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Westberlin Chronologie 1988

Einleitung

Hier wollen wir in chronologischer Form über rechte Aktionen und Neonaziaktivitäten und antifaschistische (Gegen)Aktionen berichten. Um einen möglichst vollständigen Überblick geben zu können, bitten wir euch um Unterstützung. Wenn ihr z. B. Neonazi- oder Neonazi-Skinheadheadüberfälle beobachtet habt oder in euren Bezirken, an Schulen und in euren Betrieben verstärkt neonazistisches Propagandamaterial und Schmierereien auftauchen, schreibt uns eine kurze Notiz (wer/was/wann/wo) an unsere Kontaktadresse oder wendet euch an das antifaschistische Nottelefon (6921599).

Foto: Screenshot YouTube/SFB

Der Berliner REP-Chef und Polizeibeamte Bernhard Andres.

20. August 1988:
Erster Landesparteitag der „Republikaner“ (REPs) im Internationalen Congress Centrum (ICC). Demonstration und Gegenkundgebung von AntifaschistInnen (siehe Bericht im letzten Antifaschistischen Infoblatt).

30. August 1988:
Die CDU-Jugend „Junge Union“ (JU) Berlin-Tempelhof erhebt ein Ausschlußverfahren gegen Heiko L., der sich (wie im letzten Antifaschistischen Infoblatt berichtet) bei der Westberliner Grundungsversammlung der „DVU - Liste D“ als knüppelschwingender Ordner aufspielte.

31. August 1988:
Der NPD, die sich an den Abgeordnetenhauswahlen beteiligen will, wird von der alliierten Stadtkommandantur ein erneutes Verbot ausgesprochen. Danach darf die NPD im Januar 1989 nicht kandidieren und weiterhin keine politischen Veranstaltungen (sie tun es wie immer getarnt) und keine Parteitage in Westberlin durchführen. Das Verbot, daß bis zum 30. Januar 1989 gilt, schließt auch Kundgebungen und die Verteilung von Propagandamaterial ein. Die NPD legte Beschwerde ein.

Nach 18 Monaten stellte der parlamentarische Lummer-Untersuchungsausschuß im Abgeordnetenhaus in einer Bilanz fest: Heinrich Lummer hat im Februar 1971 einer extrem rechten Partei (Wählergemeinschaft „Deutsche Volkspartei“) 2000 DM übergeben1 , diese Geldübergabe sei nicht der einzige Kontakt Lummers zur Neonazi-Szene gewesen. Lummer soll laut Presseberichten zudem mit dem christlichen Falange-Chef Beschir Gemayel (Libanon) verbunden sein.

3. September 1988:
Mehrer Neonazis, darunter Neonazi-Skinheads, provozieren auf dem Turmstraßenfest mit Naziliedern und -Pöbeleien. Sie bedrohen einige Stände, wobei ein Passant leicht verletzt wird. Die Republikaner sind mit einem Infostand anwesend (s. Artikel in diesem Heft).

4. September 1988:
150 AntifaschistInnen sorgen für den Abbau des REP-Standes vom Turmstraßenfest (s. Artikel).

Brandanschlag auf eine im Bau befindliche Barracke für Aussiedler in Lankwitz.

6. September 1988:
Ein Neonazi-Skinheadheadüberfall auf eine Schülerin kann abgewehrt werden.

9. September 1988:
Ein Neonazi wird beim Einbruch in die „Wehrmachtsauskunftsstelle“ (Wast)2 auf frischer Tat ertappt und festgenommen. Er wurde von einem Wachmann überrascht, als er einen Haufen Akten wegschleppen wollte. Dem Staatsschutz ist der Neonazi „einschlägig bekannt“.

In der Nacht vom Samstag auf Sonntag schlagen und treten 18 Neonazis, darunter Neonazi-Skinheads am S-Bahnhof Schönholz in Reinickendorf einen 28jährigen Mann nieder. Der Überfallene muß ins Krankenhaus gebracht werden. Zuvor hatten die Neonazis auch andere Fahrgäste bedroht und im Zug randaliert.

Vier Neonazi-Skinheads überfallen in der gleichen Nacht einen Mann in der S-Bahn Richtung Friedrichstraße. Er konnte sich nur durch einen Sprung aus dem einfahrenden Zug in Sicherheit bringen.

10. September 1988:
Kundgebung zum „Tag der Heimat“ des revanchistischen „Bundes der Vertriebenen“ (BdV) im ICC. Der Vorsitzende Herbert Cazja (CDU) verleiht Franz Josef Strauß (CSU) eine „Plakette für Verdienste um den deutschen Osten und das Selbstbestimmungsrecht“ .

