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Im Zentrum der Aktion „Konfetti“

Andreas Förster
Einleitung

Michael Dolsperg alias V-Mann „Tarif“

Das Bundesamt für Verfassungschutz schredderte die Akte eines V-Mannes, der führender Neonazi in Nordthüringen war und Hinweise auf die untergetauchten, späteren NSU-Mitglieder gab. 

Wer in die Wälder der schwedischen Provinz Värmland aufbricht, um dort eine der schillerndsten Figuren der früheren Thüringer Neonaziszene zu seinen Kontakten zum NSU-Trio zu befragen, kommt zu spät. Michael Doleisch von Dolsperg hat seinen Ökohof „Snaret“, was auf Deutsch „Gestrüpp“ heißt, verkauft. An einem anderen Ort in Schweden hat er jetzt einen Tischlereibetrieb aufgemacht. Ein neues Leben will er dort beginnen, wieder einmal. Aber die Vergangenheit lässt ihn nicht los — wohl schon bald wird ihn das Oberlandesgericht in München als Zeugen zum NSU-Prozess laden. Und auch ein neuer NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages, der immer wahrscheinlicher wird, dürfte sich für den langhaarigen, bärtigen Mann interessieren. Denn Dolsperg, der in den 1990er Jahren Michael See hieß und der führende Neonazi in Nordthüringen war, gehörte als V-Mann „Tarif“ zu den Topquellen des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) im Umfeld des NSU-Trios.

Erst Anfang Oktober vergangenen Jahres, nach dem Ende des NSU-Untersuchungsausschusses, war Dolsperg als ehemaliger V-Mann enttarnt worden. Der Neonazi hatte demnach unter dem Decknamen „Tarif“ von 1995 bis mindestens 2001 mit dem BfV kooperiert und soll dafür mindestens 66.000 DM kassiert haben. Faktisch unter den Augen des Verfassungsschutzes publizierte er zudem jahrelang die rassistische Neonazi-Postille „Sonnenbanner“. Ein Exemplar dieses Blattes wurde auch in der 1998 ausgehobenen Bombenwerkstatt des Trios in Jena gefunden. In Artikeln des „Sonnenbanner“ wird unter anderem das — vom NSU später umgesetzte — Konzept autonomer Kämpferzellen propagiert, die im Untergrund das demokratische System bekämpfen.

In einem von Dolsperg verfassten Text mit dem Titel „Das Ende oder Neuanfang“ heißt es: „Daher haben wir den Weg gewählt, der am schwierigsten, am unbequemsten und am steinigsten ist: Den Untergrund, die autonomen Zellen-Strukturen (…) Wir wollen die BRD nicht reformieren — wir wollen sie abschaffen.“ Für ein Leben in Freiheit „lohne es sich, alles zu opfern, um Sicherheit, Glück und Zukunft unserer Kinder und unserer Rasse zu gewährleisten. Was können wir verlieren außer unserem Leben?“

In einem Schreiben an das Bundeskriminalamt (BKA) vom 13. Februar 2013 zitiert das BfV diese Passage und Ausschnitte weiterer Artikel aus dem vom V-Mann „Tarif“ verantworteten „Sonnenbanner“. Die Bewertung der Verfassungsschützer: „Bemer­kens­wert sind die ideologischen nationalsozialistisch motivierten Artikel im ‚Sonnen­banner’ zu den Themen Zellenprinzip, Agie­ren im Untergrund, konspirativem Verhalten und elitärem Selbstverständnis — insbesondere vor dem Hintergrund, dass (vor allen Dingen) MUNDLOS diese Artikel gelesen haben dürfte. Die späteren Taten des NSU weisen zumindest keinen Widerspruch zu diesen o. g. Verhaltensmustern auf.“

