Skip to main content

Verschwörungsmythen, Kollektivängste und „Querdenken“

Einleitung

Gesellschaftliche Verunsicherungen, wie z.B. Pandemien, erzeugen Verschwörungsbewegungen mit oft erstaunlich starkem Zulauf und Reichweite. Alle diese Bewegungen resultierten aus einer Kollektivangst, die sich in irrationalem Verhalten entlud. Die Gültigkeit dieser Formel konnte ab 2020 weltweit bestaunt werden. Historisch betrachtet reihte sich die "Querdenker"-Bewegung nur in eine lange Linie von Verschwörungsbewegungen ein, die kometenhaft entstanden, und wenig später wieder ins Nichts zerfielen.

Bild: Gemeinfrei; Museum of Wisconsin Art, West Bend WI.

Die Flagellanten (Carl von Marr 1889). Die Flagellanten oder Geißler waren eine christliche Laienbewegung im 13. und 14. Jahrhundert.

Geissler-Bewegung

Die Pest, die ab 1348 ihren tödlichen Weg durch Europa begann, tötete ca. ein Drittel der Europäer. Ganze Landstriche waren ausgestorben, Städte verödeten, die Menschen waren der Seuche völlig hilflos ausgeliefert. Auf der Suche nach Erklärungen für das damals Unerklärliche fanden die Menschen in Mitteleuropa zwei Lösungen: Einen Schuldigen (Die Juden) und eine Möglichkeit der Rettung: die Geisslerbewegung.

Die Pest schien der Beginn der Apokalypse aus der Weissagung des Johannes zu sein und damit das Ende der Welt einzuläuten. Um Buße zu zeigen und so doch noch eine glückliche Rettung erleben zu dürfen, zogen die „Flagellanten“, angeblich soll es Bußfahrten mit zehntausenden Teilnehmer_innen gegeben haben, durch das Land. Die sogenannten Geißlerumzüge waren Prozessionen bei denen die Beteiligten sich 33,5 Tage (die Anzahl der Lebensjahre Christi) öffentlich mit selbstgefertigten Peitschen blutig schlugen. Diese Form der Volksfrömmigkeit, die auch gegen die etablierte katholische Kirche entstand, fand schnell viele Anhänger.

So stark die Bewegung in den ersten Monaten der Pest wuchs – so rasch zerfiel sie auch. Es fiel auf, dass die Geissler meistens zuerst in die Stadt kamen, bevor die Pest auftrat. Die Flagellanten hatten also weder die Pest aufhalten können – möglicherweise hatten sie zu deren Ausbreitung unfreiwillig auch selber beigetragen, da der die Pest verbreitende Menschenfloh mit ihnen reisen konnte und die Geissler zu Beginn gerne in den Bürgerhäusern aufgenommen wurden.

Hinzu kamen Vorwürfe der Häresie, d.h. dem Abweichen von der offiziellen katholischen Lehre sowie sexuelle Ausschweifungen. Die Obrigkeit begann gegen die Bewegung vorzugehen, den Einzug in die Städte zu verhindern und einzelne Anführer als Rädelsführer zu verhaften. Aus einer tiefen religiösen Grundhaltung und dem Wunsch selber etwas bewirken zu können, war eine diffuse, oft mit Dieben und Plünderern im Gefolge reisende Bewegung geworden die den unruhigen Zeiten selber ein gehöriges Maß an Chaos und Unsicherheit hinzufügte.

Judenpogrome

In den, meist in zeitlicher Abfolge nach den Geißlern aber vor der Pest, organisierten Judenpogromen wurde der jüdischen Minderheit vorgeworfen durch das Vergiften von Brunnen die Pest absichtlich herbeigeführt zu haben. Bis zur Shoah im 20. Jahrhundert blieb der Umfang der Morde an den Jüdinnen und Juden im 14. Jahrhundert singulär. Tausende jüdische Gemeinden wurden ausgelöscht, Männer, Frauen und Kinder öffentlich verbrannt. Teilweise waren die Pogrome aus den Umzügen der Geissler hervorgegangen, z.b. 1349 in Frankfurt am Main, teilweise waren es wohlorchestrierte Bündnisse aus Mob und Elite welche sich durch die Pogrome gezielt an einer schutzlosen Minderheit bereichern wollten.

Die Papisten-Verschwörung in England

1678 ging im Protestantisch-Anglikanischen England die Furcht vor einer katholischen Verschwörung um. Geschaffen wurde dieser Verschwörungsmythos maßgeblich von einem einzigen Mann: Titus Oates. Dieser war wegen Gotteslästerung und Unzucht als Geistlicher aus der Staatskirche entlassen worden und schlüpfte bei den katholischen Jesuiten unter. Doch auch dort warf man ihn wegen der gleichen Vergehen raus. Mit seinem „Insider-Wissen“ von den Jesuiten, und dringend auf Geldeinnahmen angewiesen, begann er seine Verschwörungstheorie zu verbreiten, die ihm schnell Zugang zur gehobenen Gesellschaft verschaffte. So behauptete er, es sei ein Komplott im Gang, bei dem König Karl II ermordet und dessen katholischer Bruder eingesetzt werden sollte. Mehrere Jesuiten wurden hingerichtet, alle Katholiken mussten London verlassen.

