Skip to main content

Wir sind nicht zu ersetzen

Einleitung

Peter Gingold im Interview

Peter Gingold, Jahrgang 1916, wirkte als Deutscher in der französischen Resistance und kam in Gestapo Haft. Nach dem Krieg wurde er Mitbegründer der VVN/BdA, deren Bundessprecher er ist.

Bild: attenzione-photo.com

Peter Gingold. Jude - Kommunist - Antifaschist - Mitglied der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten.

AlB: Bei den Gedenkveranstaltungen zum 60. Jahrestag der Befreiung entsteht der Eindruck, dass die extreme Ausgrenzung, mit der Ihr als kommunistische Widerstandskämpfer und -kämpferinnen in den 1950er und 1960er konfrontiert wart, heute so nicht mehr existiert. Hat sich tatsächlich etwas verändert?

Peter Gingold: Wir sind nach wie vor ausgegrenzt. Aber die Ausgrenzung, die ich in der Zeit nach 1945 und bis in die letzten Tage der DDR erlebt habe, die gibt es nicht mehr. Das ist sicherlich darauf zurück zu führen, dass die dritte und vierte Nachkriegsgeneration nicht mehr so belastet ist vom Antikommunismus wie die Tätergeneration und die erste Nachkriegsgeneration. Denn der war während des Kalten Kriegs so etwas wie die Staatsdoktrin, mit der alles begründet wurde. Dass es möglich war Kommunisten derartig auszugrenzen, wie in der alten Bundesrepublik, hing damit zusammen, dass 8. Mai 1945 in dem Bewusstsein der überwiegenden Mehrheit der Menschen - ich würde fast sagen bei fast 90 Prozent der Bevölkerung - eine Niederlage war. Der 8. Mai war ihre Kapitulation. Dieser Krieg endete doch nicht mit einer eigenen Teilnahme der deutschen Bevölkerung, wie der Erste Weltkrieg mit der Revolution geendet hatte.

Es gab keine Selbstbefreiung. Sie sind besiegt worden, und befreit wurden sie vor allem durch die Rote Armee. Auf der Seite der Sieger standen sozusagen die Kommunisten. So war es der Mehrheit der Bevölkerung möglich nach 1945 ganz reibungslos den Übergang zu vollziehen vom Nazi-Reich zur Bundesrepublik. Es gab keine Wut der Bevölkerung gegen die, die den Krieg und das Elend verursacht hatten, keinen Zorn. Es gab eher Mitleid mit ihnen, als sie vor den Kriegsverbrecherprozessen standen. Im Nazi-Reich wurde kein Unterschied  zwischen Antikommunismus und Antisemitismus gemacht. Nach 1945 schämte man sich in Deutschland des Antisemitismus - jedenfalls offiziell, und manche möglicherweise sogar aufrichtig -, aber der Antikommunismus wurde vollkommen übernommen und im Kalten Krieg zur Staatsdoktrin. Das erklärt, wie es möglich war, uns derartig auszugrenzen. Das hat sich natürlich fortgesetzt darin, dass der kommunistische Widerstand ausgeklammert wurde und bis heute ausgeklammert bleibt.

AIB: Du hast an anderer Stelle in diesem Zusammenhang von einer »Schlacht um die Vergangenheit« gesprochen, und als Beispiele den Film »Der Untergang« oder die Serien von Guido Knopp genannt. Wie erlebst du den gesellschaftlichen Umgang mit dem 60. Jahrestag der Befreiung?

Peter Gingold: Meiner Ansicht nach wird derzeit alles ganz schlimm relativiert, zum Beispiel, in der Art und Weise, wie der 8. Mai und die Befreiung dargestellt werden: Dass nämlich die Deutschen genauso Opfer waren wie alle anderen oder dass die Toten der alliierten Luftbombardements beispielsweise auf Dresden oder Magdeburg mit den Millionen Toten des Holocaust gleichgesetzt werden. Auf diese Weise wird die Vergangenheit vernichtet.