Die Chuzpe, mit dem das Bundesamt in seinem Bericht an das BKA diese Bewertung trifft, ist verblüffend - nicht nur, weil See alias Dolsperg die rassistischen und mit offen nationalsozialistischen Inhalten gespickten Artikel des „Sonnenbanner“ als V-Mann quasi unter den Augen des Bundesamtes publizierte. Folgt man der Darstellung des seit zwölf Jahren in Schweden lebenden Neonazis, dann haben seine Verbindungsführer vom BfV sogar regelmäßig diese Artikel vor Drucklegung redigiert. „Das BfV bekam alle Ausgaben (des ‚Sonnenbanner’) von mir vorab“, sagte Dolsperg im vergangenen Februar dem Spiegel-Reporter Hubert Gude. Änderungswünsche vom Bundesamt habe es demnach bis auf eine Ausgabe, wo es um die Gestaltung des Titelblattes ging, nie gegeben. Bezahlt habe er die Produktion der Hefte zum Teil von seinen V-Mann-Honoraren, die monatlich zwischen 500 und 600 DM gelegen hätten, fügte Dolsperg hinzu.

In seiner achtstündigen Vernehmung durch die Bundesanwaltschaft (BAW) am 10. März 2014 ging der ehemalige V-Mann in seinen Aussagen über die Zusammenarbeit mit dem Bundesamt sogar noch weiter. Demnach habe er 1998, kurz nach dem Abtauchen des Trios, einen wichtigen Hinweis dazu an das BfV weitergegeben, ohne dass dieser weiterverfolgt wurde. Laut Dolsperg habe ihn damals der mit ihm befreundete Jenaer Neonazi André Kapke angerufen. Kapke zählte 1998 wie Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt, Beate Zschäpe und dem ebenfalls im Münchner NSU-Prozess angeklagten Ralf Wohlleben zur „Kameradschaft Jena“. Gemeinsam mit Wohlleben gehörte er außerdem in den ersten Monaten nach dem Untertauchen des Trios zu deren Fluchthelfern. Dolsperg gab nun in seiner Vernehmung Kapke mit den Worten wieder, dass die drei Gesuchten schnell weg müssten. „Er fragte, ob ich einen Platz wüsste, wo die hin könnten.“

Dolsperg will unmittelbar nach dem Anruf seinen Verbindungsführer „Alex“ vom BfV angerufen und über die Kapke-Anfrage informiert haben. „Dem habe ich den Inhalt des Telefonats wiedergegeben und ihn gefragt, wie ich mich verhalten soll“, sagte Dolsperg laut Vernehmungsprotokoll. Die Namen der Flüchtigen habe er dabei nicht erwähnt, weil sie ihm angeblich auch unbekannt waren. „Alex“ habe aber gleich gewusst, um wen es sich handelte, und ihm gesagt, er wolle sich zunächst mit jemand anderem besprechen und dann zurückrufen. „Als mich Alex später zurückrief, teilte er mir mit, dass ich für den Fall eines Rückrufes sagen soll, dass ich für die drei nichts habe.“ Begründet habe sein Verbindungsführer dies laut Dolsperg mit der Bemerkung: „Da würden sich schon andere drum kümmern.“

Ein bis anderthalb Jahre später habe ihn „Alex“ dann noch einmal auf das Trio angesprochen und ihn diesmal damit beauftragt Informationen über die Flüchtigen zusammenzutragen. „Ich wies ihn darauf hin, dass er ein Jahr vorher weitere Maßnahmen zu den Dreien durch mich abgelehnt hatte und dass sich andere darum kümmern würden“, sagte Dolsperg bei der BAW dazu. „Daraufhin meinte Alex nur, dass er auf die Entscheidung zu diesem Zeitpunkt keinen Einfluss hatte.“

Die Aussagen von Dolsperg bringen das BfV in Erklärungsnot. Warum hatte der Verfassungsschutz auf die Möglichkeit verzichtet, über seinen V-Mann „Tarif“ dem Trio eine Falle zu stellen? Und bei wem lag damals die Entscheidungshoheit zu dem Fall? Hinweise könnte vielleicht die V-Mann-Akte von Dolsperg geben — aber die wurde am 11. November 2011, nur eine Woche nach dem Auffliegen des NSU-Trios, im BfV vernichtet.