Interessant ist, dass die Verschwörungstheorie nicht nur in teuren Büchern verbreitet wurde, sondern mithilfe des modernsten und schnellsten Mediums der damaligen Zeit: dem Flugblatt. Schnell und billig herstellbar verbreitete sich die Katholikenfurcht im ganzen Land.

Aufbauen konnte die Katholikenfurcht auch auf realen historischen Ereignissen, wie z.B. dem „Gunpowder Plot“ 1605. Bei diesem Attentat hatten Katholiken, u.a. Guy Fawkes,dessen Maske seit einigen Jahren gerne auch bei Protesten oder von der Hacker-Gruppe Anonymous verwendet wird, versucht den König und alle Parlamentarier durch eine Explosion zu töten. Hierbei sollte Sprengstoff im Keller des Parlaments zur Detonation gebracht werden.

Auch wenn der Betrug von Oates 1685 aufflog und dieser Verurteilt wurde, hatte doch eine frei erfundene Geschichte mehrere Jahre lang dafür sorgen können, dass die religiöse Minderheit der Katholiken verfolgt und zahlreiche zum Tode verurteilt wurden.

Antikommunismus in der McCarthy Ära

In den USA grassierte besonders im Zeitraum 1947 bis 1956 die Furcht vor dem Kommunismus. Die Sowjetunion hatte sich als stabil und militärisch schlagkräftig erwiesen und damit zu einer weltweiten Konkurrenz der USA entwickelt. Der republikanische Senator Joseph McCarthy warnte vor einer Unterwanderung des US-Regierungsapparats durch Kommunisten und schuf ein Klima der Verdächtigung und Angst. Verdächtige Personen, wurden vor das „Komitee für unamerikanische Umtriebe geladen“, verdächtige Hollywood-Schauspieler erhielten keine Beschäftigung mehr und selbst führende Atomwissenschaftler aus dem Manhatten-Projekt - das Projekt zur Entwicklung der amerikanischen Atombombe - wurden verdächtigt und verhört. Das Klima der Verdächtigung war weitverbreitet und richtete sich bei weitem nicht nur gegen die gerade einmal 60.000 Kommunist_innen der Kommunistischen Partei.

Die große Impfverschwörung

Das englische Wort „Vaccination“ für Impfen trägt in sich das lateinische Wort „Vacca“ – die Kuh. Dies deutet darauf hin, dass die ersten Impfungen gegen die lebensgefährlichen Pocken auf Basis der für die Menschen weniger gefährlichen Kuhpocken erfolgten. Diese, bereits ab ca. 1796 auch in Europa bekannte Behandlung, setzte sich nach und nach durch. Und mit dem Impfen kamen die Impfgegner – und unter diesen befanden sich schon früh die Antisemiten.

Eugen Dühring, Professor und Philosoph, bezeichnete das Impfen 1881 als „Aberglauben“ und als eine Erfindung jüdischer Ärzte die sich mit Impfstoffen bereichern und gleichzeitig das „deutsche Blut“ verunreinigen wollten. Paul Förster war für die antisemitische „Deutschsoziale Partei“ im Reichstag und ab 1899 Vorsitzender des „Deutschen Bundes der Impfgegner“. 1896 beantrage er im Reichstag die Abschaffung der Impfpfplicht.

„Impfen ist Spahnsinn“

Schon vor der Covid-19-Pandemie waren die Konturen der späteren "Querdenker"- Bewegung deutlich zu erkennen. Auf Demonstrationen gegen „Impfzwang“ sammelte sich bereits 2019 eine Gemengelage aus Neonazis, "Reichsbürgern", Anhängern von Naturheilverfahren, Verschwörungsgläubigen und irrational besorgten Eltern. Die Mischung aus berechtigter Kritik an der Pharma-Lobby verband sich nahtlos mit irrationalen Ängsten und den abseitigsten Verschwörungserzählungen und einem offenen und ungehinderten Schaulaufen von Neonazis.

Impfen sei „Giftmord“ an Kindern, die Politiker_innen nur die Marionetten der Pharma-Industrie, welche die Menschen als Versuchskaninchen missbrauchen würden.

Ähnlich wie bei den historisch vergleichbaren Verschwörungsmythen sah man sich auch hier als im Besitz der Wahrheit gegenüber einer dunklen Verschwörung und der Verschwörungsmythos fungierte als Bindeglied unterschiedlicher Gruppen, die zuvor nicht in Kontakt miteinander gestanden hatten.

Waren es im 14 Jahrhundert chiliastische Heilserwartungen, welche die Geissler-Bewegung befeuerte, sind es im 21. Jahrhundert der Glaube, eine allmächtige Elite kontrolliere den Alltag und der Wunsch nach einer Rückkehr zu einem vermeintlichen „Urzustand“ des Menschen und des Körpers, der durch die moderne Medizin und das Impfen in Frage gestellt würde. So ist auffallend, wie viele Ärzt_innen aus dem Gebiet der Naturheilverfahren und der Anthroposophie die Stichwortgeber bekannter Organisationen sind, wie z.B.die „Ärzte für eine individuelle Impfentscheidung“ oder die „Ärzte für Aufklärung“.

(Literatur: Klaus Bergdolt: Der schwarze Tod in Europa. Die große Pest und das Ende des Mittelalters. München 2000. Stiftung Kloster Dalheim und Dr. Ingo Grabowsky: Verschwörungstheorien – früher und heute. Münster 2019.)