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Die „Aktion 3“

Einleitung

»Wenn es ein Formular dafür gibt, wird es seine Ordnung haben.« Im Zusammenhang mit dem Holocaust zeigt diese alte deutsche Spruchweisheit ihre grausamste Seite. Die Belege dafür befinden sich in den Akten der Finanzämter und sind bis heute unter Verschluß. Wäre es nach der Oberfinanzdirektion Köln und dem Bundesfinanzministerium gegangen, wüßte immer noch niemand, was für hochbrisantes Material über Jahre hinweg in deren Kellern verstaubte. Aber glücklicherweise ist es dem engagierten Düsseldorfer Historiker Wolfgang Dreßen gelungen, an den bürokratischen Klippen vorbei in das Archiv zu gelangen. Aus seiner Arbeit ist eine ausgezeichnete Buchdokumentation sowie eine interessante Ausstellung entstanden, die zuerst im Düsseldorfer Stadtmuseum zu sehen war und für reichlich Zündstoff in der politischen Debatte gesorgt hat.

Foto: Bundesarchiv, Bild 146-1982-174-27 / Großberger, H. / CC-BY-SA

Ausweisung jüdischer Polen aus Nürnberg im Oktober 1938.

Deutsche verwerten jüdische Nachbarn

Die bürokratische Vorbereitung des Holocaust begann lange vor der Ermordung der Juden in den Konzentrationslagern. Dies wird in Form von behördlichen Vordrucken, Verfügungen, Vermögenserklärungen und Deklarationen der Banken über Aktiendepots erschreckend deutlich. Juden, die deportiert wurden, mußten auf »ordnungsgemäßem Weg« ihr Vermögen auflisten, das dem Staat zufiel und von den Finanzämtern verwaltet wurde.

Nicht der gewalttätige Barbar, sondern der pflichtbewußte Beamte als Motor der Judenvernichtung

Die Akten geben Hinweise auf die intensive Beteiligung der Bevölkerung. Vom Beispiel eines Hausverwalters, der erfolgreich um die »Abwanderung« einer jüdischen Familie bittet, um die Wohnung einer arischen Familie zu vermieten bis hin zu dem denunzierenden Nachbarn, der das Schlafzimmer der »abgewanderten« jüdischen Familie gern nimmt.

Unter dem Titel »Aktion 3« veranstalteten die Finanzbehörden in den deutschen Großstädten regelmäßige Massenversteigerungen (selbstverständlich »ordnungsgemäß« durchgeführt), von denen die Bevölkerung über die lokale Presse benachrichtigt wurde. Porzellan, Sessel und Stühle, Küchenschränke und Damenbekleidung, sowie Hygieneartikel konnten äußerst billig von der Normalbevölkerung ersteigert werden. Nahezu jede »ausgebombte« Familie saß an einem Tisch, der aus dem Besitz ehemaliger jüdischer Nachbarn stammte.

Kostbare Gegenstände gelangten an höhere Stellen. Der Oberbürgermeister von Köln erwarb einen Gobelin, an anderer Stelle wird über den Kauf »antiker Schränke« Buch geführt. Die Träger des Ritterkreuzes, der höchsten Auszeichnung der Wehrmacht des Zweiten Weltkrieges, wurden mit besonders wertvollen Möbelstücken aus den Beständen französischer Juden bedacht, die wahrscheinlich heute noch zum Nachlaß von Mitgliedern der nach wie vor bestehenden "Ordensgemeinschaft der Ritterkreuzträger" gehören.

Nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft hatten diejenigen, die das KZ überlebt hatten, große Probleme, ihr Eigentum, ihre Wohnung oder ihren Hausrat wieder zu erlangen. Nur ein Beispiel: »In einer Wiedergutmachungssache aus dem Jahre 1961 wird der Fall einer Jüdin geschildert, die nach der Ermordung ihrer Eltern im August 1945 in ihr früheres Heimatdorf zurückkehrte und versuchte, den versteigerten Hausrat zurückzuerhalten. Sie wurde vom Oberfinanzpräsidenten Düsseldorf in schärfster Form gerügt und auf das gesetzliche Verfahren verwiesen. (...) Im September 1950 wurde der Steuerinspektor Krüppel vernommen. Er bezeichnete die von ihm mitgeleitete Versteigerung aus dem Jahr 1942 als ,ordnungsgemäß'. Diese Sprachregelung begann sich durchzusetzen. Die Versteigerung sei notwendig gewesen, weil die Herkunft der Dinge unbekannt war. Alle hatten vergessen, daß der jüdische Eigentümer mitten im Dorf gelebt hatte. Dankbar übernahm im Oktober 1950 der Oberfinanzpräsident Düsseldorf die Sprachregelung1

Wir wollen nichts gewußt haben – und sorgen dafür, daß das so bleibt

Diese Dokumente zeigen das unglaubliche Ausmaß kollektiver Verdrängung, die bis heute stattfindet. In schlichter Fortrührung der NS-Logik führten die Finanzämter nicht nur die Akten weiter, sondern waren auch die Ansprechpartner für Rückerstattungen. Teilweise waren es dieselben Personen, die zuvor die Enteignung und Versteigerung des jüdischen Eigentums durchgeführt hatten.

