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Verordneter Antitotalitarismus. Renaissance und Radikalisierung einer Ideologie

Wolfgang Wippermann (Gastbeitrag)
Foto: flickr.com; CSIS: Center for Strategic & International Studies; /CC BY-NC-SA 2.0

Das vorherrschende Totalitarismusmodell wurde u.a. Zbigniew Brzezinski entwickelt.

»Totalitarismus« als politischer Kampfbegriff

»Totalitarismus« ist ein Neologismus. Erfunden haben ihn italienische Antifaschisten, die den Faschisten schon 1923 vorwarfen, ein »totalitäres System« anzustreben. Diese wählten die Offensivstrategie und bekannten sich trotzig dazu, einen »stato totalitario« – einen totalitären Staat errichten zu wollen, in dem die liberalen Freiheitsrechte abgeschafft werden sollten. Tatsächlich wurde der faschistische Staat nie so »totalitär«, wie er von Anhängern und Gegnern angesehen wurde.

Doch dies ist nicht alles. Wichtiger war und ist der bis zur Identifizierung gehende Vergleich des Faschismus mit dem Bolschewismus. Der Führer der italienischen »Popolari« Luigi Sturzo brachte dies schon 1926 auf den Punkt: Faschismus sei »Rechtsbolschewismus« und Bolschewismus »Linksfaschismus«. Natürlich war dies nichts anderes als Propaganda. Und dies trifft auch auf den »Nazi« = »Kozi«-Vergleich zu, mit dem deutsche Sozialdemokraten auf die ebenso törichte Sozialfaschismusthese der Kommunisten antworteten.

»Totalitarismus« war in den 20er und 30er Jahren nicht viel mehr als ein politischer Kampfbegriff. Seine Hochzeit hatte er während der Zeit des Hitler-Stalin-Paktes von 1939. Doch als sich die westlichen parlamentarischen Demokratien 1941 mit der Sowjetunion gegen das faschistische Deutschland verbündeten, verschwand der Totalitarismusbegriff wieder aus der westlichen Propagandasprache, um nach dem Ausbruch des Kalten Krieges sogleich wieder aufzutauchen.

Dies war vor allem in der Bundesrepublik so, wo die Totalitarismusdoktrin den Charakter einer Staatsideologie erhielt, die auch die praktische Politik – vom SRP- und KPD-Verbot bis hin zum Radikalenerlass – bestimmte. Daran hat sich auch nach dem Untergang der DDR und dem Zusammenbruch des europäischen Kommunismus wenig geändert. Allseits wird ein sog. »antitotalitärer Grundkonsens« gefordert und verordnet. Warum? Warum hält man an dieser Ideologie immer noch fest? Einmal, weil behauptet wird, es handele sich gar nicht um eine Ideologie, sondern um eine wissenschaftliche Theorie.

»Totalitarismus« als Theorie

Tatsächlich ist »Totalitarismus« gar keine Theorie. Jedenfalls keine, die durch die Empirie bestätigt wurde. Alle sogenannten Totalitarismustheorien sind nämlich sowohl von der Faschismus- wie der Kommunisforschung widerlegt worden. Dies trifft insbesondere auf das vorherrschende Totalitarismusmodell von Carl Joachim Friedrich und Zbigniew Brzezinski zu. Danach sind Staaten als »totalitär« einzuschätzen, wenn sie folgende 6 Merkmale aufweisen: 1. Ideologie, 2. Terror, 3. Einparteienregime, 4. Befehlswirtschaft, 5. Waffenmonopol und 6. Propagandamonopol.

Doch dieses Modell trifft weder auf das Dritte Reich noch die Sowjetunion zu. Unzutreffend ist schon die weitgehende Gleichsetzung der faschistischen Rassen- und der kommunistischen Klassenideologie. Und da sich die Ideologien nicht gleichen, waren auch die Opfer des unbestrittenen Terrors andere. Hier »minderwertige Rassen«, dort »feindliche Klassen«. Drittens ist darauf hinzuweisen, dass die faschistische (und möglicherweise auch die kommunistische) Diktatur keineswegs so monolithisch geschlossen war, wie es Friedrich und Brzezinski suggerierten.

Ihre Behauptung, dass es sowohl im bolschewistischen Russland wie im faschistischen Deutschland eine »Befehlswirtschaft« gegeben habe, ist offenkundiger Unsinn. Schließlich ist die Wirtschaft im Dritten Reich nicht verstaatlicht worden und besaß bis zum Schluß eine relativ starke Stellung. Über ein »Waffenmonopol«, was das 5. Kennzeichen »totalitärer« Regime sein soll, verfügen dagegen auch parlamentarische Regime. Nur der 6. und letzte Punkt ist richtig: Im faschistischen Deutschland und im kommunistischen Russland hatte der Staat ein Nachrichten und Propagandamonopol.

Als besonders problematisch an dem Totalitarismusmodell von Friedrich und Brzezinski hat sich sein idealtypisch statischer Charakter erwiesen. Dass sich »totalitäre« Staaten auch gewandelt haben, war gewissermaßen nicht vorgesehen. Dies war jedoch in der Sowjetunion nach dem XX. Parteitag der KPdSU im Jahr 1956 unzweifelhaft der Fall. Es kam zu einer innenpolitischen Entstalinisierung und zu einem außenpolitischen Entspannungskurs. Das Ausmaß beider Aspekte sollte zwar nicht überschätzt werden, dennoch hat beides letztlich den Reformkurs Gorbatschows ermöglicht. Etwas auch nur annähernd Vergleichbares hat in den faschistischen Staaten nicht stattgefunden und hätte auch niemals stattfinden können.