Vor dem Hintergrund von Dolspergs Aussage erscheint nun aber auch diese Aktenvernichtung in einem neuen Licht. Denn schon drei Tage vor der sogenannten „Aktion Konfetti“, am 8. November, hatte der für Beschaffung zuständige Referatsleiter im BfV-Bereich Rechtsextremismus, Lothar Lingen, die „Tarif“-Akte zusammen mit sechs anderen, eher unwichtigen V-Mann-Vorgängen zur Vernichtung ausgewählt. Es war der Tag, an dem sich Beate Zschäpe der Polizei gestellt hatte und der damalige BfV-Chef Heinz Fromm eine „detaillierte Aufarbeitung“ der Aktivitäten im Zusammenhang mit dem untergetauchten Trio in Auftrag gab. „Was hat das BfV in den 1990er Jahren in diesem Fall für eine Rolle gespielt, welche Informationen lagen vor und welche Ermittlungen wurden von Seiten des BfV durchgeführt, insbesondere nachdem die drei Personen flüchtig waren“, wies Fromm schriftlich an.

Lingen ordnete jedoch lediglich an, die zur Vernichtung ausgewählten Akten daraufhin zu überprüfen, ob darin die Namen von Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe auftauchen. Dies war angeblich bei keinem der sieben überprüften V-Leute, die alle aus der Thüringer Neonaziszene stammten, der Fall. Dabei müssten diese Namen doch zumindest bei „Tarif“ auftauchen, wenn er 1999 ausdrücklich mit einer Informationsbeschaffung zum Trio beauftragt wurde. Sollte das in seiner eigentlichen V-Mann-Akte nicht vermerkt worden sein? Vielleicht, weil die unter V-Leuten zusammengetragenen Infor­ma­tionen über die drei Flüchtigen in einen gesonderten Aktenvorgang des BfV einflossen?

Auffällig ist jedenfalls, dass BfV-Referatsleiter Lingen während der Schredderaktion am 11. November ausdrücklich die Vernichtung der „Tarif“-Akte anmahnte. Möglicherweise kannte er deren Inhalte sehr genau, war er doch nachweislich zeitweise selbst direkt mit dem Vorgang befasst. Nach dem Bekanntwerden der Schredderaktion im Juni 2012 durch einen Bericht der „Berliner Zeitung“ versuchte das Bundesamt, die vernichteten Akten zu rekonstruieren. Nach offizieller Darstellung sei dies weitestgehend geglückt. Ein vom Untersuchungsausschuss beauftragter Son­derermittler musste allerdings einräumen, dass sowohl Treffberichte als auch Quittungen der V-Leute nicht mehr vorhanden und auch nicht wiederherstellbar seien. Was die Bezahlung der Quellen anbelangt, gebe es allerdings ein Zentralregister. Daraus ließe sich entnehmen, welche Zahlungen an welchem Tag geleistet worden seien — ob dies aber immer stimme, ließe sich wegen der vernichteten Quittungen nicht mehr nachprüfen.

Auch dieses Detail birgt eine gewisse Brisanz. Denn laut Zentralregister soll der V-Mann „Tarif“ zwischen 1995 und 2001 insgesamt 66.000 DM kassiert haben, also durchschnittlich rund 9.500 DM pro Jahr. Dolsperg hatte dem Spiegel gesagt, er habe zwischen 500 und 600 DM monatlich vom BfV bekommen — das wären im Jahr aber nur zwischen 6.000 und 7.200 DM Spitzellohn.

