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Die Mauer muss weg. Zur Kampagne gegen die Residenzpflicht

Einleitung

Die Residenzpflicht schränkt die Bewegungsfreiheit von Flüchtlingen massiv ein. Zusätzlich zur Abschottung an den europäischen Außengrenzen werden so immer mehr Grenzen im Inneren geschaffen.

Bild: flickr.com/kietzmann; Björn Kietzmann

Am 7. Oktober 2000 sprangen zwei Vorstandsmitglieder der in Hamburg ansässigen »African Refugees Association« aus dem 4. Stock eines Wohnhauses. Der Grund: Angst vor der Polizei, die vermeintlich an der Tür geklingelt hatte. Beide besaßen gültige Aufenthaltspapiere als Asylsuchende. Sie durften sich jedoch nicht in Hamburg aufhalten, denn dies ist nicht die Stadt, in der ihr Asylverfahren läuft. Eine der Frauen erlitt mehrere Wirbelbrüche beim Aufprall, die andere eine Fraktur der Wirbelsäule, sie muss davon ausgehen, ihr Leben im Rollstuhl zu verbringen.

Die Aufenthaltsgestattung von Asylsuchenden ist nach §56 AsylVfG auf den Landkreis bzw. die kreisfreie Stadt der zuständigen Ausländerbehörde beschränkt. Flüchtlinge, die ihr Grund- und Menschenrecht auf Bewegungsfreiheit wahrnehmen wollen, müssen behördlich um Erlaubnis bitten und dies begründen. Dabei ist die Aufenthaltsbegrenzung gesetzlich als Regel vorgesehen, die Erlaubnis als Ausnahme. Nur verfahrensbezogene Termine z.B. beim UNHCR, »dringendesöffentliches Interesse« und die wenigen Anlässe, bei denen Behörde oder Gericht in einer Versagung »unbillige Härte« erkennen, rechtfertigen ein solches Anliegen. Der einmalige Verstoß gegen die Residenzpflicht ist eine Ordnungswidrigkeit, im wiederholten Fall folgt eine Strafe von 100 Mark bis hin zum Ausweisungsbescheid.

Wie die von 80 Mark Bargeld im Monat bestritten werden sollen, bleibt ebenso Geheimnis der Behörden, wie die Bezahlbarkeit der von einigen Ämtern erhobenen Gebühr von 10 –15 Mark für eine Verlassensgenehmigung. Wer eine Geldstrafe nicht zahlen kann, dem droht Haft. Kritische JuristInnen sehen in der Residenzpflicht einen massiven Eingriff in Grundrechte und Menschenwürde und haben Zweifel, ob sie mit den Menschenrechtsgarantien des Europa- und Völkerrechts vereinbar ist. Eine selbst bestimmte Lebensplanung wird den Betroffenen über Jahre hinweg verwehrt. Menschen zu Objekten und zum Mittel staatlicher Abschreckungspolitik herabzuwürdigen, widerspricht dem Gebot der Menschenwürde.

Der Einzelne als Mittel staatlicher Abschreckungspolitik

1983 erklärte der UNHCR, dass in der BRD durch »Zwangsinternierung in Zentren, ernsthafte Beschränkung der Bewegungsfreiheit (...) in Europa einzigartige Abschreckungsmaßnahmen gegen Asylbewerber zum Tragen gebracht worden« sind. Das gerügte Asylverfahrensgesetz wurde seither noch mehrfach verschärft. Die zynische Begründung des Gesetzes macht Betroffene für den Freiheitsentzug selbst verantwortlich. Bei Sozialhilfebezug gefährde ihre Freizügigkeit die »Verteilung der öffentlichen Lasten« – demnach müsste aber auch SozialhilfeempfängerInnen mit deutschem Pass die Fahrt in die nächste Stadt verwehrt werden. Flüchtlinge stellen, so der Tenor der Begründung, ein potenzielles Risiko für die »öffentliche Sicherheit und Ordnung« dar. Die Beschränkung ihres Bewegungsradius sei auch für »bessere Erreichbarkeit im Asylverfahren und für die Arbeitsverwaltung« gut.

Doch der Gesetzestext ist nicht alles: Sachbearbeitern in Ausländerbehörden und Sozialämtern wird ein zunehmender Spielraum für Ermessen und Entscheidung zugebilligt, den diese konsequent als Aufforderung auslegen, nur minimalste Zugeständnisse zu machen. Zu den legalen – sprich zu Gesetz gemachten – Einschränkungen der Freiheit, kommen völlig extralegale Schikanen. Sie sind fundamentaler Teil einer institutionellen Zurückweisungssystematik. Ohne materielles Interesse werden teilweise Schikanen ersonnen, die dem einzelnen Schreibtischtäter außer Macht- und Lustgewinn, keinen Vorteil bringen.