Die Akten wurden als angebliche Steuerakten unter besonderen Schutz des Archivgesetzes gestellt und sollten über achtzig Jahre für die wissenschaftliche und politische Auswertung gesperrt werden. Inzwischen vertritt das Bundesfinanzministerium den Standpunkt, daß es sich um sogenannte »Parteiakten« handele, »bei denen die Verfahrensbeteiligten auf der einen Seite NS-erfolgte bzw. deren Nachkommen sind und auf der anderen Seite Rückerstattungsverpflichtete. (…) Aus Gründen des Persönlichkeits- und Datenschutzrechts darf daher vor Ablauf der archivrechtlichen Aufbewahrungsfrist Akteneinsicht grundsätzlich mir mit Zustimmung der Verfahrensbeteiligten bzw. deren Rechtsnachfolgern gewährt werden.«2 NS-Verfolgte, die sich dazu in den letzten Monaten geäußert haben, haben keinen Zweifel daran gelassen, daß sie auf diesen »Persönlichkeitsschutz« keinen Wert legen, daß sie darin keinerlei Vorteile für die Opfer erkennen können, wohl aber den Schutz der TäterInnen, der auch nach mehr als fünfzig Jahren immer noch im Vordergrund steht.

Um das Schweigen zu durchbrechen und das hochbrisante Material endlich der öffentlichen Diskussion und Auswertung zugänglich zu machen, hat Wolfgang Dreßen sich über einige Regeln hinwegsetzen müssen. Ein Armutszeugnis für die bundesdeutsche NS-Verarbeitung, daß dieses Unrecht auch nach so vielen Jahren nur über einen »Rechtsbruch« zutage zu fördern ist. Erst dadurch konnte überhaupt deutlich gemacht werden, worum es in diesen Akten geht und warum sie nicht länger verstauben dürfen. Die Forderung nach Auswertung der Aktenbestände wird in der Öffentlichkeit inzwischen von Ignatz Bubis und Michel Friedman bis in die Finanzbehörden hinein vertreten.

Das hessische Finanzministerium hat den entsprechenden Aktenbestand, nachdem sie über die Düsseldorfer Ausstellung auf seine Existenz aufmerksam geworden sind, dem Fritz- Bauer-Institut zur wissenschaftlichen Erschließung übergeben. Ein Staatssekretär im NRW-Finanzministerium hat sich inzwischen ausgesprochen erfreulich in der Öffentlichkeit verortet: »Ich persönlich bin der Auffassung, daß es in bestimmten Lebenssituationen solche Provokationen geben muß, wenn sie einem höheren Rechtsgut untergeordnet sind, und das heißt in diesem Fall 'Gerechtigkeit'.«

Die Arbeitsstelle Neonazismus an der FH-Düsseldorf bemüht sich derzeit um eine weitere Öffnung von Archiven. In Düsseldorf wurde nur ein kleiner Ausschnitt aus hunderttausenden Akten gezeigt, die noch in den deutschen Finanzbehörden vieler Städte lagern. »Wir bemühen uns um eine Initiative, die eine Offenlegung dieser Archive fordert. Es handelt sich im ehemaligen Reichsgebiet um hunderttausende Akten, die das Schicksal der luden, die Begehrlichkeit und das Wissen der Deutschen und den legalen Raubzug der deutschen Bürokratie belegen.«3

Buchhinweis: Betrifft: Aktion 3. Deutsche verwerten jüdische Nachbarn - Dokumente zur Arisierung, ausgewählt und kommentiert von Wolfgang Dreßen.

  • 1"Betrifft: Aktion 3. Deutsche verwerten jüdische Nachbarn - Dokumente zur Arisierung", Wolfgang Dreßen. S. 233
  • 2Zitat aus einem Brief des Bundesfinanzministeriums vom 6.1.99
  • 3Arbeitsstelle Neonazismus an der FH Düsseldorf