14.  September 1988:
Mit Freispruch endet ein Prozess gegen einen Polizisten und seine Frau, die am 20. Januar eine türkische Frau übelst beschimpften. Beim Streit um einen Parkplatz hetzten sie: „Ausländer wie euch hat man früher erschossen, und heute sollte man das auch tun.“

17. September 1988:
Neonazi-Skinheads und Fußballfans überfallen einen Mann und eine Frau zwischen dem Strandbad Wannsee und Nikolassee. Sie traktieren die beiden mit Fußtritten, versuchen sie ins Wasser zu stoßen und verbrennen ihre Kleidung.

20. September 1988:
Etwa 100 Antifaschstlnnen verhindern eine Versammlung der REPs, die im Hotel Central in Reinickendorf stattfinden sollte (siehe Artikel in diesem Antifaschistischen Infoblatt).
Polizeisenator Wilhelm Kewenig (CDU) antwortet im Abgeordnetenhaus auf die Anfrage eines SPD'lers nach Gesetzesverletzungen durch Neonazis in Westberlin. Kewenig nannte eine offizielle Zahl von 406 Fällen im ersten Halbjahr 1988 (406 waren es im ganzen Jahr 1987), hält aber eine besondere Anweisung an Polizeibeamte oder Verfassungsschutz zur Beobachtung rechtsextremistischer Gruppen für unnötig. Er meint: „Der Senat erblickt in der Bekämpfung des Rechtsextremismus seit jeher eine vorrangige Aufgabe, der er sich in der Gesamtheit seiner Regierungspolitik widmet.“3

1. Oktober 1988:
Republikaner-Stand Turmstr./Ecke Stromstr..

2. Oktober 1988:
AntifaschistInnen konnten eine Versammlung von Neonazis aus verschiedenen Organisationen verhindern (s. dazu den Artikel in dieser Ausgabe).

7. Oktober 1988:
Während eines Konzerts im Quartier Latin kommt es zu militanten Auseinandersetzungen zwischen AntifaschistInnen und Neonazis in der Potsdamer Straße (siehe die in diesem Infoblatt abgedruckte Dokumentation).

11. Oktober 1988:
Drei Nazilieder gröhlende Neonazis werden von Fahrgästen am S-Bahnhof Sundauer Straße aus dem Wagen geschmissen.

12. Oktober 1988:
Der Prozess gegen drei „Junge Union“ (JU)-Mitglieder wegen Volksverhetzung wird eröffnet.

Abends treten die Spitzen der Partei „Die Republikaner“, Landesvorsitzender Bernhard Andres und Carsten Pagel (siehe REP-Artikel im Antifaschistischen Infoblatt Nr. 4) in der Sender Freies Berlin-Live-Sendung „Berliner Platz“ auf. Sie geben ihren Meinung, zusammen mit einem Herrn R.4 aus den Kreisen der extrem rechten „Bürgerinitiative Demokratie und Identität“ (BDI) zum Sinn von lebenslangen Haftstrafen ab. Der BDI'ler setzte sich für die Wiedereinführung des Begriffs „Schutzhaft“ ein.

15. Oktober 1988:
REP-Stand auf dem Hansaplatz in Tiergarten.

  • 11986 hatte der SPIEGEL enthüllte, daß Lummer 1971, seinerzeit CDU-Fraktionschef im Berliner Abgeordnetenhaus, der Neonazi-Gruppe 2000 Mark aus der CDU-Kasse dafür bezahlt hatte, um als "Aktionsgemeinschaft 17. Juni" Wahlplakate der SPD zu überkleben.
  • 2Vollständig: Deutsche Dienststelle (WASt) für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht
  • 3Im zweiten Senat Diepgen war er ab 1986 als Innensenator tätig. Er löste Heinrich Lummer ab. In der Zeit als Senator entließ er den sozialdemokratischen Polizeipräsidenten Klaus Hübner, um auf die Polizei einen direkteren Einfluss nehmen zu können. Er verantwortete Polizei-Großeinsätze während des Ronald-Reagan-Besuches im Juni 1987, bei dem er ganz Kreuzberg 36 absperren und in der Tauentzienstraße hunderte Demonstranten über Stunden einkesseln ließ, der Einkesselung eines Großteils einer Demonstration gegen das Welttreffen der Studentenorganisation CARP (Collegiate Association for the Research of Principles) der Mun Sekte und die Polizeieinsätze während der Tagung des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank im September 1988. Im „Berliner-Verfassungsschutzskandal“, ließ er bei dem Sicherheitsorgan heimlich Dossiers über Journalisten und SPD-Abgeordnete anlegen. Von Kewenig wurde auch die skandalträchtige Polizei-Spezialeinheit „Einheit für besondere Lagen und einsatzbezogenes Training“ ins Leben gerufen.
  • 4Bei einem Kurt R. in Zehlendorf fanden im November 1986 Gespräche zwischen REPs, "Demokratische Allianz" und BDI Aktivisten statt.