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Zwischen Verdrängung und Aufarbeitung

Steffen Hänschen
Einleitung

Das Verhältnis zum Holocaust in Polen

Jährlich organisiert das Bildungswerk Stanislaw Hantz Studienreisen zu den Stätten des Holocausts in Ostpolen1 . Die TeilnehmerInnen werden auf dieser Reise über die »Aktion Reinhardt« informiert, also die Vernichtung der osteuropäischen Jüdinnen und Juden 1942-43. Daneben ist sie immer auch ein Lehrstück über den Umgang der örtlichen Bevölkerung mit der Geschichte der Orte, in denen sie leben. Eine Station der Reise ist das ehemals jüdische und heute polnische Städtchen Izbica, das 1942 als Transitgetto für deportierte Jüdinnen und Juden benutzt wurde. Während des letztjährigen Rundgangs durch das ehemalige Getto parkte der Bus am Marktplatz so, dass er nur über einen (neu angelegten) Grünstreifen erreicht werden konnte. Als die Teilnehmerinnen wieder in den Bus steigen wollten, blieb die Reaktion der umstehenden Bevölkerung nicht aus.
Sie griffen zu scharfen Schimpfwörtern, um ihrer Empörung Ausdruck zu verleihen, dass über den Rasen gelaufen wurde: »Haut ab, ihr Juden« Rufe wurden laut. Die TeilnehmerInnen waren schockiert, aber man hatte schon mit dergleichen gerechnet - alle hatten schon von dem verbreiteten Antisemitismus in Polen gehört.
Verwahrloste Massengräber, unfreundliche Reaktionen der örtlichen Bevölkerung und Verdrängung der Vergangenheit sind Elemente eines oft schockierenden Eindrucks, den man auf dieser Reise bekommt. Glücklicherweise ist dieses aber nur die eine Seite der Realität. So gibt es auch immer wieder Menschen, die interessiert sind und nach dem Ziel des Besuchs fragen. In den letzten Jahren hat das Bildungswerk nach und nach Kontakte zu verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen aufgebaut, um das Verbrechen der Deutschen und die Erinnerung an die Toten zu thematisieren. Im letzten Jahr wurde in diesem Rahmen gemeinsam mit der Schule von Izbica ein Wettbewerb für SchülerInnen ausgeschrieben. Nach dem Erlebnis auf dem Marktplatz in Izbica ist die letztjährige Gruppe in die örtliche Schule zu Kaffee, Kuchen und einem Gespräch eingeladen worden.

Die "Alte Synagoge" (Synagoga Stara) im einstmals jüdischen Stadtteil Kazimierz in Krakau.

Diese widersprüchliche Situation in Bezug auf die Erinnerung an den Holocaust ist in ganz Polen zu finden. Einerseits nimmt das Interesse an der Thematik stetig zu. So besuchen mittlerweile täglich hunderte von Menschen die Gedenkstätte auf dem Gelände des ehemaligen Vernichtungslagers Belzec. Fast vergessen verwahrloste das Gelände jahrzehntelang, bis der polnische Staat vor kurzem mit Geldern des Holocaust Museums in Washington eine neue Gedenkstätte errichtete. Für einen Teil der polnischen Bevölkerung wurde die Auseinandersetzung mit der Shoah seit der politischen Wende 1989 zu einem wichtigen Bestandteil einer eigenen Identitätsfindung, und man begab sich auf die Suche nach der jüdischen Geschichte der eigenen Orte. SchriftstellerInnen wie Hanna Krall, Henryk Grynberg oder Piotr Szewc kannten keine Hemmungen, sich da- bei auch mit der Mitverantwortung Polens an dem Massenmord zu beschäftigen.

