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Probleme jugendlicher MigrantInnen aus der Türkei in Deutschland

Einleitung

Einen »verlockenden Fundamentalismus« macht der »Extremismusforscher« Wilhelm Heitmeyer in  seiner Studie zu den Einstellungen der in Deutschland aufwachsenden türkischen Jugendlichen aus1 .  Diskriminierung durch die deutsche Gesellschaft, die besonderen Belastungen eines Lebens zwischen zwei Kulturen und eine traditionelle Verpflichtung gegenüber dem Islam seien die Hauptursachen für diese Entwicklung, wie Heitmeyer und seine zwei Kollegen herausgefunden haben wollen. Auch die links-alternative "tageszeitung" (taz) macht sich im Berliner Lokalteil Gedanken über jugendliche MigrantInnen und zitiert Statistiken aus dem Bezirk Kreuzberg, wo sie die »größte türkische Community Deutschlands« verortet.2 Hohe Arbeitslosigkeit und überdurchschnittlich viele Sozialhilfeempfänger werden angeführt - ein Drittel der Migrantnnenkinder breche die Schulausbildung vorzeitig ab. Deutsche Sozialarbeiter und Grundschullehrer bemühten sich vergeblich, einer Generation Jugendlicher Herr zu werden, die dabei sei, »sich mit dem Status als Deklassierter zu identifizieren« und folglich nur noch ihren eigenen Gesetzen und Regeln folge: Der Suche nach dem schnellen Geld oder die Tendenz »zu extrem nationalistischen, religiösfanatischen Positionen«. Von der »Tatsache, daß viele Jugendliche ständig ein Messer bei sich haben« mal ganz zu schweigen...

  • 1Wilhelm Heitmeyer/Joachim Müller/Helmut Schröder: »Verlockender Fundamentalismus«, Edition Suhrkamp, 1997.
  • 2»Der Respekt geht in Kreuzberg flöten«. In: tageszeitung (taz) berlin, 29. April 1997, Seite 23.
Bild: DBP 1981/ Wikimedia

So stellte sich die Deutsche Bundespost 1981 die "Integration Ausländischer Arbeitnehmerfamilien" vor.

Zu den Schwierigkeiten jugendlicher MigrantInnen in Deutschland veröffentlichen wir an dieser Stelle eine Zusammenfassung diverser Texte aus der Berliner MigrantInnenzeitung »inisiyatif«, herausgegeben von der Gruppe ADA-Genclik.

Vor allem nach den Morden in Solingen wurden in den Medien die Diskussionen über türkische Jugendlichen in Deutschland wiederbelebt. Die meist gestellte Frage war, wie diese Jugendlichen in die bundesdeutsche Gesellschaft zu integrieren seien. In diesem Artikel geht es um die Probleme und Konflikte, die die Jugendlichen mit der deutschen und der türkischen Gesellschaft haben und warum für sie eine sogenannte »Integration« unmöglich ist. Und darum, wie sich die Jugendlichen als Reaktion auf einen gescheiterten Versuch der Integration bemühen, eine eigene Identität zu finden.

In vielen Punkten geraten die Jugendlichen in Konflikte, die sie durch widersprüchliche Anforderungen der türkischen und deutschen Gesellschaft erfahren. Dabei ist das Problem eher in den Bedingungen zu suchen, unter denen dieses geschieht als in jener Tatsache, daß sie mit zwei bzw. mehreren »Kulturen« konfrontiert werden.

Die Jugendlichen sind dem Druck und der Kontrolle von Gemeinschaft und Familie unterworfen. Vor allem der Vater setzt in der Familie meistens die Traditionen und Normen durch. Die Gemeinschaft gibt dem einzelnen auf der einen Seite Sicherheit und Orientierung - in einer kalten Gesellschaft für sie außerordentlich wichtig - auf der anderen Seite bleibt ihnen wenig Raum für individuelle Bedürfnisse. Sie haben kaum Freiräume, in denen sie sich ungestört bewegen bzw. entwickeln können.

Aber die traditionellen Familien lösen sich auf und dienen immer weniger der Orientierung, sie entsprechen nicht mehr den Anforderungen der heutigen Gesellschaft. Die Distanz zum Vater ist entscheidend für die Heftigigkeit daraus resultierender Konflikte in der Familie. Diese Distanz bedeutet für die Jugendlichen einerseits Freiheit, aber genauso Angst, Vereinzelung und Orientierungslosigkeit.

