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Die extreme Rechte in der Türkei (Teil 2)

Yasar Aydin

Das aus Fingern geformte Symbol der »Grauen Wölfe«

Die Formierung in den 1960ern: MHP und die Grauen Wölfe
Der Oberst Alparslan Türkes gehörte zu den Offizieren, die den Militärputsch vom 27. Mai 1960 durchführten. Bald danach geriet er jedoch in Konflikt mit den Mitgliedern des Komitees für Nationale Einheit (Milli Birlik Komitesi). Ihm und seinen Mitstreitern schwebte eine autoritäre Militärdiktatur vor, die das Land rasch industrialisieren und die nationale Einheit stärken sollte. Türkes und seine Freunde wurden vom  Komitee für Nationale Einheit entlassen und ins Ausland geschickt. Nach einem relativ kurzen Aufenthalt als Militärattaché in Indien kehrte er wieder zurück und trat bald mit seinen Mitkämpfern der Republikanischen Nationalen Bauernpartei bei, übernahm den Parteivorsitz und besetzte die zentralen Gremien mit eigenen Leuten.

Der Name der Partei wurde in Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) umgeändert und die Jugendorganisation Ülkücü Gençlik gegründet (bekannt auch als Graue Wölfe). Ziel dieser Jugendorganisation war die Rekrutierung von Militanten und ihre Ausbildung in Kommandocamps. Sie wurden später als paramilitärische Kräfte zunächst gegen die legalen sozialistischen Organisationen und in den 1970er Jahren gegen revolutionäre Bewegungen eingesetzt. Zur Gewaltpraxis der Grauen Wölfe gehören zahlreiche Attentate auf linke und liberale Intellektuelle, gegen linke Gewerkschafter sowie Pogrome gegen Aleviten in Maras und Çorum, gegen linke Bewegungen und Aktivisten in Fatsa und an den Universitäten.

Der Hauptunterschied zwischen dem Weltbild der MHP und dem der extrem rechten Gruppen und Aktivisten in den 1930ern und  1940ern ist die Einstellung zum Islam. Während die letzteren eine säkulare und islamkritische und zum Teil sogar islamophobe Haltung an den Tag legten und den zentralasiatischen Ursprung betonten, rückte die MHP um Türkes den Islam immer mehr in den Vordergrund und distanzierte sich vom offenen Bekenntnis zum Rassismus. Türkes betonte stets die guten Beziehungen der Türken zu Juden in der Geschichte und Gegenwart. Die Ablehnung zumindest des offenen Rassismus war auch wichtig, um auch Militante unter den Kurden zu rekrutieren, wobei Türkes beachtliche Erfolge erzielen konnte.

Nach einer kurzen Phase der Desorganisation und Desorientierung nach dem Militärputsch von 1980, gelang es der Ülkücü Bewegung, sich unter der Führung von Türkes neu zu formieren. Während der 1980er und 1990er Jahre setzte sich die Islamisierung, trotz Unterstützung der politischen Kampagne gegen die islamistische Wohlfahrtspartei, fort. Heute gehört eine reaktionäre Auslegung des Islams (»Türkisch-Islamische Synthese«) zum wesentlichen Bestandteil extrem rechter Ideologie. Zu den Prioritäten der Ülkücü Bewegung gehörten in den 1990er Jahren die Unterstützung des Staates beim Kampf gegen die bewaffneten Milizen der PKK und Werbung zur Unterstützung ausländischer Türken (eine Art »Soft-Pantürkismus«). Die enge Zusammenarbeit mit der konservativ-sozialdemokratischen Regierung zunächst unter der Führung von Süleyman Demirel und später von Tansu Çiller zu Lebzeiten von Türkes sowie die Regierungsbeteiligung zusammen mit der Mutterlandspartei und Demokratischen Linkspartei unter der Führung von Bülent Ecevit führte auch zu einer gewissen Mäßigung zumindest der Partei, wenn auch nicht der Anhänger der Ülkücü Bewegung.

Unter der Führung von Devlet Bahçeli hat sich die MHP zu einer nationalistischen bzw. rechtskonservativen Partei mit antidemokratischen, antiwestlichen und reaktionär-konservativen Tendenzen entwickelt. Die radikalere extrem rechte Linie wird eher von der Partei der Großen Einheit (Büyük Birlik Partisi) unter der Führung von Muhsin Yazicioglu vertreten.