Tradition des polnischen Antisemitismus

Auf der anderen Seite übt der klerikale Antisemitismus, der tief im Alltagsleben verankert ist, weiterhin einen großen Einfluss auf die polnische Gesellschaft aus. In einer Umfrage vom August 1999, die die Einstellung der Polen zu den nationalen Minderheiten des Landes und zu den benachbarten Nationen betraf, erklärten 35 Prozent der Befragten, sie hätten eine negative bis feindliche Einstellung zu Juden1 . Im klerikalen Radio Maria, das etwa 4 Millionen ZuhörerInnen hat, wird regelmäßig auf antisemitische Stereotypen zurückgegriffen; Zeitschriften mit rassistisch-antisemitischen Inhalten wie Nowa Mysl Polska, Nasza Polska, Glos und Naszym Dziennikiem sind in fast jedem Kiosk erhältlich. Der Begriff der »Judenkommune« (Zydokomuna) ist ein beliebtes Schimpfwort für unliebsame Kritiker der eigenen Politik.
Diese zwei Tendenzen in der polnischen Bevölkerung haben Tradition. Zentrale Träger des polnischen Antisemitismus vor 1939 waren zunächst die rechten Nationaldemokraten, deren Antisemitismus sich religiös und ökonomisch begründete. In der katholischen Kirche vermischten sich Gottesmörder-, Ritualmord- und Wuchervorwürfe mit modernem nationalistischen Antisemitismus. Mit der deutschen Besatzung fand die antisemitische Stimmung ihren Ausdruck in den zahllosen Kollaborateuren, Spitzeln und einer passiven Haltung der Bevölkerung, ohne die der reibungslose Ablauf der Vernichtung nicht hätte stattfinden können. Andererseits gab es aber auch viele, die unter Einsatz ihres Lebens jüdische Menschen versteckt hielten.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war, dem Leiter des Jüdisch Historischen Instituts (ZHI) in Warschau, Feliks Tych, zufolge, der Antisemitismus in Polen größer als zuvor. Ähnlich wie in anderen Ländern hatten die Jahre der faschistischen Propaganda ihre Spuren hinterlassen. Allerdings äußerte sich dies in Polen, dem Land, in dem Millionen Jüdinnen und Juden aus ganz Europa ermordet wurden, in besonders offener und brutaler Weise. Das zeigt beispielhaft das Kielcer Pogrom vom Juli 1946. Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs fielen damals in der Stadt Kielce dem polnischen Pöbel über 40 jüdische Menschen zum Opfer.
Um das Phänomen des bis heute fast ungebrochenen starken Antisemitismus der polnischen Bevölkerung zu verstehen, ist ein Blick auf die kommunistische nationalistische Nachkriegspolitik unvermeidlich. Diese stellte das polnische Leiden während des Krieges in den Mittelpunkt ihrer Erinnerungspolitik und tabuisierte den Massenmord an den Jüdinnen und Juden. Die Stätten des Holocausts gerieten größtenteils in Vergessenheit oder wurden, wie Auschwitz, umgedeutet zum Symbol des Martyriums des polnischen Volks und seines Widerstands gegen die NS-Besatzung. Die Vernichtung von Jüdinnen und Juden passte nicht in das Konzept »polnischer« nationaler Identität, und noch viel weniger die Mitschuld kollaborierender Polen. Der kommunistische Staat ging allerdings noch weiter und benutzte den stark verbreiteten Antisemitismus zur Festigung der eigenen Herrschaft. Er verband die traditionellen antijüdischen Feindbilder der katholischen Bevölkerung mit dem des »jüdischen Kommunisten«, um so »schlechte« Kommunisten bloßzustellen, Protestbewegungen zu integrieren und der Bevölkerung eine »Reinigung« des Staates glaubhaft zu machen. Dieses eignete sich gut, um z.B. die Warschauer Studentenunruhen 1968 in den Griff zu bekommen. Die staatliche Antwort auf die Proteste damals war die Schaffung einer antisemitischen Pogromstimmung, die ideologisch als »Antizionismus« getarnt wurde und in deren Lauf massenhaft jüdische Menschen ihre Arbeit verloren, sozial isoliert und aus dem Land vertrieben wurden.

