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Wurzen - Zentrum der neonazistischen Formierung im Muldentalkreis

Einleitung

Im Muldentalkreis (östlich von Leipzig) und speziell in Wurzen gibt es eine straffe Organisierung neonazistischer Gruppierungen und »Kameradschaften«. Sie sind vernetzt und rekrutieren Nachwuchs unter Jugendlichen, die in »Jungstürmen« zusammengefaßt werden. Die örtlichen »Kameradschansführer« aus Wurzen, Grimma, Oschatz, Gerichshain, Delitzsch, Torgau etc. haben persönliche Kontakte zu Kadern verbotener Neonaziorganisationen wie der FAP, der NF und der "Wiking Jugend". Die neonazistische Formierung vollzieht sich im Muldentalkreis (fast) reibungslos. Eine »Aktionsfront Muldental« hat sich gebildet, die inzwischen auf ein Potential von etwa 300 schnell mobilisierbaren, gewaltbereiten Neonazis zurückgreifen kann.

Um diese Entwicklungen genauer nachvollziehen zu können, muß ein Blick auf die »Jugendpolitik« des Kreises geworfen werden. Gerade am Beispiel Wurzen läßt sich aufzeigen, wie Stadtverwaltung, Repressionsinstanzen und nicht zuletzt betroffene Jugendliche selbst einen Anteil an der jetzigen Situation beigetragen haben.

Bereits zu Beginn der 1990er Jahre geriet die 18.000 EinwohnerInnen zählende Süßwarenindustriestadt Wurzen in die Schlagzeilen. In der Nacht zum 24. August 1991 – also parallel zum Pogrom von Hoyerswerda - wurde eine Flüchtlingsunterkunft gestürmt; die Flüchtlinge flohen daraufhin zurück nach Hessen. Auch in Torgau, Bennewitz und anderen Orten der Region wurde immer wieder gewalttätig gegen ausländische Menschen und Linke vorgegangen. Seit spätestens 1993 galt der Muldentalkreis als einer der Schwerpunkte der neonazistischen "Wiking Jugend" in Sachsen.

Die Entwicklung

Im Mai 1991 besetzten 30 junge Leute unterschiedlicher politischer Richtungen gemeinsam ein Haus in Wurzen. »Uns ist inzwischen bewußt geworden, daß eine permanente gewalttätige Links-Rechts-Auseinandersetzung keinen Sinn hat«, ließen die BesetzerInnen verlauten und kamen damit dem Bestreben des Wurzener Bürgermeisters Anton Pausch entgegen, daß wenn schon Geld für Jugendliche ausgegeben werden müsse, dann bitteschön alles unter einem Dach.

Die Stadtverwaltung einigt sich mit den BesetzerInnen, daß das Haus geräumt und dafür Gebäude eines ehemaligen Schwimmbades, dem »Goldenes Tälchen«, als Jugendhaus zur Verfügung gestellt werden. Im Januar 1992 ist es fertig renoviert. Nach Schlägereien vor dem Jugendhaus sorgt dessen »Macher« Tilo F. dafür, daß die Punkbands ihren Probekeller im Haus verlassen müssen. Als Vorwand dienen angeblich unterschiedliche »Hygiene-Vorstellungen«. Die Musiker richten sich in einem Nebengebäude ein. Nachts wird ein Dachträger von Neonazis zersägt, das Gebäude wird daraufhin baupolizeilich geschlossen. Als sich Drohungen der Neonazis gegen die linken Bands häufen, werden diese durch den Jugendhausvorstand aus dem Haus geschmissen: »Da wir aufgrund der eskalierten Situation zwischen einzelnen Banden (!) innerhalb der Stadt Wurzen für die Sicherheit unserer Gäste nicht garantieren können, macht sich diese Entscheidung notwendig«, heißt es in einem Schreiben des Vorstandes an die Musiker im Oktober 1992.

