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Russland – Nazis morden in St. Petersburg

Nikolay Girenko wurde in seiner Wohnung ermordet

Am Samstag, dem 19. Juni 2004, wurde Nikolay Girenko, ein bekannter Vertreter der antifaschistischen Bewegung in St. Petersburg, in seiner Wohnung ermordet. Der 64-jährige Professor und Afrika-Spezialist war ein überzeugter Antifaschist und Antirassist. Er war Vorsitzender einer Organisation für die Rechte ethnischer Minderheiten, einer der bedeutendsten antirassistischen Organisationen in St. Petersburg und offizieller Berater der lokalen Behörden zu Rechten von Minderheiten. Girenko wurde häufig als Vertreter der antifaschistischen Bewegung zu Veranstaltungen, Diskussionen und Talkshows eingeladen. Er enga­gierte sich stark gegen Gewalt gegen ausländische Studenten und trat als Experte in Prozessen gegen Faschisten und deren Organisationen auf. In Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaftshochschule in St. Petersburg stellte er »Richtlinien für Ermittlungen der Straf­taten mit fremdenfeindlichen und Rassenhass-Motiven« auf, die die klare Benennung rassistischer Übergriffe und deren Verfolgung erheblich erleichterten.

Girenko wurde von unbekannten Tätern ermordet, die durch die Wohnungstür auf ihn schossen. Er war sofort tot. Der Mord geschah morgens, als seine Frau und seine Tochter ebenfalls zu Hause waren. Zunächst bekannte sich niemand öffentlich zu der Tat, nach einigen Tagen veröffentlichte ein faschistisches Phantomprojekt namens »Russische Republik« auf einer Website ein »Todesurteil« von Vladimir Popow, dem Herausgeber der Zeitschrift »Nasledie Predkov« und der Ex-NNP-Zeitung »Era Rossii«. Popow war stellvertretender Vorsitzender der NNP (Nationalistische Volkspartei), einer wichtigen NS-Organisation. Das »Urteil« bezieht sich auf Girenkos Tätigkeit als Experte in Prozessen gegen Rechte, aufgrund derer er als ein »überzeugter und unverbesserlicher Feind des russischen Volkes« zum Tode verurteilt werde. Es gibt die Vermutung, dass der Mord mit dem Prozess gegen die nationalistische Zeitung »Russkoye Weche« aus Novgorod zusammenhängen könnte oder mit dem geplanten Prozess gegen die Bewegung »Russische nationale Einheit« (RNE).

Der Mord wurde breit diskutiert; die Medien berichteten ausführlich –manchmal allerdings, wie z.B. die Bou­le­vardzeitung »Komsomolskaja Prav­da«, mit hämischem Unterton. Die lokalen Behörden setzten 120 Polizeibeamte – bisher erfolglos – auf diesen Fall an. Seit dem Begräbnis am 24. Juni gibt es keine weiteren Informationen zu den Tätern. Für AntifaschistInnen hat sich Lage nicht beruhigt. In Oryol, einer Stadt nahe der Grenze zur Ukraine und Weißrussland, machen RNE-Aktivisten AntifaschistIn­nen das Leben schwer. Auch hier lösten Strafverfahren gegen Neonazi-Aktivisten eine Reaktion der Faschisten aus. Anders als im Fall Girenko ist das Medienecho hier gering bis nicht vorhanden. Der für den Fall verantwortliche Staatsanwalt gab Aktivisten der RNE sogar die Adresse und persönliche Daten von Dimitri Krayuhin, einem Menschrechtsaktivisten, der an dem Verfahren gegen zwei Mitglieder der RNE-Ortsgruppe in Bryansk beteiligt ist. Die RNE druckte ein Flugblatt mit Photo, Name und Adresse von Dimitri und verbreitete es in Oryol und in anderen Orten. An Krayuhin und an den Pressesprecher der Polizei in Oryol sowie an drei progressive Zeitungen schickten sie Drohbriefe, in denen der Mord an Girenko mit dessen Ankündigung in Zusammenhang gebracht wird, auf einen Prozess gegen die RNE hinzuarbeiten. Dimitri Krayuhin wurde ebenso wie viele andere Personen und Organisationen in Oryol schon häufig bedroht.

Laut dem Moskauer Büro für Menschenrechte starben in den vergangenen Jahren zwischen 20 und 30 Menschen jährlich durch rechtsextreme Gewalt; die Zahl solcher Angriffe wächst nach diesen Angaben jährlich um 30 Prozent. Für die AntifaschistInnen bleibt die Frage, wie eine angemessene Reaktion aussehen kann. Klar ist, dass sie real bedroht werden und dass sie ein Angriffsziel geworden sind – wie ausländische StudentInnen, MigrantInnen und An­ge­hörige ethnischer Minderheiten, von denen schon viele auf den Straßen russischer Städte ermordet wurden. Es ist auch klar, dass es schwierig ist, sich gegen gezielte Schüsse zu schützen, wenn man offene antifaschistische Arbeit betreibt. Nichtsdestoweniger hatte der Mord an Girenko großen Einfluss auf die öffentliche Meinung und die Gefahr des Neonaziterrors wurde breiter wahrgenommen. Jedoch werden die wahrgenommenen persönlichen Risiken eines öffentlichen Engagements gegen Faschisten deutlich erhöht.

Mit anderen Worten, es wird klar, dass man bereit sein muss, als ein engagierter Antifaschist wortwörtlich das Leben zu riskieren, zumal man sich mangels gut organisierter Strukturen in Russland als engagierte Einzelperson schnell in die »Schusslinie« gerät.