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Deutsche Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts

Der Titel des Buches klingt bleiern, nach einem auf mehrere Bände angelegten Monumentalwerk in Leder gebunden, nach nur schwer verdaulicher Kost. Irrtum. Jost Hermand hat eine instruktive und hintersinnige Monographie zur deutschen Kultur des 20. Jahrhunderts vorgelegt.

Der Blick in den Katalog jeder halbwegs gut sortierten wissenschaftlichen Bibliothek belehrt den an Kulturgeschichte interessierten Leser, dass er sich einem erhabenen Thema zuwendet.  Der Professor für Germanistik an der Universität Wisconsin/USA und Verfasser einer Vielzahl von Studien auch zu kulturgeschichtlichen Aspekten der völkischen Bewegung und des Nationalsozialismus hingegen vermag auf knapp dreihundert Seiten die deutsche Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts so darzustellen, dass man sie als fesselnde Reise zu den politischen Lavaströmen des 20. Jahrhunderts liest.

Im Vorwort unternimmt Hermand einen sechszehn seitigen Gewaltmarsch durch die kulturgeschichtlichen Epochen des letzten Jahrhunderts, die hernach im Buch entfaltet werden. Schon in dieser Einleitung wird deutlich, dass Hermand Kulturgeschichte nicht als  schöngeistige, selbstreferentielle oder gar unpolitische Vergnügung ansieht, sondern als ein beziehungsreiches Geflecht gesellschaftlicher Sphären, aus dem sich Glanz und Elend deutscher Kultur im 20. Jahrhundert ergründen lassen. Das erste Kapitel widmet sich der kulturellen Situation des deutschen Kaiserreiches an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Hermand spannt den Bogen vom Aufstieg der großbürgerlichen Liebe zum Neoklassizismus der Gründerzeit über die politisch ambivalente Lebensreformbewegung zur frühexpressionistischen Revolte. Anschaulich analysiert der Autor, wie diese Kulturkonzepte in der Folge des ersten Weltkrieges entweder untergehen, oder aber sich im Sog von Krieg und Revolution radikalisieren, wie im Falle der völkischen Bewegung und des Expressionismus.

Prägnanter als in mancher ausführlichen Monographie zum deutschen Exil während der NS-Zeit, beschreibt Hermand jene sehr divergierenden Interessen des intellektuellen Exils, die sich um Personen, Weltanschauungen und politische Konzepte gruppierten. Der Autor macht klar, dass und warum es aus dem deutschen Exil heraus nicht gelang, eine wirksame Bewegung gegen die NS-Diktatur aufzubauen. Die Emigranten blieben, so sehr sie sich als das eigentliche, »andere« Deutschland verstanden, Parias, deren Status in den Gastländern bis auf wenige Ausnahmen politisch und ökonomisch höchst prekär blieb.

Eingehend widmet sich Hermand der komplexen Frage der sogenannten inneren Emigration, also jene Künstler und Publizisten, die nach der Machtübernahme der Nazis im Lande verblieben, sich jedoch nicht für die Diktatur engagierten. Ihr Spektrum reichte von expliten Gegner des NS-Staates über unpolitische Künstler, bis zu solchen, die zwar der NS-Herrschaft skeptisch gegenüberstanden, jedoch gründsätzlich die autoritäre Gesellschaftsformation befürworteten. Exemplarisch seien hier Ernst von Salomon und Ernst Barlach genannt.
Die Darstellung der politisch zusehens zerklüffteten Kulturlandschaft der unmittelbaren Nachkriegszeit der Jahre 1945–48 bleibt hingegen Fragment. Zu rasch geht der Autor zur kulturellen Ausgangslage des kalten Krieges am Beginn der 1950er Jahre über, um die zeitlich davor liegenden Versuche unterschiedlicher Akteure, zu einer gesamtdeutschen Erneuerung der Kultur zu gelangen, zu würdigen. Die Kulturgeschichte beider deutschen Staaten zu erzählen, begeht Hermand nicht den inzwischen weit verbreiteten Fehler, die Geschichte der DDR nur als geschichtsteleologisches Strömen zur Demokratie westdeutscher Prägung zu deuten, sondern als Wechselwirkungsprozess mit der Kultur der alten Bundesrepublik.

Eine weitere Stärke des Bandes liegt darin, nicht nur Ideengeschichte zu schreiben, sondern ebenso und gleichrangig die Entwicklungen in der Kulturindustrie und ihrer untergründigen Zeitströmungen in den Bereichen Konsum und Unterhaltung zu berücksichtigen. So benennt der Autor regressive Tendenzen in der Nachkriegskultur, wie auch die dünne Firnis des kulturellen Aufbruchs in Ost und West nach 1968. Hermands Buch sollte neben und mit den Standardwerken zur deutschen Historiographie des 20. Jahrhunderts als ein Buch der Einsicht in die Komplexität deutscher Existenz im Zeitalter der Extreme gelesen und verstanden werden.

Hermand, Jost
Deutsche Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts 
Primus – Verlag
Darmstadt, 2006
309 S.