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Es ist leichter in den Himmel zu kommen als nach Europa

Einleitung

Während innerhalb Europas die Grenzen immer weiter abgebaut werden, scheuen die Schengen-Staaten keine Anstrengungen, sich immer mehr gegenüber dem Rest der Welt abzuschotten und die Grenzen für Flüchtlinge unpassierbar zu machen. Schengen-Länder, oder solche, die es werden wollen, müssen nachweisen, dass sie die Beförderungsunternehmer, mit denen Flüchtlinge nach Europa kommen, zur Verantwortung ziehen werden. Per Gesetz wird den Reedereien die Verantwortung für die Menschen, welche sich auf ihren Schiffen versteckt haben, aufgezwungen und sie müssen auch für die sogenannten »Blinden Passagiere« und die durch sie entstehenden Kosten aufkommen. Da diese Beträge immens sind, wird der Druck von den Reedereien an die Kapitäne und Besatzungsmitglieder weitergegeben. Das Ziel dieser Privatisierung des Problems ist eindeutig: Die europäischen Aussengrenzen sollen »vorverlegt« werden und die Kapitäne und Schiffsbesatzungen sollen die Abschottungsinteressen der reichen Länder zu ihrer eigenen Sache machen. Durch die Verlagerung der Verantwortung für die »Blinden Passagiere« ergeben sich für die Schengen-Staaten zwei wesentliche Vorteile. Zum einen wird ein erheblicher Teil an Kosten und bürokratischem Aufwand in einen nichtstaatlichen Bereich ausgelagert und zum anderen zwingen sie die Reedereien zu einem Interesse an einer Mitarbeit, um ihrerseits die Kosten gering zu halten.

Versicherung gegen Flüchtlinge

Für Reedereien, welche die daraus resultierenden Konsequenzen nicht alleine tragen wollen, gibt es die Möglichkeit, sich gegen »Blinde Passagiere« versichern zu lassen. Diese Schiffsversicherungen sind oft nicht sehr groß und können bei Komplikationen im Ausland meist nicht selbst intervenieren. Tritt solch ein Problemfall auf, haben diese die Möglichkeit, die Dienstleistungen der Protect & Indemnity Clubs (Schutz & Wiedergutmachung) in Anspruch zu nehmen, welche einen Jahresumsatz von mehreren Millionen Euro zu verzeichnen haben. Diese P&I Clubs haben ein weltweites Korrespondenten- und Agentennetz aufgebaut und neben Abteilungen, welche für Ladungs-, Zoll und Schadensfälle zuständig sind, auch einen Bereich für den »Problemfall: Blinder Passagier« eingerichtet. Die Agenten dieser Clubs sind absolute Spezialisten in ihrem Gebiet, mit den landestypischen Begebenheiten und Gesetzen vertraut und pflegen meist einen guten Kontakt zu den örtlichen Behörden und Ämtern. Zu den Aufgaben dieser Agenten gehört die Schulung von Schiffscrews im Umgang mit »Blinden Passagieren«, Verhöre bei Flüchtlingen durchzuführen und die angegebenen Daten der Befragten in einem speziell eingerichteten Zentralregister zu speichern. Wird ein »Blinder Passagier« auf einem Frachter entdeckt, kann in dem Zentralregister anhand von gespeicherten Fotos und Fingerabrücken überprüft werden, ob die Nationalität bekannt ist und diese Person schon einmal versucht hat, auf diesem Weg nach Europa zu gelangen. Gleichzeitig wird ein ungeheurer Druck auf die Kapitäne und deren Schiffsbesatzungen ausgeübt. Die Crews sind verpflichtet, vor Abfahrt ihr Schiff nach »Blinden Passagieren« zu durchsuchen. Wird ein solcher entdeckt und es kommt heraus, dass dieses Schiff nicht durchsucht wurde, muss die Versicherung nicht für die anfallenden Kosten aufkommen. Der Kapitän wird auch dazu verpflichtet, einen entdeckten »Blinden Passagier« zu melden, ihn einen Fragebogen ausfüllen zu lassen und diesen an die Versicherung zu senden. Mit diesen Daten ist es für die beauftragten P&I-Mitarbeiter oft schon möglich, die Papiere für die Abschiebung des Blinden Passagiers vorzubereiten, bevor dieser überhaupt europäisches Festland betreten hat. Meldet der Kapitän den Flüchtling nicht, macht er sich nach geltendem Recht strafbar.

