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Gegenverkehr. Fortschritt und Reaktion durch soziale Bewegungen

Einleitung

Die erfolgreichen Großdemonstrationen der sogenannten »GlobalisierungsgegnerInnen« verweisen auf die wiedererlangte Attraktivität sozialer Bewegungen. Doch diese politische Organisationsform garantiert nicht per se eine emanzipatorische Programmatik und Praxis. Ein genauerer Blick auf die sozialen Bewegungen zeigt, dass sich dort die gesamte Bandbreite gesellschaftlicher Entwicklungen spiegelt – und damit nationalistische Ideen ebenso vertreten sind wie antikapitalistische Inhalte.

Die Berichterstattung der Medien über die Aktionen von Genua konnte glauben machen, da sei aus dem Nichts eine spontane Protestbewegung auf die Bühne der Welt getreten. Dieses Phänomen ist aus der Geschichte der sozialen Bewegungen wohl bekannt. Sie geraten immer erst dann in den Blick, wenn die Zahl der Demonstranten oder die Dramatik der Aktionen jenes Maß des »Alltäglichen« überschreitet, das durch die massenmediale Aufmerksamkeitsschwelle definiert wird. Dabei hat die große Mehrheit der in Genua versammelten Bewegungsspektren schon seit Jahren gegen allerlei Missstände aufbegehrt – sei es gegen die Verschuldung, gegen das »Diktat der Finanzmärkte«, gegen Freihandelspolitik oder gegen den Kapitalismus im allgemeinen. Ihre Attraktivität scheint die diese Teilbewegungen vereinende »Antiglobalisierungsbewegung« vor allem daraus zu ziehen, dass sie den unterschiedlichsten Themen und politischen Ansätzen ein Forum bietet.

Antiquiert und doch aktuell

Die derzeit grassierenden widersprüchlichen Einschätzungen der neuen Protestbewegung kranken daran, dass sich kaum mehr jemand für diese Form der politischen Organisierung interessierte. So ist die Klärung der Frage, was eine soziale Bewegung eigentlich ist, wieder aktuell geworden. »Soziale Bewegung ist ein mobilisierender kollektiver Akteur, der mit einer gewissen Kontinuität auf der Grundlage hoher symbolischer Integration und geringer Rollenspezifikation mittels variabler Organisations- und Aktionsformen das Ziel verfolgt, grundlegenderen Wandel herbeizuführen, zu verhindern oder rückgängig zu machen.«1 Diese Definition gibt bei näherem Hinsehen allerhand hilfreiche Hinweise für ein kritisches Verständnis sozialer Bewegungen. Der Begriff »mobilisierender kollektiver Akteur« verweist darauf, dass sich in Bewegungen Einzelorganisationen und –personen zusammenschließen, um aktiv in die politische Entwicklung einzugreifen.

Weil soziale Bewegungen nicht wie Parteien institutionalisiert sind, müssen sie permanent in der Öffentlichkeit und bei ihren Anhängern Unterstützung mobilisieren. Die Charakterisierung «hohe symbolische Integration« verweist auf das ausgeprägte Wir-Gefühl vieler Bewegungen. Es kommt in Umgangsformen, Sprache, politischen Symbolen oder in der Kleidung zum Ausdruck. Die »geringe Rollenspezifikation« in Bewegungen bedeutet, dass die Differenzierung von Funktionen einzelner Beteiligter schwach ausgeprägt ist - verglichen mit formalen Organisationen wie z.B. Parteien, in denen vom einfachen Mitglied bis zum Vorsitzenden alle Aufgaben festgelegt sind. Dies ist nicht immer der bewussten Vermeidung von Hierarchien und Arbeitsteilung geschuldet, sondern liegt vielmehr an der diffusen Organisationstruktur von Bewegungen, die »harte« Strukturen wie z.B. Vorstände oder formale Mitgliedschaften nicht zulässt. Einerseits steht das ihrer Schlagkraft im Wege, es ermöglicht aber andererseits spontane Aktionen und Kampagnen. Diese sind wesentlicher Bestandteil des Handlungsrepertoires von Bewegungen und machen ihre Stärke aus. Von punktuellen Aktionszusammenhängen oder kurzfristigen Revolten unterscheiden sich Bewegungen aber durch einen gewissen Grad an Kontinuität, eine mindestens mehrjährige Praxis.

