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Interview mit Operation Solidarity

Einleitung

Wenn Russland gewinnt, wird es keine Aussicht auf eine unabhängige Politik in der Ukraine geben.“

Bild: operation-solidarity.org

AIB: Wie sieht die aktuelle Situation vor Ort aus?1

OpSol: Während ich diese Zeilen schreibe, hat sich die russische Armee aus dem Norden der Ukraine zurückgezogen und es ist hier relativ ruhig, abgesehen von den gelegentlichen Angriffen mit Marschflugkörpern. Die Genoss_innen, die in diesem Gebiet gekämpft haben, patrouillieren entweder an der Grenze zu Weißrussland - für den Fall, dass die russische/weißrussische Armee einen neuen Angriff plant - oder sie bitten darum, in den Osten versetzt zu werden. Die Menschen im Osten und Süden sind in schwere Kämpfe verwickelt. Im Rahmen der Operation Solidarität werden weiterhin taktische Ausrüstung für die Genoss_innen und humanitäre Hilfe für die von den russischen Truppen befreiten Regionen bereitgestellt.

AIB: Wie ist das Verhältnis zwischen den dort kämpfenden Genoss_innen sowie Asow/ Rechter Sektor und anderen FaschistInnen? Hat das in der Praxis eine Bedeutung? Und wie beurteilt ihr Asow und andere rechte Strukturen im Allgemeinen?

OpSol: Asow ist ein Regiment der Nationalgarde der Ukraine. Sie kämpfen derzeit in Mariupol mit einigen anderen Einheiten der ukrainischen Armee. Die russische Armee blockiert die Stadt seit dem 1. März, und es ist nicht klar, ob irgendjemand dort überleben wird. Die ehemaligen Asow-­Kämpfer haben sich in einer anderen Einheit zusammengeschlossen, um in der Nähe von Charkiw gegen die russische Armee zu kämpfen. In gewisser Weise ist dies beunruhigender als der Asow selbst: Im Laufe der Jahre wurde der Asow immer unpolitischer.

Die meisten Leute, die extrem rechte Ideologien ernster nahmen, hatten die Einheit verlassen, um in der extrem rechten Partei „Nationales Korps“ (die Partei ist eng mit den militärischen Strukturen verwoben – Anmerkung der Übersetzenden) mitzumachen, während die Leute, die nur an militärischen Trägern interessiert waren, der Einheit beitraten, obwohl nicht alle von ihnen einer bestimmten Ideologie folgten. Die Kluft zwischen Asow und der Partei wuchs von Jahr zu Jahr, vor allem aufgrund der Aktivitäten von Sergej Korot­kih, einer zwielichtigen Figur in der Neonazi-Bewegung und im „Nationalen Korps“. Er soll in eine Reihe von Morden an Asow-­Mitgliedern verwickelt sein, die er als politischen Gegner ansah. Es ist nicht klar, ob sie nach dem Krieg wieder enge Verbündete sein werden. Die Rechten in der Ukraine bekämpfen sich untereinander recht häufig.

Der Rechte Sektor war jahrelang eine absolut inaktive Organisation. Jetzt sind einige Mitglieder wieder in die Armee eingetreten, und betreiben mindestens eine Artillerieeinheit. Ansonsten hört man nicht viel von ihnen. Einige andere Mitglieder extrem rechter Gruppen haben sich ebenfalls dem Militär oder den Territorialen Verteidigungskräften angeschlossen, allerdings meist als Einzelpersonen und nicht als ganze Einheiten. Die Mehrheit der Bevölkerung sieht diesen Krieg jedoch als einen Krieg der Demokratie gegen die Diktatur Putins. Die extrem rechten Gruppen werden wahrscheinlich wieder an Popularität gewinnen (in den Jahren vor der Invasion war dies rückläufig), aber die Chancen, ein faschistisches Regime in der Ukraine zu errichten, sind verschwindend gering.

