ehemalige Bewohner:innen des Viertels Saint Jean und ihre Nachkommen reichten 75 Jahre nach der Zwangsevakuierung und Zerstörung dieses Viertels am Alten Hafen Klage bei der Pariser Staatsanwaltschaft wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein. Der Anwalt Pascal Luongo, dessen Großvater aus dem alten Hafenviertel zwangsgeräumt worden war, ist federführend bei dieser Klage, die Taten aufführt, die sowohl in Marseille als auch in Fréjus und in Deutschland von 1943 bis 1945 begangen wurden. 

Die Anklage sei gerechtfertigt und sei bewusst weit gefasst und ziele auf alle Personen ab, die im Namen des deutschen oder des französischen Staates an diesen Übergriffen teilnahmen oder sich zu Kompliz:innen gemacht haben. Er benennt die Zahl  der an der Operation beteiligten französischen Polizisten auf 10.000. Er sagte, es sei unwahrscheinlich, dass die Untersuchung einen Verantwortlichen finden wird, der noch lebt, aber es sei ein erster Schritt. Der nächste Schritt sei, dass der französische Staat seine Verantwortung für die Ereignisse anerkenne und dass die Razzien von Marseille in den Lehrplan der Schulen aufgenommen würden.

Kollektive Erinnerung

Es könnte zwei Gründe dafür geben, dass dieses Verbrechen aus dem kollektiven Gedächtnis fast verschwunden ist: erstens die Beteiligung von schätzungsweise 10.000 französischen Polizisten und Kollaborateuren, zweitens könnte die Zerstörung des Viertels dem Interesse der Stadt Marseille und Immobilien-Spekulant:innen entgegen gekommen sein. Bekannt ist nämlich, dass es seit den 1930er Jahren Pläne gab, die vorsahen, dieses Viertel neu zu organisieren. 

Es wäre zu wünschen, dass die Gedenkausstellung, die begleitet von einem beachtlichen Rahmenprogramm in Marseille zu sehen gewesen ist, weiterhin einer großen Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird und die Diskussionen und kritischen Auseinandersetzungen Früchte tragen, was das Erinnern dieses Ereignisses anbetrifft. 

Link zum Dokfilm auf youtube: Marseille, 1943 : le crime oublié • FRANCE 24

https://vimeo.com/562808023 

(französisch & englischer Untertitel)

Aus der schriftlichen Weisung von Heinrich Himmler an Carl Oberg vom 18. Januar 1943 (Dokumentation):

„1. Verhaftung der großen Verbrechermassen von Marseille und deren Abfuhr in KL, am besten nach Deutschland. (...)

2. Radikale Sprengung des Verbrecherviertels

Ich wünsche nicht, daß deutsche Menschenleben im Kampf in den unterirdischen Gängen und Höhlen aufs Spiel gesetzt werden. Diese Unterstadt von Marseille ist durch Fachleute zu sprengen, und zwar in der Form, daß allein schon durch den Explosionsdruck die darin Wohnenden zugrunde gehen.

3. Die französische Polizei und „Garde mobile“ hat sich in größerem Umfang daran zu beteiligen. Der Saustall in Marseille ist ein Saustall Frankreichs. Lediglich die Tatsache, daß wir aus militärischen Gründen dort Ruhe haben müssen, veranlaßt mich, diesen Saustall auszuräumen.“ 

(zitiert nach: Europa unterm Hakenkreuz. Frankreich, Dokumentenedition, VEB Deutscher Verlag der Wissenschaft, Berlin 1990, S. 255)