Die Linken gründen den Verein IG Rock und nutzen fortan die »Villa Kunterbunt« als Jugendtreff und für Konzerte. Das Land Sachsen unterstützt die Villa mit Fördermitteln, die Stadt denkt an den Ankauf des Anwesens. Nach Krawallen während eines Konzertes mit etwa 1.000 BesucherInnen im Juli 1994 ändert sich die wohlwollende Haltung der Stadt gegenüber der Villa. Das »Goldenes Tälchen« schließt Anfang 1994 die Tore, weil es kaum mehr genutzt wird.

»In Wurzen existiert kein Problem mit rechten Jugendlichen...« läßt der Wurzener Bürgermeister Anton Pausch (CDU) Ende August 1994, nach einem Überfall von circa 40 Neonazis auf ein besetztes Haus, verlauten. Trotz vereinbarter »Sicherheitspartnerschaft« mit der Polizei verläßt die vor dem Haus postierte Streife laut Augenzeugenberichten eine halbe Stunde vor dem Angriff den Ort. Eine andere Streife verweigert demnach die Hilfe mit der Begründung, es gäbe keinen Einsatzbefehl. Das neu besetzte Haus ist nach dem Angriff ein Trümmerhaufen. Die BesetzerInnen verlassen es »freiwillig«. Zwei Monate später wird eine Gruppe portugiesischer Bauarbeiter in ihren Wohncontainern von 50 Rechten überfallen. Sofort eintreffende Polizisten werden angegriffen, ein Polizist wird verletzt. Die Empörung ist groß, internationale Zeitungen berichten über den Vorfall. Auf einer städtischen Veranstaltung zu den Ausschreitungen finden sich neben Vertretern der Polizei und Bürgermeister Pausch auch ca. 30 Neonazis ein. Auch Tilo F. ist anwesend. Als Sprecher der Rechten tritt Marcus Müller auf und macht die Repression durch Staat und Linke verantwortlich für die Eskalation der rechten Gewalt gegen die Arbeiter. Es wird ein Haus für rechte und »normale« junge Leute gefordert.

Stadtverwaltung und Polizei erkennen einen fragwürdigen "Handlungsbedarf": Die portugiesischen Arbeiter verlassen Wurzen und die neonazistischen Jugendlichen bekommen von der Stadt zur Belohnung die »Baracke« zur Nutzung versprochen, damit sie einen Treffpunkt haben.  Es kommt zum Prozeß gegen einige der Täter. Peer M. wird wegen schwerer Körperverletzung an einem Beamten für ein paar Monate in Haft geschickt, andere erhalten Bewährungsstrafen. Anfang Januar 1995 wird die »Baracke« eröffnet und entwickelt sich zum Treffpunkt der Neonazis aus der Region.

Polizei und Neonazis – Zwei Wege, ein Ziel ?

Mit der Inbetriebnahme des Clubs eskaliert die Gewalt gegen Linke und AntifaschistInnen in der Stadt. Knapp eine Woche nach Eröffnung, in der Nacht zum 23. Januar 1995 wird ein von fünf linken Jugendlichen bewohntes Haus Ziel eines Angriffes. Am gleichen Abend findet im nahen Waldheim ein Treffen der »NS-Kameradschaft Mitteldeutschland« statt. Die BewohnerInnen werden schwer verletzt. Nach dem Überfall finden sich Projektile in den Wänden der Wohnungen. Die Polizei soll laut Augenzeugenberichten nach dem Überfall keine Anzeigen entgegengenommen und keine Beweise gesichert haben.

Am darauffolgenden Abend wird ein junger Mann in der Nähe der sog. „Glatzendisko“ »JOY« durch einen Kopfschuß verletzt und zusammengeschlagen. Die Neonazis lassen von ihrem Opfer auch dann nicht ab, als sich ein Streifenwagen nähert und die Besatzung aussteigt. Blutüberströmt kriecht der Verletzte zum Polizeiwagen. Auch hier sind die Berichte drastisch: Der Zutritt zum Auto wird ihm demnach wegen des vielen Blutes verwehrt, er muß sich vor den Wagen legen. Währenddessen sollen sich die Beamten mit den Tätern unterhalten haben ohne ihre Personalien festzustellen. Der Jugendliche liegt mehrere Wochen im Krankenhaus und erstattet Anzeige wegen unterlassener Hilfeleistung gegen die Polizisten. Der Vater des Wurzener »Kameradschaftsführers« Marcus Müller ist auffallenderweise Polizist.