Andererseits erlebe ich durchaus auch etwas Positives - ohne jetzt Zweckoptimismus verbreiten zu wollen: Ich erlebe beispielsweise an Schulen, aber auch bei Demonstrationen einen Teil von Jugendlichen und in einem Umfang, wie ich es in den ersten Nachkriegsjahren nicht erlebt habe -, die sich mit der Vergangenheit beschäftigen und die wissen wollen, wo ihre Urgroßväter und Großväter bzw. Urgroßmütter und Großmütter waren. Gefährlich ist, dass zur Zeit eine zweite Tendenz sehr stark wird unter Jugendlichen: und das sind diejenigen, die aus ihrer Beschäftigung mit der Vergangenheit die eigenen Großeltern verklären zu Helden, die gekämpft haben, und dann mit den Neonazis losziehen.

AIB: Was ist denn deine Vision, was passieren wird, wenn Ihr als Überlebende der nationalsozialistischen Verfolgung nicht mehr lebt? Was denkst du, in welche Richtung das gehen wird, wenn Ihr nicht mehr da seid?

Peter Gingold: Das beschäftigt uns sehr. Deswegen sind wir so stark daran interessiert, Jugendliche anzusprechen. Sie zu bewegen, dass sie sich mit dieser Vergangenheit beschäftigen und das übernehmen, was wir in Zukunft nicht mehr machen können. Sicherlich, ein Zeitzeuge ist unersetzbar. Wir sind unersetzlich. Es ist etwas ganz anderes. Das sage ich mir auch immer, wenn ich in Schulen bin und vor Schulklassen spreche. Dann gibt es immer Lehrerinnen, die sagen, sie hätten in Jahren nicht das vermitteln können, was wir in zwei Stunden rüberbringen. Für mich ist es auch deshalb so wichtig an Schulen zu gehen, weil diese Jugendlichen normalerweise sonst nie einen Zugang finden würden zu diesem Thema. Manchmal passiert es mir, wenn ich auf Kundgebungen spreche gegen Nazidemonstrationen, dass ich dabei Jugendlichen begegne, die mir dann sagen: »Herr Gingold, Sie werden mich nicht erkennen, aber Sie waren doch mal bei uns in der Schule ... «. Und jetzt sind sie dabei und engagieren sich.

An diesem Punkt setzt unser ganz großes Anliegen an: Es gibt so viele Antifa-Gruppen, die sich meistens anlassbezogen organisieren und dann sind sie wieder weg. Für mich und für uns ist es immer wichtig, dass Jugendliche, die schon mal interessiert sind, in eine feste Organisation gehen und dabei bleiben. Im Grunde genommen ist das der Sinn der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, die seit 50 Jahren existiert. Ohne die VVN wäre vieles - wie Z.B. die vertiefte Erinnerungsarbeit oder mit Gedenkstättenfahrten mit Jugendlichen gar nicht möglich gewesen. Der VVN/BdA ist das, was wirklich bleibt. Inzwischen haben wir kaum noch Überlebende, sondern 80 Prozent der Mitglieder sind Nachgeborene. Gerade da braucht es eine solche kontinuierliche Organisation, die ständig etwas macht und sich bemüht.

AIB: Das ist eigentlich ein gutes Stichwort, für einen Themenkomplex, der viele autonome AntifaschistInnen immer noch bewegt. In den 1980ern und später auch gab es ja heftige Auseinandersetzungen mit Teilen der DKP und auch mit VVN/ BdA, beispielsweise um die Aktionsformen von militanten AntifaschistInnen, aber auch um die Art und Weise, wie Widerstand und Gedenken vermittelt wurden. Gab es da von Eurer Seite Fehler bzw. Fehlentscheidungen?

Peter Gingold: Ach, sicherlich gab es manche Fehlentscheidungen. Ich kenne niemanden, der keine Fehlentscheidungen trifft ... Und wenn ich an die Auseinandersetzung denke, die es immer gegeben hat, über die Form, wie man Gegenaktionen gegen Neonazis organisiert: Da haben wir tatsächlich - das muss ich auch im Nachhinein sagen und das spielt auch für heute noch eine Rolle - im Umgang mit den Gruppen, die die militante Form der Auseinandersetzung gesucht haben, Fehler gemacht. Das ist klar. Damit gehen wir heute ganz anders um.