Es gibt keine Zusammenarbeit zwischen den Genoss_innen und den rechten Gruppen. Die ukrainischen Streitkräfte umfassen derzeit mehr als 300.000 Personen, und nur ein Bruchteil von ihnen gehört der extremen Rechten an.

AIB: Gibt es Kenntnisse über deutsche/internationale Neonazis, die in der Ukraine kämpfen? Wie werden andere Unterstützungsleistungen deutscher Neonazis wahrgenommen? Was sagt ihr dazu, dass Asow und andere Rechte als Legitimation für Putins „Entnazifizierung“ benutzt werden?

OpSol: Ja, zumindest einige der internationalen Kämpfer, die in die Ukraine gekommen sind, gehören zu den extrem rechten Gruppen. Die Mehrheit behauptet jedoch, dass sie hierhergekommen sind, um die russische Armee zu stoppen, die Kriegsverbrechen begeht und um die Demokratie zu schützen. Ich denke, das trifft auf die Mehrheit von ihnen zu. Außerdem lässt die ukrainische Regierung nur diejenigen kämpfen, die bereits über militärische Erfahrung verfügen, so dass es keine Massenausbildungsstätte für die rechte Kämpfer geben kann, selbst wenn einige Personen einen Weg finden würden, sich ohne vorherige Erfahrung in Kampfeinheiten einzuschleichen.

Selbst wenn es Asow nicht gäbe, würden die russischen Medien immer noch ­einen Weg finden, die Ukrainer*innen als Faschist*innen darzustellen, zumindest für die russische Öffentlichkeit. Tatsächlich tun sie das gerade jetzt, indem sie behaupten, die Ukrainer_innen seien massenhaft FaschistInnen und es sei eine massive „Säuberungskampagne“ in der Ukraine notwendig, um alle loszuwerden, die die ukrainische Armee, die Territoriale Verteidigung usw. unterstützen. Und das ist die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung.

Ich muss jedoch hinzufügen, dass ich es erstaunlich finde, dass sich so viele Menschen mehr Sorgen über Tausende von Asow-Kämpfern mit Hakenkreuz auf ihrem Logo machen als über das, was russische Armee und Geheimpolizei bereits getan haben. Dazu gehören Hassreden gegen Ukrainer_innen im staatlichen Fernsehen, Massaker an der Zivilbevölkerung, Massenvergewaltigungen, Folter, Massenbombardierung und Beschuss ziviler Gebiete in den Städten, Entführung pro-ukrainischer Aktivist_innen und die Zwangsdeportation hunderttausender Ukrainer_innen nach Russland, wobei sie auf dem Weg dorthin in Filtrationslager (Internierungslager – Anmerkung der Übersetzenden) gebracht werden. Ganz zu schweigen von Putins Faszination für den russischen faschistischen Philosophen Iwan Iljin; oder von seinen Reden, in denen er behauptet, die Ukraine sei eine Scheinnation, die von Lenin erfunden wurde und deshalb zurückerobert werden müsse.

Es scheint, dass sich viele westliche Antifaschist_innen zu sehr auf faschistische Symbole und Personen konzentrieren und nicht auf die Tatsache, dass das größte Land der Welt derzeit die schlimmste faschistische Politik verfolgt.

AIB: Welche Informationen habt ihr über Angriffe auf Sinti_zze und Rom_nja und Flüchtlinge durch Faschisten?

OpSol: Leider sind die Rom_nja der am meisten diskriminierte Teil der ukrainischen Gesellschaft. Im Jahr 2018 gab es eine Reihe von Angriffen faschistischer Gruppen auf Rom_nja. Nachdem bei einem dieser Angriffe ein Mann getötet wurde, sah sich die Polizei schließlich gezwungen zu handeln, da die Angst vor internationalen Reaktionen auf die Hassverbrechen zu groß wurde. Die Mörder wurden verhaftet und die Angriffe eingestellt. Dies war ein weiterer Beweis für das, was viele schon lange vermutet hatten - das Innenministerium versuchte, die Straßenfaschisten zu kontrollieren, indem es ihnen die Freiheit zur Straßengewalt gab, sie aber genau beobachtete, falls die Aktivitäten außer Kontrolle geraten würden. Dieser vorgetäuschte Krieg gegen die Straßengewalt wurde vom Innenministerium benutzt, um mehr Macht zu erlangen.