Marcus Müller, der sowohl bei dem Angriff auf die portugiesischen Arbeiter als auch auf das von Linken bewohnte Haus dabei war, nimmt bereits Anfang 1990 an einer DVU-Wahlveranstaltung teil. In diesem Jahr zieht er mit zwei weiteren Neonazis, Oliver A. und Peer M. nach Wermelskirchen bei Köln. Dort organisiert er mehrere Angriffe auf AusländerInnen und Linke und auf das "Autonome Jugend Zentrum" (AJZ). Im Januar 1991 wird er im Zusammenhang mit der DVU-Veranstaltung wegen Mitführens einer Waffe zu einer Geldstrafe verurteilt. Marcus Müller nimmt an mehreren Schulungen der "Nationalistischen Front" (NF) teil und knüpft vielfältige Kontakte, u.a. zu dem "Wiking Jugend"-Aktivisten Dirk B. aus Burscheid. Im Sommer 1991 zieht er nach Wurzen zurück und etabliert sich schnell als »Kameradschaftsführer«. Er hat Verbindungen zu Neonazis aus Leipzig, NF'Iern aus Halle und anderen regionalen »Kameradschaftsführern« wie Thomas J. aus Grimma. Für die Neonazi- Szene nimmt er an dem Treffen »Runder Tisch der Jugend« teil.

Zu einem ersten Gespräch im Februar 1995 waren fünf linke Jugendliche eingeladen; ihnen gegenüber saßen mehrere Dutzend Neonazis, Stadträte, ca. einhundert Eltern und der Bürgermeister. Zwei Tage nach diesem Treffen stürmen Polizisten die linke "Villa Kunterbunt" und beschlagnahmen die gesamte Schutzbewaffnung. Die Linken zeigen sich zu »Friedensgesprächen« bereit, sie vereinbaren im Rahmen des »Runden Tisches« sog. 5:5-Gespräche mit dem Ziel, nach zwei Jahren des Terrors eine Atempause zu erlangen. Von Seiten der Neonazis sind u.a. Tilo F., Thomas J., Marcus Müller und Rocco M. anwesend. Ihr Ziel ist es, Tilo F. einen Sitz im Stadtjugendring zu verschaffen. Verantwortliche Stellen in Stadtverwaltungen und sächsischer Innenbehörde verharmlosen die Situation in der Region. In kaum einer Kleinstadt im Muldentalkreis leben linke und ausländische Menschen ungefährdet.

Auch Teile der Polizei sollen laut Augenzeugenberichten rabiat gegen Linke vorgehen. So soll ein linker Jugendlicher nach einer Auseinandersetzung von zwei Polizisten unter dem Vorwand des "Schutzes" in einem Streifenwagen mitgenommen und auf einem Parkplatz in Handschellen geschlagen worden seien. In den frühen Morgenstunden wurde er demnach mit Schädelhirntrauma, Blutergüssen am Kopf, Platzwunden und Prellungen aus dem Torgauer Revier entlassen. Die Anfrage der PDS im Sächsischen Landtag - »Wurzen - Polizei und Kommune unterstützen rechte Kameradschaft« - wird abgeschmettert. Wurzen nehme »keine besondere Schlüsselrolle in der rechtsradikalen Szene in der Umgebung ein". Die Linken stellen die Gespräche mit den Neonazis ein. Am 20. Mai 1995 demonstrieren Linke und AntifaschistInnen gegen die neonazistische Formierung in Wurzen und im Muldentalkreis. Tags drauf gibt es einen Brandanschlag auf die "Villa Kunterbunt". Nach der Kündigung des Nutzungsvertrages wird das Haus am 11. Juli 1995 von der Polizei geräumt. Linke und antifaschistische Jugendliche stehen jetzt gänzlich ohne Raum da.