Andererseits suchen wir immer noch solche Formen der Gegenaktionen, die es möglich machen, dass wir diejenigen Leute, die gegen Neonazis sind, nicht davon abschrecken, sich auch am Protest zu beteiligen. Früher war unser Fehler, dass wir nicht die Diskussion mit den Militanten gesucht haben und nicht ordentlich mit ihnen geredet haben darüber. Versucht doch solche Formen zu entdecken, die andere Leute nicht abschrecken, sondern es ihnen auch möglich machen, sich zu beteiligen und den Gegnern und den Medien nicht das Bild liefern: »Hier schlagen sich nur die Rechts- und die Linksextremisten!«

Es kann sein, dass wir zu wenig mit denen diskutiert haben; und vielleicht haben sie uns auch nur als zu versöhnlerisch wahrgenommen und zu als solche, die sich keine Schlachten liefern wollen. Vielleicht haben sie uns auch so gesehen und wollten auch mit uns nicht diskutieren? Jedenfalls haben wir auch nichts unternommen, um mit denen zu sprechen. Das ist heute anders. Heute sind wir dabei. Und dann erfahre ich, da gibt es bei ihnen auch Lernprozesse. Aber im Prinzip ist unsere Strategie im Wesentlichen doch dieselbe. Und an manchen Stellen ja auch erfolgreich, obwohl das Feld der Relativierung - gerade, wenn es um Gedenken und Erinnerungskultur geht - extrem weit offen scheint.

Auf jeden Fall, wenn man sich beispielsweise die Ausrichtung der Gedenkstätten in Sachsen anschaut. Andernorts waren wir erfolgreich, zum Beispiel in Buchenwald. Als Mitte der 1990er die Ausstellung so verändert wurde, dass der Aufstand der Buchenwälder Häftlinge verschwunden war, haben wir die Auseinandersetzung geführt. Inzwischen ist die Ausstellung nochmals verändert worden und der Aufstand ist wieder drin. Aber grundsätzlich ist diese Entwicklung eine Kampfansage und ganz schlimm; unsere Spuren des Widerstandes verschwinden.

AIB: Gibt es denn von Euch so etwas wie ein Vermächtnis, beispielsweise an den VVN/BdA, beispielsweise in eurem Namen mit den Gedenkstättenleitungen zu verhandeln?

Peter Gingold: Das ist ja der Sinn des VVN/BdA, dafür zu kämpfen, dass unser Vermächtnis nicht verschwindet. Das wird mehr und mehr von jungen Leuten übernommen. Ich bin überzeugt, dass unsere Nachkommen das genauso machen werden wie wir. Allerdings ist die moralische Authentizität ja stärker, wenn die Überlebenden selbst sprechen. Aber das ist vor-bei, wenn wir nicht mehr da sind.

AIB: Das heißt, dass die Schlussstrichmentalität sich weiter durchsetzen wird?

Peter Gingold: Ein interessantes Beispiel dafür ist sicherlich die Auseinandersetzung um das Holocaust-Mahnmal. Schon als die Idee aufkam, gab es die Befürchtungen, dass die Schlussstrichmentalität dadurch gefördert würde. Meine Meinung dazu war immer, es sollte ein Denkmal für alle sein und man soll keine Hierarchie von Opfern aufbauen. Und doch war die zehnjährige Auseinandersetzung um das Mahnmal schon sehr wichtig. Jetzt ist es da, und ich weiß nicht, wie es angenommen wird. Aber wir - die Überlebenden - brauchen kein Denkmal.

AIB: Angesichts der zunehmenden Zahl von Rechtsextremisten und dem steigenden Anteil von rechten und antisemitischen Einstellungen in der Bevölkerung, stellt Ihr euch als Überlebende sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR manchmal die Frage, ob ihr nicht genügend Schwerpunkte auf Antisemitismus und Rassismus gelegt habt, in der Art und Weise, wie Ihr Eure Erinnerungspolitik ausgerichtet habt?

