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Putins großrussischer Nationalismus und der Ukraine-Krieg

Einleitung

Großrussischer Nationalismus prägt die Reden, mit denen Russlands Präsident Wladimir Putin im Februar 2022 den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine legitimierte. In ihnen sprach Putin der Ukraine letztlich das Existenzrecht ab.

Foto: flickr.com; Gregor Tatschl; CC BY-SA 2.0

Großrussische Töne mit Bezug auf die Ukraine sind bei Wladimir Putin nicht neu. Im September 2013 etwa, als der Streit um das Assoziierungsabkommen des Landes mit der EU zu eskalieren begann, hatte der Präsident auf dem Waldai-Forum, einem internationalen Treffen von Politiker_innen, Journalist_innen und Wissenschaftler_innen, erklärt, Russland und die Ukraine hätten „gemeinsame Traditionen, eine gemeinsame Mentalität, eine gemeinsame Geschichte und Kultur“. Traf dies im Hinblick auf die Geschichte insofern zu, als weite Teile der heutigen Ukraine lange Zeit zum russischen Zarenreich, dann zur Sowjetunion gehört hatten, so zog Putin deutlich weiter reichende Folgerungen. „In dieser Hinsicht“, äußerte er, „sind wir ein Volk“; „die Ukraine ist ein Teil unserer großen russischen oder russisch-ukrainischen Welt“. Russland erhob also gewissermaßen – in welcher genauen Form auch immer – Anspruch auf sie.

Kurz nach der Eskalation des Ukraine-­Konflikts 2013 und dem Kiewer Umsturz im Februar 2014 war Putin sogar noch einen Schritt weiter gegangen. Mehrfach nutzte er im Lauf des Jahres den Begriff „Neurussland“ („Noworossija“) für Teile der Ukraine, und zwar für diejenigen Gebiete unmittelbar nördlich des Schwarzen Meers, die Russland während des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts unter der Zarin Katharina der Großen neu erobert hatte. Dort sprach – und spricht – die Mehrheit der Bevölkerung zwar bis heute Russisch als Muttersprache; territoriale Ansprüche leiten daraus aber nur großrussische Natio­nalisten ab. Als der Krieg im Donbass Anfang 2015 ein wenig abflaute, griff Putin auf den Begriff „Neurussland“ dann nicht mehr zurück. Praktische Schritte hatte Moskau damals nicht aus ihm abgeleitet. Die Aufnahme der Krim in die Russische Föderation war geostrategisch motiviert. Die Gebiete Donezk und Luhansk wiederum, die sich nach ihrer Abspaltung eine kurze Zeit „Föderativer Staat Neurussland“ nannten und die großrussische Natio­nalisten gern gleichfalls Russland zugeschlagen hätten, wurden von Russlands Regierung nicht einmal als unabhängige Staaten anerkannt.

Größere Aufmerksamkeit erregte dann erst wieder ein Artikel, der im Juli 2021 unter Putins Namen veröffentlicht wurde. Der Ukraine-Konflikt hatte sich über die Jahre hin immer weiter zugespitzt; der russische Präsident bezog nun grundsätzlich Position. Unter der Überschrift „Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern“ erklärte er im Rahmen eines Exkurses zur russischen Geschichte in großrussischer Interpretation, die politische „Mauer“, die in den Jahren zuvor zwischen Russland und der Ukraine errichtet worden sei, trenne zwei Teile eines eigentlich einheitlichen „geschichtlichen und geistigen Raums“: „Russen, Ukrainer und Belarussen sind alle Nachkommen der Alten [Kiewer] Rus.“ An der ideologischen Vereinnahmung der Ukraine hielt Putin auch in seiner Rede am 21. Februar 2022 fest: „Die Ukraine ist für uns nicht einfach ein Nachbarland“, erklärte er; „sie ist integraler Bestandteil unserer eigenen Geschichte, unserer Kultur, unseres geistigen Raums.

Auf die Frage, wie denn eigentlich ein ukrainischer Staat entstehen konnte, wenn das Land doch angeblich nur ein Teil Russlands sei, hatte Putin in seinem Artikel vom Juli 2021 seine ganz eigene Antwort parat. Während Historiker_innen auf eine zwar schwache, aber immerhin existierende ukrainische Nationalbewegung im 19. Jahrhundert und auf eine kurzlebige, aber halbwegs funktionierende ukrainische Staatsgründung im Jahr 1918 hinweisen, behauptete der russische Präsident, die heutige Existenz der Ukraine gehe einzig und allein auf die Gründung der Ukrainischen Sowjetrepublik zurück. Moskau habe ukrainischen Nationalisten mit dieser Gründung vollkommen unangemessene Zugeständnisse gemacht: ein verheerender Fehler, den Lenin persönlich zu verantworten habe. Die Sowjetunion habe anschließend, indem sie ihren Teilrepubliken auch noch ein Recht auf Abspaltung eingeräumt habe, „eine äußerst gefährliche Zeitbombe“ in ihren staatlichen Strukturen platziert, die 1991 tatsächlich explodiert sei: Die Teilrepubliken hatten sich damals bekanntlich unabhängig gemacht. Die Ukraine sei also letzten Endes ein bloßes „Ergebnis der bolschewistischen Politik“. Putin beschimpfte sie am 21. Februar verächtlich als „Wladimir-Lenin-Ukraine“.