Das den Bewegungen zugeschriebene Ziel, »grundlegenden sozialen Wandel herbeizuführen, zu verhindern oder rückgängig zu machen« bedeutet keineswegs immer eine »revolutionäre« Orientierung. In den meisten Fällen beschränken sich Bewegungen darauf, Teilstrukturen der Gesellschaft verändern zu wollen oder gar nur einzelne konkrete Forderungen zu stellen. Die Umwelt bewegung und insbesondere die Anti-Atom-Bewegung sind die bekanntesten Beispiele für solche »Ein-Punkt-« oder »Teilbereichsbewegungen«. Auffällig ist, dass sich Bewegungen meist entlang von Abwehrkämpfen gegen Missstände entwickeln. Die »Antiglobalisierungsbewegung« reagiert beispielsweise auf die durch den globalen Kapitalismus ausgelösten Verelendungsprozesse; die populäre Parole »Ya basta!« (Es reicht!) bringt dies auf den Punkt. Gleichzeitig birgt sie im Gegensatz zu vielen anderen Bewegungen auch eine offensive und systemkritische Dimension in sich. Denn viele Forderungen der »Antiglobalisierungsbewegung« laufen – selbst in reformistischen Varianten – letztlich auf den Umsturz des kapitalistischen Weltmarktes hinaus.

Rückwärts oder vorwärts?

Die politische und ideologische Verortung sozialer Bewegungen ist ständig im Fluss, sie haben Suchcharakter. In der Regel kommt es dabei zur Flügelbildung und zu mehr oder minder heftigen Auseinandersetzungen über die »richtige« Linie. Wenn dieser Prozess sich verfestigt hat, ist auch die ausdifferenzierende Institutionalisierung nicht mehr fern, wie das Beispiel der Arbeiterbewegung mit der Gründung kommunistischer und sozialdemokratischer Parteien oder die Gründung der Grünen und der Nichtregierungsorganisationen (NGO) aus der Umweltbewegung belegt. Soziale Bewegungen bzw. ihre Organisationsformen sind noch lange kein Garant für soziale Emanzipation. Im Gegenteil, ein großer Teil der sozialen Bewegungen hat sich derzeit reaktionären, chauvinistischen, rassistischen und anderen antiemanzipatorischen Zielen verschrieben. So sind z.B. in vielen Ländern des Südens fundamentalistisch-religiöse Bewegungen stärker als linke, etwa in Indien die Hindunationalisten oder in arabischen Ländern die islamistischen Bewegungen.

Und auch in Europa musste die Linke nach der Hochphase der Neuen Sozialen Bewegungen in den 70er und 80er Jahren erschreckt zur Kenntnis nehmen, dass wenige Jahre später die Rechten vermeintlich »linke« Bewegungsmuster bis hin zu subkulturellen Ausdrucksformen für sich vereinnahmten. Es ist genau diese Ambivalenz, die kritische Beobachter vor einer idealisierenden, gar romantisierenden Betrachtung sozialer Bewegungen warnen lässt. Völlig zu Recht machen sie im Falle der »Antiglobalisierungsbewegung« darauf aufmerksam, dass antikapitalistische Ansätze nicht selten unheilvolle Allianzen mit strukturell antisemitischen und nationalistischen Positionen eingehen, etwa im Wunsch nach der »Verteidigung der Heimat gegen die US-Konzerne« oder in der Forderung nach der Stärkung nationalstaatlicher Handlungsfähigkeit. Mit diesen Inhalten gehen schließlich auch nationalrevolutionäre Bewegungen hausieren.

»Emanzipations - TÜV«

Die KritikerInnen verweisen in diesem Zusammenhang auf die ernüchternden Erfahrungen, die mit den nationalen Befreiungsbewegungen seit den 50er Jahren gemacht wurden. Nicht selten ist das ursprüngliche Projekt der sozialen Befreiung von der Kolonialherrschaft oder anderen Unterdrückungsstrukturen nach erfolgter Übernahme der Macht im Staate ins krasse Gegenteil umgeschlagen. Die traurige Geschichte der FLN in Algerien veranschaulicht, wie schnell aus dem »antiimperialistischen Kampf« ein autoritäres Projekt werden kann, das seine Kritiker mit Gewalt mundtot macht. Gleiches gilt für die kurdische Arbeiterpartei PKK, deren Kampf gegen die Unterdrückung durch den türkischen Staat immer mehr in Führerkult und in Ethnonationalismus umschlug. Die Immunisierung mancher »Bewegungslinker« gegen jegliche Kritik am Objekt ihrer »internationalistischen« Solidarität verhindert, dass solchen immer wiederkehrenden Mechanismen die Wirksamkeit entzogen werden kann.

Andererseits aber wurde nicht zu Unrecht dagegengehalten, dass der »Emanzipations-TÜV« westlicher KritikerInnen die Anmaßung voraussetze, universelle bzw. westlich geprägte Kriterien für soziale Befreiung festzulegen. Stattdessen müssten die historischen, politischen und sozialen Rahmenbedingungen der jeweiligen Bewegungen berücksichtigt werden, um ihr Handeln beurteilen zu können. In der Tat bestehen große Unterschiede beispielsweise zwischen dem eliminatorischen Nationalismus deutscher Prägung und der zapatistischen Anrufung eines »nationalen« Bewusstseins. Dieses ist eher als Reaktion auf die Ausgrenzung und Diskriminierung der Indigenas seitens des mexikanischen Staates zu verstehen denn als Ausdruck eines dezidierten Nationalismus. Generell ist es natürlich legitim, Nationalismus nicht unbedingt für den sinnvollsten Umgang mit zentralstaatlicher Repression zu halten.