Der Fall Jebwabne - Wendepunkt polnischer Erinnerungskultur

Erst die politische Öffnung 1989 schuf die Voraussetzungen für eine öffentliche Auseinandersetzung um Antisemitismus, Erinnerung und Mitschuld. Diese Möglichkeit wurde allerdings lange nicht genutzt, und nur langsam verändern sich die Stereotypen in der Grundhaltung der Gesellschaft. Einen Wendepunkt brachte die im Jahr 2000 vom Politikwissenschaftler Jan Tomasz Gross veröffentlichte Studie »Nachbarn«. In dieser Studie wird beschrieben, wie die polnische Bevölkerung Jedwabne's, einem kleinen Ort bei Bialystok, am 10. Juli 1941 unter den zustimmenden Blicken der deutschen Besatzer ihre jüdischen Nachbarn in einer Scheune zusammentrieben und verbrannten. Nachdem der Text ein halbes Jahr von den Medien ignoriert worden war, rief er heftige Kontroversen in der polnischen Öffentlichkeit hervor. Der Historiker Jerzy Jedlicki schrieb 2001 in der Zeitschrift Polityka: »Es gibt wahrscheinlich in Polen kein zweites historisches Thema, dass, trotz der verstrichenen Zeit, so stark die versteckte Seite einer moralischen Empfindsamkeit oder Ressentiments bewegte.«2 Die Sprengkraft der Studie lag darin, dass sie das Selbstbild der Polen in Frage stellte, oder wie es der Journalist Marcin Kral ausdrückte, »bedeutet es das Ende der Möglichkeit, in Polen in einer bestimmten, traditionsbetonten Weise sich selbst zu betrachten«. 3 Sie legte den Widerspruch zwischen einem lange Jahre hindurch staatlich propagierten Märtyrertum der Polen und der Mitverantwortung derselben Menschen am Mord an den jüdischen Nachbarn offen. Die Zerrissenheit der polnischen Gesellschaft zeigte sich deutlich. Rechte, kirchliche Kräfte versuchten, den identitätsstiftenden Mythos von der nationalen Unschuld und der schicksalhaften Opferrolle des polnischen Volkes zu bewahren. Sie bezeichneten die Ergebnisse der Untersuchung von Gross als erlogen und griffen zu antisemitischen Stereotypen, indem sie z.B. behaupteten, die Studie ziele darauf, Geld von Polen zu erpressen. Die Bewohner von Jedwabne gründeten unter dem Vorsitz ihres Pfarrers ein Komitee zur Bewahrung des guten Bildes der Gemeinde. Dass diese Zerrissenheit vor keiner gesellschaftlichen Gruppe halt machte, zeigte auch das Beispiel von Adam Cyra, einem Mitarbeiter der Staatlichen Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau: Er versuchte, das Ansehen eines der Mörder vom 10. Juli 1941, Jerzy Laudanskis, wiederherzustellen. Schließlich sei er ja politischer Häftling in Auschwitz, Groß-Rosen und Sachsenhausen gewesen und stamme aus einer geschätzten patriotischen Familie.
Die Debatte um Jedwabne zeigte die Gespaltenheit der polnischen Gesellschaft auf drastische Art und Weise. Nur schwer konnte oberflächlich ein gesellschaftlicher Konsens hergestellt werden: Zum Jahrestag des Pogroms 2001 wurde in Jedwabne ein neuer Gedenkstein aufgestellt, und Präsident Kwasniewski entschuldigte sich für das begangene Unrecht. Allerdings schickten weder die katholische Kirche noch die Regierung einen offiziellen Vertreter, und der Bürgermeister sowie der Vorsitzende des Stadtrats von Jedwabne traten nach der Trauerfeier zurück, da sie gegen den Willen der Mehrheit der Stadtverordneten an ihr teilgenommen hatten.
Mittlerweile ist die Debatte um Jedwabne aus der täglichen Agenda Polens wieder verschwunden, aber die Intensität. mit der sie geführt wurde, zeigte das Bedürfnis vieler Polen, sich mit diesem lange tabuisierten Teil ihrer Geschichte zu befassen. Dass dieses ungebrochen ist, zeigen zum Beispiel die hohen Besucherzahlen der Stätten der Vernichtung in Ostpolen.

