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Keine Befehlsgewalt

Einleitung

Nach 58 Jahren steht der »Schlächter von Genua« vor Gericht. Er wirkt weder müde noch alt und benötigt nur zwei Hörgeräte, um dem Verfahren zu folgen. Seit dem 8. Mai 2002 wehrt sich der früherer SS-Oberstleutnant Friedrich Engel vor dem Hamburger Landgericht gegen die Anklage des Mordes in 59 Fällen.

Bild: Screenshot youtube.com

Der frühere SS-Oberstleutnant Friedrich Engel in einem Fernsehbeitrag der Sendung "kontraste".

»Ich widerspreche der Anklage«, verkündete der geistig rüstige Rentner am ersten Verhandlungstag vor der großen Strafkammer. Während das Militärgericht Turin den heute 93jährigen ehemaligen SS-Kommandanten von Genua 1999 wegen drei Massakern, denen 246 Menschen zum Opfer fielen, in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilte, muss sich der »Schlächter von Genua« in Hamburg nur wegen der »Turchino Aktion« verantworten. Mai 1944: In Italien haben die Partisanenaktionen gegen die Wehrmacht zugenommen. Das SS-Oberbefehlskommando Oberitalien leitet den »Führerbefehl« weiter, bei Anschlägen »Sühneaktionen« im Verhältnis von zehn ermordeten Italienern zu einem toten Deutschen durchzuführen.

Am 5. Mai 1944 sterben fünf Marinesoldaten bei einem Bombenanschlag auf ein Wehrmachtskino in Genua. Als Chef der Gestapo und der SS befiehlt Engel die »Sühneaktion«. 59 Zivilisten und Partisanen, die wegen anderer Straftaten oder Aktionen verhaftet worden waren, wählt die SS aus dem Stadtgefängnis von Marassi (Genua) aus und verschleppt sie zum Passo del Turchino, wo SS- und Marineeinheiten sie erschießen. »Ich möchte betonen« führt Engel vor Gericht aus, dass »sie Märtyrer waren. Sie weinten nicht, sie schrien nicht, sie flehten nicht um Gnade«. An den Verlauf der Erschießung will er sich nicht genau erinnern. Nur zwei Sachen weiß er noch »ganz sicher«: »Ich hab die Erschießung nicht angeordnet. Diese oblag alleine der Marine«. Und: »Ich habe nur die Auswahl vorgenommen, alles weitere übernahm mein Stellvertreter«.

In diesem Punkt widersprechen ihm mehrere Zeugen. Engel habe unmittelbar an der zuvor ausgehobenen Grube gestanden und aktiv an der Erschießung teilgenommen, berichtet ein Ex-Marine Soldat.1 Der heute 79jährige ehemalige Oberbootsmaat der 23. U-Boot Jagdflottille berichtete weiter, auch noch danach sei auf Kameradschaftstreffen über das Geschehene und die Person Engel gesprochen worden. Unangenehm wäre ihm die »Aktion« schon gewesen, betont Engel vor Gericht. Schließlich hätten sie nicht die »richtigen Täter« zur »Rechenschaft ziehen können«. Etwas »ungerechtes« hätte er dennoch nicht getan. Die »Ausgewählten« seien schließlich »alle Terroristen, die mit Waffen gegen unsere Wehrmacht operierten« gewesen. Dennoch, so erklärte er unterstützt von seinem Anwalt Udo Kneip am zweiten Verhandlungstag, hielt er die »Sühneaktionen« nicht für das richtige Mittel, um im »rückwärtigen Heergebiet« Ruhe und Ordnung zu schaffen.

Der heute 81jährige Raimondo Ricci, der als italienischer Widerstandskämpfer im Maraasi-Gefängnis in Genua inhaftiert war, betonte hingegen, für die Aktion habe vor allem die SS die Verantwortung getragen. Der jetzige Zeuge war als 60. Gefangener zur Hinrichtung ausgewählt worden, wurde jedoch beim zweiten Appell versehentlich nicht noch einmal aufgerufen. Selbst der ehemalige Chef der deutschen Marine-Flottille, Otto Reinhard, widersprach der Version von Engel. »Die Marine hat generell keine Erschiessungen in Eigenregie durchgeführt«.2 Engel selbst sieht sich mitunter gar als Wohltäter. So hätte er auch versucht, über die katholische Kirche die Partisanen zur »Mäßigung« zu bewegen.

Als am 20. Juni 1944 erneut ein Anschlag auf eine Soldaten-Hafenkneipe in Genua verübt wurde, hätte er deshalb auch eine »Sühneaktion nur vorgetäuscht«. »Meinem Vorgesetzten meldet ich den Verzug«, erzählt Engel, und »über die Presse ließ ich eine Falschnachricht verbreiten«. Der Vorsitzende Richter Rolf Seedorf ließ Engels fast einstündige Ausführung unkommentiert. Stattdessen echauffierte sich Seedorf, dass Engels Verteidiger als Beweis für diese Schilderung neues Material einreichte. »Hat noch jemand Informationen«, fragte er sichtlich genervt in den Verhandlungssaal. Überhaupt sei die Aktenlage »unerfreulich«.

Verschleppte Sühne

Wenn die italienischen Behörden früher gehandelt hätten, so die Kritik des Richters, wäre es jetzt auch einfacher »Licht in das Dunkel« zu bekommen. Dass die deutschen Justiz über 58 Jahre selbst mehr verdunkelte als erhellte, ließ er unerwähnt. Denn bereits 1969 ermittelten die Behörden gegen Engel, doch im selben Jahr stellten sie die Ermittlungen provisorisch ein. Warum, kann die Hamburger Staatsanwaltschaft nicht erklären: Die Akten seien unauffindbar, und der Sachbearbeiter erinnert sich nicht. Allerdings stand Engel, der auf der Fahndungsliste der Vereinten Nationen wegen NS-Kriegsverbrechen aufgeführt wurde, der deutschen Justiz in den 60er Jahren mehrfach zu Diensten. Bei diversen NS-Verfahren sagte er aus.

Erst nach der Ausstrahlung eines Berichts des ARD-Magazins »Kontraste« über Engel, der seit 1947 unbehelligt ohne Namensänderung in Hamburg-Lokstedt lebt, sah sich die Staatsanwaltschaft genötigt, »zügiger zu ermitteln«. Nach einem Amtshilfegesuch des Turiner Militärgerichts 1998, rechtfertigt sich die Staatsanwaltschaft, seien die Ermittlungen aber schon aufgenommen worden. Erwartungsgemäß reagierte auch die Neonaziszene, seitdem ein Vertreter der so gern gehuldigten Waffen-SS wegen ihrer Verbrechen vor Gericht steht. Das »Aktionsbüro Norddeutschland« hält das Verfahren »grundsätzlich« für Unrecht. Die Neonazis sprechen in ihrer Presseerklärung »jedem Gericht, das durch die Nachkriegsordnung der Sieger legitimiert ist« ab, »über jegliche Handlung vor 1945 zu urteilen«. Am 5. Juli 2002 wird das Landgericht voraussichtlich ein Urteil verkünden.

  • 1Frankfurter Rundschau, document info, 6. Juni 2002
  • 2ap vom 23. Mai 2002