Erstaunliche Befugnisse

In Deutschland heißt die P&I-Organisation »PandI« und hat auch hier erstaunliche Befugnisse. Legt ein Frachtschiff, auf dem sich »Blinde Passagiere« befinden, in einem deutschen Hafen an, kommen nicht nur Beamte von der Wasserschutzpolizei (in Städten wie Rostock ist es der BGS) an Bord. Ein P&I- oder Versicherungsmitarbeiter ist von Anfang an dabei. Der Flüchtling wird nach Ausweispapieren und Barmitteln gefragt und noch an Bord, also vor dem Betreten der Bundesrepublik Deutschland, geschieht eine juristisch entscheidende Amtshandlung: Es wird ein Zurückweisungsbeschluß erstellt. Nach Vorstellung der Behörden kann der Flüchtling jetzt an Land, ohne juristisch eingereist zu sein. Die Reederei autorisiert auf einem Formblatt, welches der Kapitän, Agent, Polizist und der »Blinde Passagier« unterzeichnen muss, den Versicherungsagenten, die weiteren Angelegenheiten in Hinsicht des »Blinden Passagiers« zu regeln. Auf der Polizeiwache werden die Betroffenen nochmals verhört. Obwohl es die Genfer Konventionen vorschreiben, dass Flüchtlingen ein Zugang zu unabhängiger Beratung und Dolmetschung, sowie einem Anwalt und Arzt gewährleistet werden muss, werden ihnen diese Rechte meist verwehrt. Oft wird die Befragung nicht von der Polizei, sondern den Versicherungsagenten und ohne Dolmetscher bzw. mit von ihnen bezahlten Dolmetschern durchgeführt. Eine Aufklärung über die Rechte der Flüchtlinge und die Möglichkeit einen Asylantrag zu stellen, findet nicht oder nur ungenügend statt. Diese Art der Desinformation zeigt Wirkung: Nur etwa zehn Prozent der registrierten »Blinden Passagiere« gelingt es, einen Asylantrag zu stellen. Das liegt nicht daran, dass dieses nicht in ihrem Interesse ist, sondern im Wesentlichen an ihren Bedingungen: Sie befinden sich auf den Schiffen oder in den Gefängnissen in einer uninformierten, unsicheren und rechtlosen Situation. Nur wenn der Betroffene informiert genug ist und sich durchsetzen kann, kann es gelingen, einen Asylantrag zu stellen. Um Menschen in andere Länder abschieben zu können, ist die Kenntnis der jeweiligen Nationalität Voraussetzung. Da aber viele »Blinde Passagiere« keinerlei Ausweispapiere mehr besitzen, haben sich die P&I-Agenten darauf spezialisiert, sogenannte Passersatzpapiere (PEP) zu beschaffen. Ergibt sich aus den Antworten oder den Papieren des Flüchtlings, dass er Bürger eines Staates ist, für den ein aktueller Abschiebestopp besteht, werden diese Angaben und sogar teilweise die Echtheit der Dokumente angezweifelt. Ein Teil der Praxis der Agenten ist, Flüchtlinge in Botschaften von Ländern, in welche abgeschoben werden darf, vorzustellen und die Mitarbeiter davon zu überzeugen, ihnen PEPs auszustellen. Es ist durchaus gängige Praxis, dass Flüchtlinge plötzlich Angehörige eines ihnen völlig fremden Staates sind und auch dorthin abgeschoben werden.

Tödliche Folgen

Dass Flüchtlinge auf ihrer Flucht nach Europa sich oft in Lebensgefahr begeben und viele auch zu Tode kommen, ist eine Konsequenz aus dieser repressiven Politik der Schengen-Staaten. Fälle, in denen »Blinde Passagiere« über Bord geworfen oder auf notdürftig zusammengebauten Floßen ausgesetzt werden, kommen selten an die Öffentlichkeit. Die Dunkelziffer dieser faktischen Morde auf hoher See wird sicherlich ein Vielfaches betragen. In einigen Fällen wird zudem ein rassistischer Hintergrund einiger Seemänner eine Rolle gespielt haben. Offensichtlich ist es aber vor allem die Gesetzgebung der Schengen-Staaten, welche einen unglaublichen Zwang ausübt und einige Seemänner und Kapitäne dazu veranlasst, »Blinde Passagiere« durch Aussetzen zu ermorden. Ein Verhalten nach humanistischen Prinzipien, also, dass Flüchtlinge auch Schutz erfahren, ist überhaupt nicht mehr denkbar. Die Gründe und Ursachen, warum Menschen, oft unter Lebensgefahr, aus ihrer Heimat flüchten, interessieren nicht oder werden heruntergespielt. Die Staaten Europas handeln ausschließlich aus ökonomischem Antrieb und haben sich auf ein Ziel verständigt: Die weitere Abschottung Europas und die konsequente Abschiebung und Abschreckung von Flüchtlingen. Um diese Ziele zu erreichen, wird ein enormer Aufwand betrieben und der Tod von unzähligen Menschen an Europas hermetisch abgeriegelten Aussengrenzen billigend in Kauf genommen.

Kontakt: blindepassagiere(a)aol.com

Für weitere Informationen zum Thema:

Marily Stroux, Reimer Dohrm
Blind Passagiere. Es ist leichter in den Himmel zu kommen als nach Europa
Brandes und Aspel Verlag
Frankfurt/Main 1998