Gedenktage und die polnisch-russischen Beziehungen

Unzweifelhaft ist aber die Notwendigkeit weiterer Auseinandersetzungen. Ein Beispiel dafür waren die Feiern zum diesjährigen 60sten Jahrestag der Befreiung von Auschwitz am 26.-27.1. Der Umgang mit den Feierlichkeiten schien in der polnischen Öffentlichkeit mit Problemen behaftet. Zum einen ist da die Stadtverwaltung von Auschwitz, die sich vor allem um den guten Namen der Stadt sorgt. Auch wenn zehntausende Besucher erwartet wurden, berichtete die Presse über dieses Ereignis lange nur unter dem Fokus der polnisch-russischen Beziehungen. Ähnlich auch die linken, anarchistischen Teile der politischen Szene. Ihr Interesse an den Gedenkfeierlichkeiten begrenzte sich auf die Anreise Putins. Sie organisierten Protestaktionen gegen die Teilnahme des russischen Präsidenten, da er als »Verantwortlicher des Völkermords in Tschetschenien nicht die Opfer des Nazismus ehren solle«. Natürlich stellte sich den Organisatoren die Frage, ob die Gedenkfeierlichkeiten in Auschwitz der richtige Anlass für die Proteste gegen Putin seien. Auch, dass noch andere Regierungsvertreter nach Polen kamen, unter anderem der Präsident Israels Kacav, Dick Cheney als Vertreter der amerikanischen Regierung, der polnische Präsident Kwasniewski u.a., wollte man nicht außer Acht lassen. Und so wurde der Protest auch auf Kacav ausgeweitet, der die Palästinenserpolitik Israels und den Bau der Mauer in Israel symbolisiere.4 Auch wenn die OrganisatorInnen ihren Protest bewusst nicht antiisraelisch sondern pro-palästinensisch gestalten wollten, und im Aufruf ausdrücklich ihre Verbundenheit mit den Gedenkfeierlichkeiten ausdrückten, machten gerade die Beteuerungen der Solidarität mit den Opfern von Auschwitz ihre distanzierte Haltung deutlich. Sie bestätigten mit ihrem Vorgehen den Eindruck, dass in der Linken Polens ein Bedürfnis nach einem eigenen Gedenken an die Shoah, der 10 Prozent der polnischen Bevölkerung zum Opfer fiel und die auf polnischem Boden stattfand, nicht besteht. Eine Kritik an der Teilnahme Putins hätte sicherlich eine völlig andere Tragweite gehabt, wenn diejenigen, die sie formulierten, selbst Interesse an den Gedenkfeierlichkeiten gezeigt hätten. Sie waren aber nichts weiter als ein willkommener Anlass, der sich gut für die eigenen Ziele eignete. Deutlich zeigte sich dieses auch an der inhaltlichen Mobilisierung, deren Plakate Putin und die Kaukasuspolitik mit Auschwitz gleichsetzten. Solche Vergleiche sind nicht nur geschmacklos, sondern auch ignorant in einem Land, in dem Antisemitismus zum Alltag gehört. Bezeichnend war auch die Veröffentlichung eines Aufrufs zu den Protestaktionen auf einer linken Internet-Infoseite, in dem der Name Israels mit zwei ,SS' geschrieben wurde. Ihn nicht vom Netz zu nehmen und vielleicht erst gar nicht zu bemerken, dass ein Vergleich von Kacav mit der SS mehr als makaber ist, zeigt den Stand der Debatte um den Holocaust in der linksradikalen Szene auf drastische Weise.

Steffen Hänschen ist Dozent für Deutsch als Fremdsprache und Mitarbeiter beim Bildungswerk Stanislav Hantz; er promoviert über neue polnische Literatur und lebt in Berlin.
 

  • 1Gazeta Wyborcza, 14.9.1999.
  • 2Jerzy Jedlicki. »Jak sie z tym uporac«. Polityka 2001, Nr. 6.
  • 3Marcin Król, Pawel Spewak, Marek Zaleski. »Gedächtnis und Geschichte«. Res Publica Nowa, Juli 2001.
  • 4Siehe: http://www.putin.most.org.pl