Rechtsextremismus oder Faschismus?

Waren oder sind die MHP und die Ülkücü Bewegung faschistisch? Wenn wir uns die Ideologie und Praxis dieser Partei und der ihr nahe stehenden Organisationen in den 1960er und 1970er Jahren vor Augen führen, erkennen wir, dass sie fast alle Merkmale faschistischer Bewegungen tragen. Was in der Ülkücü Bewegung fehlte, waren der positive Bezug zum Nationalsozialismus, zur Vernichtung europäischer Juden und ein hemmungsloser Vernichtungswille. Das Fehlen dieser Merkmale und der Islamismus können als Besonderheit der türkischen faschistischen Bewegung betrachtet werden.

Ist die gegenwärtige negative Hochkonjunktur der extremen Rechten der Vorbote einer faschistischen Gefahr? Eine solche Deutung wäre übertrieben, zumal in der heutigen Türkei von einer gut organisierten Bewegung, die sich die faschistische Utopie zum Ziel gesetzt hat, nicht gesprochen werden kann. Weder die gegenwärtige MHP noch die radikalere Partei der Großen Einheit haben ein solches Ziel. Ferner fehlen in diesen Parteien die strikte Unterwerfung unter das Führerprinzip oder ein ausgeprägter Vernichtungswille gegen bestimmte Gruppen. Zudem verfolgt die MHP heute eine, verglichen mit den 70er Jahren, »besonnene« Politik und distanziert sich von gewalttätigen Auseinandersetzungen.

Man sollte auch nicht aus den Augen verlieren, dass die MHP nicht in der Lage war, bei den nationalen Wahlen die 10%-Hürde zu überspringen, um im Parlament vertreten zu sein. Aktuellen Polit-Barometern zufolge steht die MHP an der Schwelle der 10%-Hürde, die Partei der Großen Einheit sogar unter 2 %. Außerdem würde der herrschende historische Block, zu dem auch die Militärs gehören, den Aufbau einer faschistischen Bewegung nicht zulassen. Es ist jedoch realistisch, dass es der MHP gelingt, die konservativ-reaktionären Proteste in Zentral- und Ostanatolien sowie an den Rändern der Großstädte für sich in Stimmen umzumünzen, die für eine Regierungsbeteiligung ausreicht. In diesem Falle könnte die MHP versuchen, die Demokratisierung der Gesellschaft und die Anbindung an die EU zu verlangsamen.

Doch all dies reicht für eine Entwarnung nicht aus, denn es herrscht ein für die extreme Rechte günstiges Klima: So werden zum Beispiel in der Schwarzmeerregion Gerüchte in Umlauf gebracht, die orthodoxe Kirche missioniere Jugendliche aus armen Familien, bilde sie in Griechenland aus und setze sie in der Region (als Missionare) wieder ein. Vermutlich waren solche Gerüchte auch beim jüngsten Mordanschlag gegen einen katholischen Geistlichen ausschlaggebend. Ähnliche Gerüchte kursieren auch in Bezug auf kurdische Jugendliche: »separatistische Gruppen« würden sie gezielt in die westtürkischen Städte bringen und dort zu kriminellen Zwecken einsetzen.

Die Rezeption solcher Propaganda wird begünstigt durch das weiterhin ungelöste Kurdenproblem (nicht zuletzt wegen unrealistischer Forderungen einiger kurdischer Gruppierungen und ihres pro-amerikanischen Kurses), politische Spannungen mit den USA, die US-amerikanische Militärpräsenz im Nahen Osten und die Erwägung eines Angriffs auf den Iran. All dies erzeugt ein ernsthaftes Gefühl der Unsicherheit und Bedrohtheit, das dem alten Trauma (Sevrés) neues Leben einhaucht. Was in der Türkei gegenwärtig fehlt ist ein Bündnis progressiver Kräfte, das die sozialen  und (sicherheits-)politischen Unsicherheits- und Bedrohtheitsgefühle ernst nimmt, sich aber gleichzeitig nicht davor scheut, Agitatoren, die aufgestaute Gefühle bauchrednerisch ausbeuten, aktiv zu bekämpfen.