In der traditionellen türkischen Gesellschaft leben Männer und Frauen meistens in getrennten Gesellschaftsbereichen: Der Mann in der Öffentlichkeit, die Frau im Haus. Sie ist dem Mann untergeordnet, ihre Sexualität durch Tabus und Normen dem Mann unterworfen und auf die Ehe begrenzt. Dagegen gilt Sexualität männlicher Jugendlicher eher als »unbändig«. Ihr Vorbild ist der Patriarch als sorgen der Verteidiger der Gemeinschaft.

Diese Rollenerwartungen stehen allerdings in ständigem Konflikt mit dem zunehmenden Wunsch nach Gleichberechtigung der Geschlechter. Sie hindern die Jugendlichen daran, die gesellschaftlichen Freiräume für ihre Selbstentfaltung zu nutzen. Druck der Gemeinschaft und Bedürfnisse der Einzelnen stehen gegeneinander.

In einer anonymisierten Gesellschaft machen Jugendliche aber die Erfahrung, wie leicht es ist, Tabus zu durchbrechen. Mädchen haben es dabei schwieriger als Jungen, weil sie ihre Bedürfnisse nur ausleben können, wenn sie wirtschaftlich und sozial unabhängig sind. Die meisten wenden sich gegen das traditionelle Bild der Frau als Ehefrau und Mutter, sie folgen vielmehr dem emanzipierten Frauenbild. Gleichzeitig ändert sich auch die traditionelle Männerrolle, die Macht, Freiheit und Vergnügen symbolisiert. Weil sie in dieser Gesellschaft täglich ihre Machtlosigkeit erfahren, grenzen sich männliche Jugendliche von ihrer Vaterfigur ab.

Die Bedeutung der Sprache

Hinzu kommt das Problem der Kommunikation. Da viele aus der zweiten Generation ihre Kindheit zwischen Deutschland und der Türkei erlebten, hatten sie in der Schule früher Sprachprobleme. Für die sogenannte dritte Generation stellt sich das Problem eher Zuhause - in Familie oder Gemeinschaft. Die meisten Eltern sprechen miteinander nur türkisch, während die Kinder in Schule oder Freundeskreis fast ausschließlich deutsch sprechen.

Für kurdische Jugendliche gilt beispielsweise: Zuhause kurdisch, auf der Straße meist türkisch, in der Schule deutsch. Zwar gibt es in manchen Schulen wöchentlichen Türkischunterricht, dort stehen allerdings oft Religion und Vaterlandsliebe im Vordergrund.

Sprachliche Mängel sind neue Problemursache: Die Kommunikation mit den Eltern nimmt immer mehr ab oder reißt ganz. Mit mehreren Sprachen konfrontiert, entwickeln die Jugendlichen letzendlich eine eigene Form der Ausdrucksweise, die ihre unterschiedlichen Erfahrungen mit der deutschen und türkischen Gesellschaft verarbeitet. Wie bei den »Spanglish«-sprechenden LateinamerikanerInnen in den USA entwickelt sich eine doppelte oder gar dreifache »Halbsprachigkeit«, in der deutsche, kurdische bzw. türkische und teilweise auch  englische Wörter ihren Platz finden. In diesem »Slang« können sie sich besser verständigen, aber nur untereinander. Gerade diese Entwicklung der Sprache zeigt das Spannungsfeld, in dem sich die Jugendlichen befinden.

Ein gravierender Punkt ist das Erleben der deutschen Gesellschaft. Es geht hier um die Barrieren, die durch Diskriminierung und Ausgrenzung von seiten der deutschen Gesellschaft geschaffen werden. Dabei erleben die Jugendlichen die Bundesrepublik in der Regel anders als ihre Eltern.

Die »erste Generation« ist in die BRD gekommen, um die matrielle Situation für sich bzw., die Familie in der Türkei zu verbessern und verlangen dasselbe von ihren Kindern. Die neue Generation allerdings ist in diesem Land aufgewachsen, setzt sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen viel intensiver auseinander, die Einstellung der Eltern wird von ihnen kritisiert. Für die meisten von ihnen ist Rückkehr keine »Alternative«. Lebensmittelpunkt ist das Land, in dem sie aufgewachsen sind: das sogenannte Deutschland.

Allerdings muß dieser Begriff neu definiert werden Deutschland ist nicht allein das Land der Deutschen. Das Interesse der Jugendlichen an guter Ausbildung, einem interessanten Job, einem intensiven Leben ist oft Ausgangspunkt einer kontroversen Auseinandersetzung mit den Eltern, die teilweise zum Bruch in der Familie führt.

Die Jugendlichen bemühen sich um Verbesserung der eigenen wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen: Während ein Teil von ihnen qualifizierte Berufe erreicht, bleibt ihnen eine höhere Ausbildung zumeist verschlossen.