Als der Krieg begann gab es einen Fall, bei dem einige Mitglieder der Territorialen Verteidigung in Lviv mehrere Rom*nja unter dem Vorwurf der Plünderung brutal verhafteten. Da die Stadt in der Westukraine liegt und dort keine Kämpfe stattfinden, hatten die Faschisten nichts anderes zu tun, als wie eine Art Polizei zu agieren. Dabei haben sie auch zwei Mitglieder der Operation Solidarity und später einen veganen Laden angegriffen. Derzeit machen wir eine Informationskampagne über diese Angriffe.

AIB: Was birgt die  Zukunft (gesellschaftlich, politisch und vor allem mit Blick auf ­eine links/linksradikale Perspektive)?

OpSol: Wenn Russland gewinnt, wird es in der Ukraine keine Aussicht auf eine unabhängige Politik geben. Wenn die Ukraine gewinnt und das Ergebnis zumindest die Wiederherstellung des territorialen Status der Vorkriegszeit ist, dann wird die Ukraine ein demokratisches Land mit einer eher zentristischen Regierung und einer Mitte-­Rechts-Opposition bleiben. Die Opposition würde wahrscheinlich versuchen, ihre Kampagne darauf aufzubauen, dass die Regierung nicht so gut auf den Krieg vorbereitet war, wie sie es hätte sein sollen, und die extreme Rechte wird sich dieser Rhetorik wahrscheinlich anschließen.

Militarismus, „Sicherheitspolitik“ und Nationalismus werden zunehmen, aber ich gehe davon aus, dass sie sich auf einem moderaten Niveau bewegen und in den folgenden Jahren abschwächen könnte. Sollte es Russland jedoch gelingen, mehr ukrainisches Territorium zu annektieren als vor dem Krieg, wird dies zu einer viel stärkeren nationalistischen und revanchistischen Stimmung in der Bevölkerung führen.

Die Linke hat noch einen langen Weg vor sich, bis sie in den nächsten Jahren zu einer bedeutenden Kraft wird. Es ist jedoch schwer, die Zukunft vorauszusagen, da der Krieg wahrscheinlich weltweit zu großen Veränderungen führen wird, sowohl in der Wirtschaft als auch in der Politik.

AIB: Viele Menschen wollen sich gegen den Krieg engagieren, hast Du einen Tipp wo es  Infos zu der Situation vor Ort und zu Möglichkeiten der Unterstützung gibt?

OpSol: Es gibt eine Website www.nowar.help/en, auf der ihr Informationen darüber finden könnt, wie ihr uns, Operation Solidarität, Geflüchtete und andere nützliche Initiativen unterstützen könnt.

Operation Solidarity

Wer sind wir?

Operation Solidarity ist ein antiautoritäres Freiwilligennetzwerk, das während des Krieges organisiert wurde, um allen fortschrittlichen Kräften in der Gesellschaft gemeinsam zu helfen, der imperialistischen Aggression gegen die Ukraine zu begegnen.

Was tun wir?

Wir sammeln Hilfe und Gelder für die Kämpfenden der Territorialen Verteidigung und ihrer Familien, helfen Geflüchteten und unterstützen fortschrittliche Basisinitiativen, die die Menschen angesichts einer gemeinsamen Bedrohung vereinen. Mit den gesammelten Geldern kaufen und liefern wir die notwendigsten humanitären Güter, militärische Ausrüstung und medizinische Hilfsgüter in die Ukraine.

  • 1Das Interview wurde vor Erscheinen der Print-Ausgabe geführt.