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Lampedusa in Hamburg

Hamburger Unterstützer_innenkreis
Foto: flickr.com; Rasande Tyskar/CC BY NC 2.0

Die Gruppe Lampedusa in Hamburg (LiHH) trat Anfang Mai 2013 beim evangelischen Kirchentag erstmals an die Öffentlichkeit. Sie beschreibt ihre Ge­schichte so: »Wir sind alle aus verschiedenen Ländern, zu verschiedenen Zeiten und aus verschiedenen existenziellen Gründen nach Libyen gegangen. Dort haben wir gelebt und gearbeitet – auch noch als bereits Kämpfe zwischen Rebellengruppen und Regierungskräften ausgebrochen waren. Mit dem Eintritt der NATO in den Konflikt eskalierte der Krieg im ganzen Land. Unter Verlust von allem, was wir besaßen, den Tod ständig an unserer Seite, erreichten wir Lampedusa. Wir wurden in verschiedene Regionen in Italien verteilt, untergebracht und minimal versorgt im Rahmen des EU-Programms ‘Notstand Nordafrika’ (emergenza nordafrica). Wir durchliefen den Prozess der Ein­zelverfahren und erhielten Aufenthalt und italienische Dokumente, die unseren Schutzstatus garantieren. Aber kurz danach wurde das Notprogramm beendet. Die italienischen Behörden setzten uns im Winter 2012 auf die Straße, erklärten, dass es keine Lebensperspektive dort für uns mehr gäbe. Sie forderten uns auf, in andere Länder der EU zu gehen.« In ganz Europa existiert »Lampedusa« – gerade ist eine Gruppe publik geworden, die in einer Frankfurter Kirche Unterschlupf fand.

Die in Hamburg Gestrandeten konn­ten im städtischen Erfrierungsschutzprogramm für obdachlose Menschen den letzten Winter notdürftig überstehen. Als dieses Mitte April 2013 schloss, begannen sich die nunmehr obdach- und mittellosen Menschen zu organisieren. Schnell fanden sie Unterstützung durch Gruppen und Einzelpersonen vor allem aus dem linken und antirassistischen Spektrum. Eine engagierte Kirchengemeinde bot dann Unterkunft für 80 Menschen an und wurde damit öffentlichkeitswirksamer Mittelpunkt der folgenden Auseinandersetzung.

Grundlage des sich in dieser Notlage bildenden Netzwerks von unterschiedlichsten Menschen und Organisationen war und bleibt die Selbstorganisation der Gruppe. Weil sie ihr Problem nicht nur als ein humanitäres, sondern eben als ein in erster Linie politisches artikuliert, konnte ihr Kampf einen Anknüpfungspunkt für alle bieten, die dem europäischen Migrationsregime kritisch gegenüberstehen.

Mit der Unterbringung von ca. 80 Gruppenmitgliedern in der St. Pauli-Kirche hat sich dort eine Form von Unterstützung etabliert, die dem Selbst­verständnis des Stadtteils als alternativem bis linkem Kiez, geprägt vom Hafen und FC St. Pauli, entspricht. Ex-Türsteher Hotte, der die Tür zur Kirche wegen der Angst vor Überfällen nachts bewacht, die Kinder der benachbarten Stadtteilschule, die ihre Turnhalle als Unterkunft anbieten, von pensionierten Lehrer_innen organisierte Deutschkurse, Kultur- und Sportveranstaltungen sowie die engagierte Fanszene des FC St. Pauli standen der  in Deutschland aufkommenden Pogromstimmung gegen Geflüchtete wie u.a. in Berlin-Hellersdorf entgegen und ermöglichten vielen Menschen eine Identifikation. Leider wird oft vergessen, dass Protest und Unterstützung deutlich dezentraler und auch uneinheitlicher sind als die übliche Darstellung der St. Pauli-Kirche. So war der Ausgangspunkt des Protestes nach dem verhinderten Aufbau einer Zeltstadt im Mai 2013 das Infozelt am Hamburger Hauptbahnhof, das bis heute als Treffpunkt für die Gruppe und ihre Unter­stütze­r­_innen besteht.

Von Anfang an war klar, dass die Hamburger SPD-Regierung die LiHH-Gruppe loswerden möchte. Nachdem sich die Kirche im Mai 2013 aus den Verhandlungen zurückgezogen hatte, da sie nicht als Erfüllungsgehilfin der Abschiebebestrebungen des Senats fungieren wollte, schien dieser zu hoffen, dass der Bewegung und Solidarität mit der Zeit die Luft ausgehen würde. Dies geschah allerdings nicht: Die Gruppe schaffte es, unter schwierigsten Bedingungen zu bestehen und geeint aufzutreten, wobei sie selbstbewusst immer wieder Forderungen artikulierte.