»Totalitarismus« als Ideologie

Die Schwächen der Totalitarismustheorie von Friedrich und Brzezinski (sowie auch der in der konkreten Forschung wenig rezipierten von Hannah Arendt) sind in den 70er und 80er Jahren auch erkannt worden, weshalb sich sowohl die Kommunismus- wie die Nationalsozialismusforschung von dem Totalitarismusbegriff generell mehr und mehr abgewandt hat. Dies soll jetzt anders sein.

Jetzt wird auch die Renaissance und Radikalisierung einer Ideologie DDR als »totalitär« bezeichnet und mit dem Dritten Reich verglichen, was selbst von Vertretern der klassischen Totalitarismustheorie wie Hannah Arendt strikt abgelehnt wurde. Wenn jetzt verschiedene Politiker und politisierende Historiker die Renaissance der wissenschaftlich widerlegten Totalitarismustheorie postulieren und einen »antitotalitären Grundkonsens« einfordern, dann hat dies vornehmlich politische Gründe. Welche?

Zu nennen sind einmal parteipolitische: Durch den distanzierenden Vergleich mit den »totalitären« der Vergangenheit können die heutigen »demokratischen« Parteien von ihren eigenen Schwächen, wie ihren autoritärern Führungsstilen und der immer mehr um sich greifende Korruption, ablenken. Die Totalitarismusdoktrin hat hier den Charakter einer »Komplementärideologie« (Kurt Lenk). Außerdem kann man durch die Bezeichnung von DDR und SED als »totalitär« die Ausgrenzung der PDS als »Nachfolgepartei der SED« und die Disziplinierung der Bewohner der ehemaligen DDR rechtfertigen, in dem man ihnen vorwirft, einem »totalitären« Staat gedient oder zumindest in ihm gelebt zu haben, der mindestens so schlimm wie das Dritte Reich gewesen sein soll.

Der im Zeichen einer radikalisierten Totalitarismustheorie stehende DDR/Drittes Reich-Vergleich dient hier als »Rechtfertigungsideologie« (Kurt Lenk). Doch auch dies ist nicht alles. Durch den aufrechnenden Hinweis auf die Verbrechen »der Kommunisten«, wofür sich bereits der Begriff des »roten Holocaust« eingebürgert hat, kann und soll, wie der Berliner Historiker Heinrich August Winkler gefordert hat, »Auschwitz vom Sockel der negativen Singularität gestoßen« werden.

Gerade bei der Debatte über das »Schwarzbuch des Kommunismus« wurde diese geschichtspolitische Funktion der Totalitarismusdoktrin deutlich, die, um noch einmal Kurt Lenks Ideologietheorie zu zitieren, hier zur einer »Ausdrucksideologie« geworden ist, weil man so die eigene Vergangenheit bewältigen und die Gegenwart meistern kann. Denn wenn Stalin und Honecker mit Hitler, der »Archipel Gulag« und Bautzen mit Auschwitz zu vergleichen und gleichzusetzen sind, dann kann man wirklich »wieder« Machtpolitik betreiben, ohne dabei von der Vergangenheit belastet zu werden.

Die Totalitarismusdoktrin ist aber auch deshalb als »Ausdrucksideologie« anzusehen, weil die gegenwärtige parlamentarische Demokratie als nicht mehr hinterfragbares positives Gegenstück zum negativen »Totalitarismus« dargestellt wird. Fast alle gesellschaftskritischen Gedanken und selbst die klassischen Utopien werden – so geschehen bei der »Schwarzbuch«-Debatte – als »kriminogen« denunziert, weil ihre Verwirklichung unweigerlich zu Verbrechen führen müsse.

Der allseits verordnete »antitotalitäre Grundkonsens« kommt hier einem »totalitären« Denkverbot schon sehr nahe. Außerdem suggeriert die Totalitarismusdoktrin, dass die Demokratie nur von den linken und rechten Rändern, nicht jedoch aus der Mitte und von oben bedroht sei. Die Geschichte, vor allem die Geschichte der Weimarer Republik lehrt jedoch, dass eine Demokratie sehr wohl von oben und aus der Mitte und keineswegs von irgendwelchen »Links-« und »Rechtsextremisten« zerstört werden kann. Und was einmal war, das kann wieder da sein.

Renaissance und Radikalisierung einer Ideologie

»Totalitarismus« war immer mehr Ideologie als Theorie. Und auch als Theorie ist sie wissenschaftlich widerlegt. Rot ist nicht gleich braun. Faschismus und Kommunismus sind nicht bzw. nur dann zu vergleichen, wenn man vom Unvergleichbaren – dem Holocaust – abstrahiert. Doch offensichtlich ist dies, die Relativierung von Auschwitz, gewollt, weil man endlich aus seinem »Schatten« heraustreten will.

Zu dieser geschichtspolitischen kommt die gegenwartspolitische Funktion der Totalitarismusdoktrin, die jegliche Kritik an der parlamentarischen Demokratie geradezu verbietet und von den wahren Gefahren ablenkt, die sie bedrohen. Wir haben es also mit einer Renaissance und Radikalisierung einer wissenschaftlich widerlegten und politisch funktionalisierten Ideologie zu tun.