Und noch etwas ist seltsam: Dolsperg gab bei der Bundesanwaltschaft an, von sich aus die Zusammenarbeit mit dem BfV 2001 beendet zu haben und mit seiner Frau nach Schweden ausgewandert zu sein. Es hätten keine Treffen mehr stattgefunden, allerdings sei er vom Bundesamt auch nicht formal entpflichtet worden. Der Spiegel-Reporter Gude, der im September 2012 Kontakt mit ihm aufnahm, habe ihm jedoch vorgehalten, bis 2003 als VM gearbeitet zu haben — „was definitiv nicht stimmen konnte“, wie Dolsperg in der Vernehmung vom März 2014 sagte. Er, Dolsperg, sei sowieso überrascht gewesen, dass der Spiegel-Reporter ihn mit „unglaublich vielen Details aus meiner Quellentätigkeit überwältigt“ habe. „Er hat auch was von einem Auto im Wert von 15.000 DM, das ich vom BfV bekommen haben soll, erzählt, was auch nicht stimmte“, sagte der ehemalige V-Mann. „Ich fragte mich, woher er das hat.“

Wenn die Aussagen von Dolsperg zutreffen sollten, ergibt sich ein ganz neuer Verdacht: Sind unter dem V-Mann-Konto von „Tarif“ getarnte Zuwendungen auch an andere Personen — weitere Quellen oder BfV-Mitarbeiter — abgerechnet worden? Und ist das womöglich der Grund für das Schreddern der „Tarif“-Akte? Eine Aufklärung wird schwierig: Die Treffberichte, die Auskunft geben könnten über die tatsächliche Dauer von Dolspergs V-Mann-Tätigkeit, sind ebenso vernichtet wie die Quittungen, mit denen der Empfang der Spitzel-Honorare bestätigt wurde.

Bemerkenswert ist jedenfalls die Aufregung, die die Kontaktaufnahme des Spiegel-Reporters Gude mit Dolsperg im September 2012 offenbar im BfV auslöste. Kurz nach dem Telefonat mit dem Journalisten hatte „Tarif“ in der Vermittlung des Bundesamtes in Köln angerufen und um Rückruf gebeten, wie er später der Bundesanwaltschaft schilderte. Noch am selben Tag habe sich dann „Alex“ bei ihm gemeldet und zu einem Treffen wenige Tage später nach Volkach in Bayern eingeladen. Bei diesem Treffen, an dem neben „Alex“ zwei weitere BfV-Mitarbeiter teilgenommen hätten, habe der Ex-V-Mann um Schutz für seine Person und eine neue Identität gebeten. „Die BfV-Leute sagten, jetzt warten wir erst einmal ab, ob der Spiegel eine Geschichte über dich macht“, erzählte Dolsperg bei seiner Vernehmung durch die Bundesanwaltschaft. „Mir ist ferner erklärt worden, dass das BfV Herrn Gude gebeten habe, nicht über mich zu berichten. Und dann war tatsächlich Ruhe.“

Hatte das Kölner Bundesamt wirklich Einfluss auf die Berichterstattung des Spiegel genommen? Das Nachrichtenmagazin brachte seinerzeit jedenfalls keinen Artikel über „Tarif“. Spiegel-Reporter Gude, der im September 2012 mit dem ehemaligen V-Mann gesprochen hatte, erklärte auf Anfrage, man habe auf Bitten von Dolsperg, der um seine Sicherheit fürchtete, von einer Veröffentlichung abgesehen. Ob sich auch das BfV damals in der Spiegel-Redaktion gemeldet habe, wollte Gude jedoch nicht sagen. „Über vermeintliche oder tatsächliche Rechercheinhalte äußert sich der SPIEGEL aus grundsätzlichen Erwägungen nicht“, teilte er mit. Der erste Spiegel-Artikel zu Dolsperg erschien im Februar 2014.

Vier Monate zuvor, am 3. Oktober 2013, hatten die Berliner Zeitung und das mdr-Magazin Fakt die Identität des V-Mann „Tarif“ enthüllt. Der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages hatte zu diesem Zeitpunkt längst seine Arbeit beendet. Wäre Dolsperg bereits früher enttarnt worden, hätte sich der Ausschuss ganz gewiss sehr intensiv mit diesem Vorgang befasst und das BfV in neuerliche Erklärungsnöte gebracht.