Die Jugendarbeit der „Glatzenmutter“

Die CDU-Kreistagsabgeordnete Katharina Kämpfe, die sich selbst als »Glatzenmutter« bezeichnet haben soll, entdeckte nach dem Angriff auf die Flüchtlingsunterkunft im August 1991 ihre sozialarbeiterischen Fähigkeiten und nahm sich Wurzens rechtem Nachwuchs an. Als Leiterin eines Behindertenwohnheimes in Hohburg lud sie »ihre Kids» dorthin zum Essen ein, machte ihnen Geschenke und gab vor Gericht günstige Sozialprognosen für sie ab. Im Sommer 1992, nach einer Finanzüberprüfung bei der Behinderteneinrichtung, die das Fehlen von Belegen für zehntausende von Mark zutage förderte, wurde sie ihres Leitungspostens enthoben, verlor ihre Funktion als CDU-Kreisrätin und als Gemeindevorsteherin in Hohburg.

Auch den Verbleib von ca. 14.000,-DM vom sächsischen Kultusministerium für die "sozialpädagogische Betreuung" einer von ihr mit initiierten Rumänienreise Wurzener Jungneonazis im April 1992 konnte sie nicht erklären. Mit der Sozialpädagogik hat es dabei allerdings auch nicht so recht geklappt. Die rechten Jugendlichen hatten vor der Reise Lebensrnittel und Kleidung für rumänische Menschen gesammelt, um sie dort zu verteilen. Doch an „Führers" Geburtstag zog man von Haustür zu Haustür und erinnerte die RumänInnen an Adolf Hitlers Geburtstag. Diese konnten die Freude überhaupt nicht teilen und so waren die vier begleitenden Diakoniestudenten mit einer Horde meist besoffener rechter Skinheads auf der Flucht vor rumänischen DorfbewohnerInnen und der Polizei. Tilo F. kommentierte nur: »...da sind die Glatzen hin und haben mal was sinnvolles gemacht, haben Spenden hingebracht... Ein paar wollten sogar Kinder adoptieren. Die Sinti und Roma wissen ja nicht einmal, was Wasser ist.«

Der Muldentalkreis – begehrter Ausflugsort für Neonazis

Zum Jahreswechsel 1993/1994 fand in einer Mutzschener Jugendherberge ein Winterlager von etwa 100 "Wiking Jugend" (WJ) Aktivisten statt. Organisiert hatte es die zahlenmäßig starke WJ aus Grimma zusammen mit dem sächsische WJ- Gauleiter Frank Kaden aus Dresden, der u.a. durch seine Teilnahme an der umstrittenen Israelfahrt der Dresdner Ausländerbeauftragten im Herbst 1993 bekannt wurde.

Am 18. Februar 1995 fand in Schenkenberg bei Delitzsch ein überregionales FAP-Treffen statt. Im »Kulturhaus» trafen sich unter Polizeischutz ca. 150 Personen, unter ihnen Lars Burmeister, FAP-»Beauftragter für Mitteldeutschland« aus Berlin.

Anschließend nahm der Terror gegen AntifaschistInnen zu. Erst als im März 1995 etwa 200 AntifaschistInnen mehrere Dutzend Neonazis, u.a. aus Wurzen und Bitterfeld inklusive dem sächsischen FAP-Chef Dirk Zimmermann, aus der Stadt verjagten, unterblieben die Angriffe.

Ende Mai 1995 versuchten die Neonazis ein Konzert zu veranstalten, das durch öffentlichen Druck verboten wurde. Anti- Antifa-Plakate wurden geklebt. Am 25./26. Juni trafen sich mehrere Hundert Neonazis aus der gesamten BRD im Kreis zur gemeinsamen Feier der Sommersonnenwende. Die Polizei beschützte das Treffen vor eventuellen Störungen. Am gleichen Wochende trafen sich auch in Wurzen ca. 100 Neonazis aus dem Muldentalkreis, Thüringen und ein Bus aus Österreich.