Von Lenin hält Putin natürlich, vorsichtig formuliert, nicht viel. Holten die Ukrainer heutzutage nicht „die Lenindenkmäler vom Sockel“? Der russische Präsident hatte dafür erhebliche Sympathie: „Überwindung des Kommunismus nennen sie das“, stellte er am 21. Februar 2022 durchaus zustimmend fest. Freilich dürften die Ukrainer dabei nicht „auf halbem Wege stehen bleiben“, fuhr Putin fort: „Wir zeigen euch gern, was eine echte Überwindung des Kommunismus für die Ukraine bedeutet.“ Sollte heißen: Wenn die Ukraine, wie Putin behauptete, nur von den Bolschewiki geschaffen worden war, dann musste die Überwindung des Bolschewismus zugleich das Ende des ukrainischen Staats bedeuten. Die Ukraine hat also laut dem russischen Präsidenten kein wirkliches Existenzrecht mehr.

Ergänzend erklärte Putin, der heutigen Ukraine seien große, eigentlich zu Russland gehörende Gebiete völlig unangemessen zugeschlagen worden; sie befinde sich „zu einem nennenswerten Teil auf den Ländern des historischen Russland“. Der russische Präsident führte dazu schon im Juli 2021 nicht nur die Krim an, die Moskau 1954 per Federstrich Kiew unterstellt hatte. Auch der Südwesten des Landes, die Karpatenukraine, sei nach dem Zweiten Weltkrieg gegen den Willen ihrer Bevölkerung, die eine eigene Sowjetrepublik verlangt habe, in die Ukraine eingegliedert worden, äußerte Putin. „Neurussland“, das gegen Ende des 18. Jahrhunderts von Russland eroberte Gebiet nördlich des Schwarzen Meeres, das diverse ukrainische Großstädte von Odessa über Cherson bis Mariupol umfasst, ließ er damals unerwähnt. Dass sich die Ukraine auf einem Teil des „historischen Russlands“ befindet, trifft rein historisch gesehen zwar zu. Wer daraus jedoch praktische Folgen ableiten will, öffnet revanchistischer Politik Tür und Tor.

Genau dies zeichnet sich jetzt tatsächlich in Russlands Kriegführung in der Ukraine ab. Die Territorien, die Moskau erobert hat oder zu erobern sucht, sind sämtlich Gebiete, die zum historischen „Neurussland“ zählten, die also laut großrussischer Vorstellung Teil Russlands sein sollen. Das trifft auf das in erbitterten Kämpfen eroberte Mariupol ebenso zu wie auf Melitopol, wo die russischen Besatzer bereits Mitte März den Bürgermeister ab- sowie eine neue Statthalterin einsetzten. Es gilt auch für die Großstadt Cherson, in der mittlerweile mit Rubel gezahlt wird und von der der stellvertretende Chef der russischen Militärverwaltung erklärt, er sehe ihre Zukunft „als eine Region innerhalb der Russischen Föderation“. Die Behauptung des russischen Präsidenten vom 24. Februar 2022 – unmittelbar bei Kriegsbeginn –, man habe nicht vor, „ukrainische Gebiete zu besetzen“, ist wohl längst widerlegt – es sei denn, man versteht „Neurussland“ als genuin russisches, nicht als ukrainisches Gebiet.

Liefern Putins Artikel vom Juli 2021 und seine Reden vom 21. und vom 24. Februar 2022 die großrussische Legitimation für eine sich abzeichnende Annexion von Teilen der Ukraine, so muss man ehrlicherweise hinzufügen: Großrussischer Nationalismus ist beileibe nicht ihr einziges Motiv. Einen zentralen Stellenwert nimmt vielmehr heftige Kritik am vermeintlichen Bemühen der westlichen Mächte ein, die Ukraine gegen Russland in Stellung zu bringen, sie quasi als Rammbock im Machtkampf des Westens gegen Moskau zu nutzen. Indem die EU sowie die USA alles unternommen hätten, um in Kiew prowestliche Kräfte an die Macht zu bringen, hätten sie die Ukraine faktisch zu einem „Anti-Russland-Projekt“ gemacht, kritisiert der russische Präsident. Blickt man auf die Bestrebungen, die Ukraine an die EU und die NATO anzubinden, dann ist das Argument nicht gänzlich falsch.

Selbstverständlich rechtfertigt es aber den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, den Russland losgetreten hat, nicht im Geringsten.