Das Dilemma bei der Einschätzung sozialer Bewegungen ist wohl nur zu lösen, indem die eigenen Maßstäbe und ihr projizierender Charakter ständig reflektiert werden. Zwischen einem kanonisierten Universalismus mit starren Welterklärungsmustern2   einerseits und einem diffusen Kulturrelativismus andererseits (der soziale Bewegungen allein vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen politischen Kultur deutet und dabei für alles und jeden Verständnis aufbringt) gibt es schließlich auch noch andere Möglichkeiten. Die Essentials sozialer Emanzipation wie z.B. die Freiheit des Individuums bei gleichzeitiger sozialer Gleichberechtigung (die entgegen dem bürgerlichen Gleichheitsversprechen auch materiell umgesetzt wird) werden ja noch lange nicht aufgegeben, wenn man Unterschiedlichkeiten bei der Umsetzung dieser Grundprinzipien toleriert.

Alternative Experten

Ein ebenfalls strittiger Punkt in der Debatte über soziale Bewegungen ist ihr Verhältnis zu den Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Da NGOs oft die institutionelle Verdichtung von sozialen Bewegungen (bzw. des jeweiligen reformistischen Flügels) verkörpern, bearbeiten sie zwangsläufig die gleichen Themen. Die Unterschiede bestehen vor allem in der politischen Vorgehensweise, beispielsweise indem NGOs direkten Kontakt zu so genannten politischen Entscheidungsträgern suchen, während Bewegungen in der Regel über Aktionen und Demonstrationen Druck erzeugen wollen. Dass die Anpassung an hegemoniale Politikformen wie z.B. den Parlamentarismus von vielen NGOs allein dadurch befördert wird, dass sie sich dort ihre Ansprechpartner suchen, steht außer Zweifel. Es stellt sich allerdings die Frage nach Ursache und Wirkung.

Die Gründung von NGOs ist nämlich meist Ausdruck des Niedergangs einer Bewegung. Menschen, die in der absterbenden Bewegung keine politische oder persönliche Perspektive mehr sahen, suchten nach neuen Organisationsformen, um ihre Forderungen, ihre Kritik und ihre Utopien anders als bisher umzusetzen. Insofern sind NGOs nicht anders als Bewegungen vor allem ein Resultat gesellschaftlicher Suchprozesse. Die Suche nach Möglichkeiten für radikale Veränderung war auch der Grund für das strategische Unterfangen der Zapatisten, verschiedene oppositionelle soziale Bewegungen zusammenzubringen. Es speiste sich aus der Einsicht, dass nach dem Niedergang des Realsozialismus und der darauffolgenden weltweiten Atomisierung der Linken überhaupt erstmal wieder ein kleinster gemeinsamer Nenner gefunden werden musste.

Der Aufstieg der »Antiglobalisierungsbewegung« verdeutlicht, dass dieser Nenner in den letzten Jahren größer geworden ist. Und so sind die Aktionen von Bangalore, Seattle oder Genua ein vorläufiger Erfolg, der Hoffnung auf ein Ende der Lähmung macht, der sich so viele soziale Bewegungen ergeben haben. Noch mehr gewonnen wäre, wenn die kontroversen Debatten über den »richtigen« antikapitalistischen, antipatriarchalischen oder antirassistischen Ansatz nicht wie bisher als zu überwindendes Hindernis beim Aufbau einer – wie auch immer gearteten – politischen Einheit begriffen würden, sondern als permanente Herausforderung zur Selbstreflektion und damit zur Veränderung. Schließlich ist es genau diese Fähigkeit zur (Selbst)Veränderung, die soziale Bewegungen gegenüber allen anderen politischen Organisationsformen auszeichnet.

Der Beitrag erschien in voller Länge im iz3w-Sonderheft »Gegenverkehr – soziale Bewegungen im globalen Kapitalismus« (www.iz3w.org).

  • 1Joachim Raschke, Zum Begriff der sozialen Bewegung, in: Roland Roth/ Dieter Rucht (Hg.) (1987), Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik, Frankfurt a.M., S.19-29
  • 2Ironischerweise neigt gerade die ideologiekritische Linke in Deutschland dazu, ihre Deutungsmuster wie z.B. Wertkritik mit einem absoluten Wahrheitsanspruch zu versehen. Zudem wird fast immer auf der Folie deutscher Verhältnisse argumentiert. In einem solchen, selbst wieder zur Ideologie gerinnenden Weltbild kann beispielsweise zwischen dem Antisemitismus deutscher und palästinensischer/arabischer Prägung nicht mehr analytisch unterschieden werden.