Das Kontroll- und Maßregelungspotenzial des Asylverfahrensgesetzes ermächtigt offenbar auch Hausmeister und Sicherheitsdienste, die sich als Hilfssheriffs von Ausländerbehörden und Sozialämtern begreifen, zu extralegalen Praktiken. Sie erstellen Anwesenheitslisten in Flüchtlingsheimen: Wer ohne Genehmigung 14 oder manchmal auch nur einen Tag nicht dort auftaucht, läuft Gefahr, die Unterkunft oder einen Teil der Sozialleistungen zu verlieren. Mancherorts sind Sozialämter dazu übergegangen, die ohnehin um mehr als 20 Prozent gegenüber dem Existenzminimum gekürzten Leistungen wöchentlich auszuzahlen, um die Flüchtlinge zu zwingen, sich in den menschenunwürdigen Flüchtlingsheimen aufzuhalten. Flüchtlinge unterliegen einem feinmaschigen Kontrollnetz. Ihr Anspruch auf Anwesenheit ist zeitlich begrenzt und wird permanent in Frage gestellt: Heute legal, morgen illegal.

Allgegenwärtig werden sie darauf hingewiesen, »nicht hierhin« zu gehören und beständig zur Rückkehr aufgefordert. Das Flüchtlingsheim ist der einzige einem Flüchtling zugestandene Ort, wer abwesend ist, wird verdächtigt, sich nicht legal aufzuhalten. Die Produktion von Hilflosigkeit und Gleichförmigkeit gehört zum Programm. Die viel beschworene Weltoffenheit ist nur die paradoxe Situation einerwestlichen Gesellschaft, die nach außen zur Welt ökonomisch offen ist, nach innen aber in Hinblick auf die Teilhabe an sozialen Rechten und politischer Beteiligung geschlossen. An die Stelle der Staatsgrenzen ist eine differenzierte Vielfalt von Grenzen getreten. Während für die Einen die Grenzen im Innern weitgehend unsichtbar bleiben oder zu ihrer anerkennenden Aufwertung beitragen, sind sie für die Anderen fortwährende, unüberwindbare Hindernisse, auf die sie immer wieder treffen.

Überall dort, wo hierarchisierende (bewertende, ethnisierende) Sichtbarmachung, Minorisierung und Ausschluss von Recht, Reichtum und Anerkennung stattfinden, ist eine Grenze: Grenzen sind überall, auf dem Sozialamt und dem Bahnhof, so der Aufruf der Kampagne »Kein Mensch ist illegal«. Antirassistische Politik ist immer noch sehr auf den Ausschluss an nationalen Grenzen durch die Festung Europa fixiert. Die Formen des Ausschlusses, d.h. Fragen politischer und sozialer Rechte und Teilnahme an Gesellschaft und Reichtum sind, wie auch die Analyse des Verhältnisses der unterschiedlichen Akteure und Instanzen (Politiker, Schreibtischtäter, Behörden, Neonazis, Gesetze) rassistischer Ausgrenzung weit außerhalb unseres Blickfelds.

Der Verweigerung von Bewegungsfreiheit muss von links eine Politik entgegen gesetzt werden, die deutlich macht, dass der geographische, historische, politische und soziale Ort in einer auf Ausbeutung und Ungleichheit beruhenden Welt fundamentalen Einfluss auf unsere Möglichkeiten und unsere Politik haben. Es bedarf von Seiten der Linken einer massiven Repolitisierung des Sozialen, wollen wir die Verhältnisse begreifen und angreifen. Die Zunahme der inneren Grenzen und Kontrollen hat die grausame Wirkungsmacht der 1981 gesetzlich verankerten Residenzpflicht massiv verschärft. Kontrollen machen die Regelung durchsetzbar, stigmatisieren Flüchtlinge als kriminell und führen über die Strafbewehrtheit zu einer realen Kriminalisierung. Die Zunahme der Kontrollen geht einher mit der Verrechtlichung von verdachts- und ereignisunabhängigen Kontrollen durch Polizei und BGS seit 1994. Die Kontrollpraxis beruht auf einem »besonders geschulten Auge«, so das bayerische Innenministerium. Untersuchungen belegen, dass der Kontrolldruck gegenüber Nicht-Deutschen um 21 Prozent höher liegt als bei Deutschen.

Kampagne gegen die Residenzpflicht

Im Rahmen des Kongresses der Karawane im April 2000 wurde eine Kampagne gegen die Residenzpflicht gestartet. Seither weigern sich zahlreiche Flüchtlinge in einem Akt zivilen Ungehorsams, Verlassensgenehmigungen zu beantragen und Geldstrafen zu bezahlen. Zwei der Organisatoren des Kongresses, Cornelius Yusfanyi und Sunny Omwenyeke, stehen gerade wegen des Vorwurfs von Residenzpflichtverstößen vor Gericht. Die Kampagne ruft Flüchtlinge dazu auf, die Residenzpflicht öffentlich aktiv und bewusst zu durchbrechen und vermehrt damit vor Gericht zu gehen, notfalls durch Selbstanzeigen bei der Polizei. Alle anderen sind aufgefordert, weitere Wege zu ersinnen, um die Kampagne zu unterstützen. Um die Kampagne öffentlich besser bekannt zu machen, planen die AktivistInnen eine bundesweite Unterschriftensammlung und einen »Marsch der Flüchtlinge auf Berlin«.