Die Solidarität aus der Hamburger Bevölkerung wuchs immer weiter und es gab ein steigendes Interesse für die Hintergründe der Forderung nach einer Anerkennung als Kollektiv. Auch das Interesse der Medien riss nicht ab. Die im September 2013 durch die europäische Flüchtlingsabwehr hervorgerufene Katastrophe vor Lampedusa warf weiteres Licht auf die prekäre Situation der Überlebenden. Die Gruppe wies immer wieder auf die Rolle des NATO-Mitglieds Deutschland als Fluch­t­verursacher hin und benannte die Zusammenhänge zwischen kriegerischen Interventionen »im Namen der Menschenrechte«, der Ausbeutung des afrikanischen Kontinents und ihrer Flucht.

Im Herbst wurde die Notwendigkeit für den Senat stärker, zu beweisen, dass er die Situation unter Kontrolle habe. Die rassistische »Law and Order«-Politik passt sehr gut zur Hamburger SPD, da diese sich nie von ihrer diskriminierenden Politik der Schill-Ära gelöst hat und schon länger führende Persönlichkeiten des rechten SPD-Spektrums stellt. Es wurden polizeiliche Kontrollen durchgeführt, die dazu führten, dass mehrere Mitglieder der Gruppe als des »illegalen Aufenthalts« Verdächtige festgenommen und ED-Behandlungen unterzogen wurden. Jedoch rief diese Aktion eine unerwartet große Welle von Protesten hervor, befeuert durch eine Diskussion um »racial profiling«.

Die andauernden Proteste führten zu einer vorläufigen Aussetzung der Kontrollen, was als kleiner Erfolg zu werten ist. Dennoch gibt es keinen Anlass zur Hoffnung, dass der Hamburger Senat von seiner Haltung abrücken wird: Die Forderung nach einem Recht auf Aufenthalt wird stets mit dem Hinweis beantwortet, rechtsstaatliche Verfahren würden für alle gelten und eine Verfahrensgarantie für den Klageweg durch die Instanzen sei größtmögliches und auch außerordentlich großzügiges staatliches Entgegenkommen.

Kürzlich antwortete Innensenator Neumann auf die Frage, warum er nicht ein einziges Mal das Gespräch mit den Flüchtlingen gesucht habe: »Denken Sie etwa, dass es die Aufgabe eines Innensenators wäre, sich mit Kriminellen zu unterhalten?«

Abgesehen davon, dass dies selbstverständlich zu seinen Aufgaben gehören sollte, offenbart diese öffentlich demonstrierte markige Härte, dass die regierende SPD nicht an einer Lösung interessiert ist, die den Betroffenen den Status als gleichwertige, anzuerkennende Menschen zugesteht. Ergänzend vollbringt sie das Kunststück, Unterstützer_innen bis hin zur Kirche zu kriminalisieren und sich gleichzeitig mit dem zivilgesellschaftlichen Engagement in der »weltoffenen Hansestadt« zu brüsten.

Daran ändert auch das Bekenntnis: »Ja, es muss sich (irgendwann) etwas an der europäischen Flüchtlingspolitik ändern« nichts, das die Hamburger SPD in einem Papier, unter dem Titel »Flüchtlingspolitik in Hamburg – humanitär und rechtsstaatlich«, gerade präsentierte.

Eine Demonstration am 2. November 2013 mit ca. 20.000 Teil­neh­me­r_in­nen hat jedoch ein deutliches Zeichen gesetzt – seit langem sind in Hamburg nicht mehr so viele Menschen auf die Straße gegangen. Die Stärke der Bewegung ermöglicht der Gruppe, trotz der starren Haltung des Senats selbstbewusst zu agieren und an ihrer Forderung nach einer solidarischen Gruppenlösung nach §23 Aufenthaltsgesetz festzuhalten. Fast täglich ereignen sich Protestaktionen und wir hoffen, dass alle solidarisch Engagierten den langen Atem bewahren können, mit dem uns unsere Freunde der Gruppe »Lampedusa in Hamburg« so tief beeindrucken. Viel hängt auch davon ab, ob diese Menschen, die seit Jahren jeder Lebensperspektive beraubt sind, dem Druck weiter standhalten können. Sie haben jedoch auch kaum eine andere Wahl, als ihr Recht durchzusetzen, in Europa überhaupt existieren zu dürfen.

Wir können  aufgrund des beschränkten Platzes nicht auf alle notwendigen Details und Entwicklungen eingehen – beispielsweise auf die ganze Vielfalt der solidarischen Aktionen oder die teilweise problematische Haltung der Kirche.