Andererseits gibt es viele, die bereits die Schulausbildung abbrechen. Ohne gesellschaftliche Anerkennung werden sie auch in Randbereiche wie Spielhallen oder Drogenszene abgedrängt. Türkischsprachige Streetworker oder Lehrkräfte, die sich  ihren spezifischen Problemen widmen, gibt es nur wenige.

Das Scheitern ist so die Kehrseite des Aufstiegs und bestimmt die alltägliche Erfahrung der Jugendlichen. Das hat auch mit der Diskriminierung zu tun, die die Jugendlichen in vielen Bereichen der Gesellschaft erleben. Sie sind von den meisten Bürgerrechten ausgeschlossen, weil ihnen ein »Ausländer«-Status zugewiesen wird. In Arbeits- und Berufswahl sind sie gegenüber Deutschen benachteiligt, ihre Bildungschancen  sind also eingeschränkt, damit auch die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs. Türkische Staatsbürger sind in Deutschland zudem nicht »ausländische Mitbürger« zweiter, sondern gar nur dritter Klasse. Menschen mit EU-Ausweis genießen mehr Rechte als sie (kommunales Wahlrecht, Aufenthaltsstatus, etc.).

Auf der Suche nach einer Identität in Deutschland

Die deutsche Gesellschaft selbst wird als feindlich erlebt, der jugendliche MigrantInnen-Alltag wird bestimmt durch den deutschen Rassismus.

Täglich von Bundesregierung, etablierten Parteien, Medien, staatlichen wie nichtstaatlichen Institutionen neuproduziert und praktiziert, reicht er bis hin zu körperlichen Angriffen. Vorurteile und Ausgrenzung durch die Deutschen und ihre Geschichte machen es den Jugendlichen schwer, sich zu integrieren. In der praktischen Anwendung meint »Integration« sowieso nichts anderes als Assimilation bzw. eine Vorherrschaft von Deutschen gegenüber ihren »ausländischen Mitbürgern«.

Die überwiegende Mehrheit der MigrantInnenjugend lehnt ein solches kritikloses Anpassen an die deutsche Gesellschaft allerdings ab, sie streben nach einem gleichberechtigtem Leben. Manche versuchen durchaus, ihre Position in der deutschen »Mehrheitsgesellschaft« zu festigen, indem sie als Aufsteiger gegen ihrer eigene Vergangenheit ankämpfen. Sie inszenieren einen Konkurrenzkampf gegen alle anderen, was für »Ausländer« aber ziemlich schwierig ist.

Andere, die in diesem Konkurrenzverhältnis die Unterlegenen sind, greifen auf Gemeinschaftsideologien zurück, etwa islamischen Fundamentalismus oder türkischen Nationalismus. Auf die Diskriminierung als »Scheiß Türke« reagieren sie zum Beispiel mit »Türken sind die Besten«. Sie erfahren ihre nationale Zuordnung nicht als positiv, sondern nur als negativ - als Ausgrenzungsmerkmal. Wenn die türkischen Jugendlichen etwa mit türkischer Fahne auftauchen, ist das in erster Linie Selbstverteidigung, Verteidigung der eigenen Würde gegen die ständig erfahrene Erniedrigung, und nicht gleich der Ausdruck nationaler Ideologie.

Die Abgrenzung von der deutschen Gesellschaft findet über die Familie und die vermittelten Normen und Werte statt. Dabei spielen auch Kommunikationsmittel eine wichtige Rolle: Türkische Fernsehkanäle propagieren via Satellit oder Kabel hauptsächlich Nationalismus. So kommt es teilweise zu einem radikalen Bruch mit westlichen Vorstellungen - eine Reaktion auf den gescheiterten Versuch der Intergration. So bewirkt der hiesige Rassismus auch, daß ImmigrantInnen - vor allem Jugendliche - ihre individuelle Identitätssuche (erst einmal) mit der Hinwendung zu den tradierten Werten »ihrer Heimat« abschließen. Fragen nach Nationalität, Religion oder den Verhältnissen im Herkunftsland der Eltern sind »in«.

Solche Themen werden seit jeher gezielt von türkischen Faschisten angesprochen. So ist ihr Zulauf nicht verwunderlich, eine ähnliche Entwicklung ist bei islamisch-fundamentalistischen Organisationen zu verzeichnen.