Peter Gingold: Der Kampf gegen Rassismus war immer einer unserer Arbeitsschwerpunkte. Was den Antisemitismus angeht, stimmt dies schon. Wir haben uns zu wenig mit Antisemitismus beschäftigt. Obwohl wir jahrzehntelang vom WN/BdA die einzigen waren, die am 9. November mit den jüdischen Gemeinden gemeinsam gedacht haben. Vielleicht haben wir es unterschätzt, dass der Antisemitismus noch so tief in den Köpfen steckt. Denn eine Zeitlang wurde der ja nicht mehr geäußert - man spürte nur die Ablehnung. Das spürte man.

AIB: Woran lag das? Weil ihr Euch mehr als Kommunisten verstanden habt?

Peter Gingold: Ich war sehr streng religiös erzogen worden, ging regelmäßig in die Synagoge, hatte meine Bar Mizwa. Als ich dann als junger Mensch in die politische Bewegung gekommen bin, in den Jugendverband der Gewerkschaft, da habe ich aufgehört, Jude zu sein. Für mich und die anderen in der Arbeiterbewegung war Jude sein eine religiöse Auffassung. Davon konnte man sich trennen, so wie Leute aus der katholischen oder evangelischen Kirche ausgetreten sind. Und erst Hitler hat mich wieder zum Juden gemacht, rassistisch bin ich dann zum Juden geworden. Wenn ich heute an den Schulen bin, dann erzähle ich von meiner Verfolgung und dann erfahren die Schüler von mir, dass ich jüdischer Herkunft bin. Aber ich will das nicht so sehr in den Vordergrund stellen.

AIB: Wenn Du zurückblickst, was würdest Du als Eure größte politische Niederlage nach der Befreiung bezeichnen?

Peter Gingold: Ehrlich gesagt, wir haben wohl Hoffnungen gehabt, dass es ganz anders kommen wird. Aber wir hatten uns keine Illusionen gemacht - auch nicht in Bezug auf die geistige Verfassung der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung.
Alle, die zurückgekehrt sind aus KZs, aus den Zuchthäusern, aus dem Exil wurden doch von der ganzen Bevölkerung mehr oder weniger als ständige, wandelnde Ankläger empfunden. Was wir eigentlich nie waren, und was ich nie getan habe. Wir spürten diese Art der Ablehnung.

Für mich waren die Enttäuschungen die Enthüllung von den Verbrechen unter Stalin und die Enttäuschung, dass die DDR sang- und klanglos untergegangen ist. Das hatte ich mir nicht vorstellen können. Es war eine ganz riesige Enttäuschung, die noch bis jetzt nicht ganz verarbeitet ist. Aber ich sage mir, die Idee des Sozialismus existierte bevor es die DDR gab. Und mit dem Verschwinden der DDR, verschwindet doch nicht diese Idee nicht. Die Idee des Sozialismus und des Kommunismus, das ist doch die erhabenste Idee, welche die Menschheit je hervorgebracht hat. Schon lange bevor die Sowjetunion existierte, gab es diese Idee. Und wenn sie verschwunden ist, ist doch die Idee nicht verschwunden. Sondern dann ist nur zu überlegen, wie man es anders macht.

AIB: Gab es für Dich jemals einen Moment, wo Du gedacht hast du musst dieses Land verlassen?

Peter Gingold: Eigentlich nicht. Ich sage immer, ich hätte nicht zurückkehren können, wenn ich nicht wüsste, wie viel Widerstand es gegeben hat, auch wenn er nicht viel bewirkte. Aber den hat es gegeben. Und ich erlebe Menschen, die nicht das haben wollen, wie es sich entwickelt, die sich engagieren. Wenn es das nicht gäbe, dann hätte ich gesagt: »Dann verlasse ich dieses Land.«
Und dann sagte ich, dann musst du da bleiben, die brauchen dich auch. Wenn wir alle das Land verlassen, dann ist es den anderen nur ganz recht.

AIB: Vielen Dank für das Gespräch.