Jugendgangs gegen gesellschaftliche Ausgrenzung

Die meisten Jugendlichen allerdings fühlen sich weder von Türken noch von Deutschen verstanden. Zwar lehnen sie weder Gesellschaft noch Familie völlig ab, aber sie können kein Gleichgewicht finden. So suchen sie nach einer »erträglichen« Linie in der Gesellschaft, ohne zugespitzte Gegensätze. Dies erweist sich meistens jedoch als irreale Vorstellung. So fangen die derart Ausgegrenzten an, sich selbst in Isolation zu begeben. Sie distanzieren sich von beiden Seiten und bevorzugen die Gruppenbildung mit Gleichartigen.

Während Mädchen sich dabei hauptsächlich von den eigenen Familien abgrenzen, organisieren sich Jungen eher in selbstorganisierten »Jugendbanden«. Diese bedeuten kollektive Stärke und Widerstand und beziehen sich häufig auf eine regionale Identität, etwa den Stadtteil, in dem die Gruppenmitglieder leben. Die meisten verstehen sich weder als Türken noch als Deutsche und wollen auch nicht als solche verstanden werden. Die Außenseiterrolle wird dabei nicht nur passiv in Kauf genommen, sondern wird zu einem bewußt gewählten Identifikationsmuster.

Die Mitglieder sogenannter Jugendgangs wollen in ihrem »Anderssein« anerkannt werden und schaffen sich ihre eigene Kultur - in kritischer Distanz zu Eltern und Deutschen. Diese Gruppen bieten den Jugendlichen Freundschaften und Beziehungen zu Leuten mit denselben Problemen. Der dort stattfindende Austausch dient somit auch der Orientierung - Mehrsprachigkeit und die Erfahrung mit unterschiedlichen Kulturen ist mehr Vorteil denn Problem. Hinzu kommt eine wichtige Schutzfunktion: Als sich Ende der 80er bzw. Anfang der 90er beispielsweise in Berlin türkische/kurdische Jugendliche in Gangs organisierten, war es für sie ganz selbstverständlich, Neonazis anzugreifen und sich Freiräume zu erkämpfen - aller Kriminalisierung und einer ablehnenden Öffentlichkeit zum Trotz.

Das kann natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, daß es manchmal auch Konflikte zwischen den Gruppen gibt, bei denen es um Dominanz und Macht geht. Geht es jedoch gegen den gemeinsamen Feind, die Neonazis, arbeiten sie schnell wieder zusammen.

MigrantInnenjugendliche der zweiten und dritten Generation streben nach Selbständigkeit und der Möglichkeit, mehrsprachig und ohne Zwänge zu leben. Für die Gestaltung ihrer Zukunft halten sie eine Verteidigung gegen die herrschenden - von Deutschen dominierten - Verhältnisse für unausweichlich. Vor allem nach den Morden in Solingen war offensichtlich, daß sie zwecks Selbstverteidigung zu jeglichen Aktionen bereit sind.

Ohne das Bündnis zu »deutschen AntifaschistInnen« zu suchen, gingen sie auf die Straße und demonstrierten deutlich und militant ihre Wut. Zeigte das zaghafte staatliche Vorgehen gegen Neonazis und deren Organisationsstrukturen doch nur zu deutlich, wie behutsam die Schreibtischtäter_innen mit ihren »ungezogenen Kindern« umgehen. Den Flüchtlingen und MigrantInnen wird damit klargemacht, daß sie in Deutschland nur als »Freiwild« geduldet werden.

Integration ist unmöglich

Letztendlich ist eine »Integration« dieser Jugendlichen in die deutsche Gesellschaft unmöglich, vielmehr werden sie hier systematisch ausgegrenzt.

Aber auch Familie und Gemeinschaft stellen Anforderungen an sie, die sie weder erfüllen können noch wollen. Die meisten von ihnen gehen mit dieser doppelten Isolation allerdings positiv um. Denn wo die Isolation einer Gruppe beginnt, herrscht keine Ohnmacht, sondern vielmehr die Suche nach neuen Erfahrungen und Wertvorstellungen. Diese Situation ist also nicht das Ende, sondern vielmehr der Anfang einer Suche nach eigener Identität.

Dieser Prozeß, der sich beizeiten auch rüde und undifferenziert gegen die Deutschen richten kann, muß unterstützt und gefördert werden. In der aktuellen Entwicklung zeichnet sich aber ab, daß nationale Identitätsbildung Vorrang hat.

Entsprechend verschärft sich die Polarisierung zwischen jugendlichen MigrantInnen und der deutschen Gesellschaft - ebenso aber zwischen türkischen und kurdischen Jugendlichen. Der Raum für die Schaffung von eigenen Freiräumen und kollektiven Zusammenhängen wird so immer enger, ein »Zusammenleben in Gleichheit und Frieden« erscheint beizeiten völlig unmöglich.