Skip to main content

Colonia Dignidad - ein Staat im Staate

Ute Löhning
Einleitung

Ein „Staat im Staate“ war die 1961 in Chile gegründete deutsche Sektensiedlung Colonia Dignidad. Faktisch galten dort weder chilenische noch deutsche Gesetze, das Sagen hatte eine Führungsgruppe rund um den deutschen Laienprediger Paul Schäfer. Freiheitsberaubung und Gehirnwäsche, sklavenähnliche Arbeitsverhältnisse und sexualisierte Gewalt gehörten zum Alltag der Bewohner:innen. Während der chilenischen Diktatur (1973 bis 1990) wurden dort Oppositionelle gefoltert und ermordet. Wie konnte dieses Regime, dessen Ausläufer bis in die Gegenwart wirken, entstehen und sich so lange halten?

Foto: Jorge Escalante

Colonia Dignidad: „Die Kolonie gewinnt immer“ („La Colonia siempre gana“)

Die Colonia Dignidad war „eine der folgenschwersten kriminellen Organisationen“, die in den letzten Jahrzehnten in Chile und der Bundesrepublik gewirkt haben, schreibt Jan Stehle in seiner 2021 veröffentlichten Dissertation "Der Fall Colonia Dignidad: Zum Umgang bundesdeutscher Außenpolitik und Justiz mit Menschenrechtsverletzungen 1961-2020". Auf dessen aufwändige Recherche sowie auf "Unser geraubtes Leben" von Ulla Fröhling stützen sich viele Informationen in diesem Artikel. Etwa ein halbes Jahrhundert lang schien die deutsche Siedlung schier unangreifbar. „La Colonia siempre gana“ („Die Kolonie gewinnt immer“), hieß es deshalb in Chile. Dabei wurde die Grundstruktur im Westdeutschland der Nachkriegsjahre gelegt, wo die Colonia Dignidad ihren Ursprung hat.

Jugendpfleger und charismatischer  Laienprediger

Dort arbeitete der 1921 in Troisdorf (Rhein-Sieg-Kreis) geborene Paul Schäfer, der im 2. Weltkrieg als Sanitäter eingesetzt war, nach dem Krieg als Jugendpfleger in evangelischen Einrichtungen. Mehrmals wurde er wegen sexueller Übergriffe auf Jungen entlassen, ohne dass Strafanzeigen gestellt wurden. Seine sexualisierte Gewalt blieb im Kontext der fehlenden gesellschaftlichen Debatte zum Thema jahrelang ohne Konsequenzen. Jugendliche blieben bis nachts in seiner Wohnung oder zogen mit ihm „betend und singend durch Wald und Flur“. Eltern sprachen von „suggestiver Gewalt“, „sektischen Betstunden“ und „hyp­no­tischen Einflüssen1 auf ihre Kinder, die ihnen gegenüber vollkommen verschlossen waren. Der Mechanismus, Kinder von ihren eigenen Familien zu entfremden, sollte später wiederholt auch gegenüber chilenischen Kindern angewandt werden.

Als charismatischer Laienprediger scharte Schäfer auch in baptistisch-freikirchlichen Gemeinden Anhänger:innen um sich: viele kamen aus einfachen Verhältnissen oder aus ehemaligen deutschen Siedlungsgebieten in Osteuropa. Die baptistischen Prediger Hugo Baar aus Gronau und Hermann Schmidt – ein früherer Luftwaffenoffizier aus der Umgebung von Hamburg - schlossen sich dem Kreis an und gehörten fortan zur Führung der Gruppe.

Ein „von urchristlichen Ideen geprägter Diskurs“ bildete ein (pseudo-)religiöses, geistiges Fundament. Schäfer bezeichnete sich schon damals in seinen Reden als „der Herr Jesus“ und seine Anhänger:innen als „Auserwählte“. Indem er sie zwang, ihm angebliche Sünden zu beichten und ihre empfindlichsten Schwachstellen offenzulegen, verschaffte er sich Macht über sie. Wer die Gruppe verlassen wollte, wurde schon damals brutal verprügelt. Wer sich verliebte oder auf eine Beziehung einließ, wurde mit Psychopharmaka oder Elektroschocks misshandelt.

Wirtschaftliche Basis und weitgehende Autarkie

Die Gruppe konsolidierte ihre wirtschaftliche Basis in Form einer Gütergemeinschaft, in die die Mitglieder ihr Vermögen einbrachten und in der der Zwang zur unentgeltlichen Arbeit unter dem Leitsatz „Arbeit ist Gottesdienst“ verklärt wurde. Da in der Gruppe verschiedenste Berufe vertreten waren, erhielt sie eine weitgehende Autarkie. Von Anfang an machten sie auch Foto-und Filmaufnahmen und verwendeten diese für die Außendarstellung. Sie gründeten den Verein „Private Sociale Mission“, der Träger eines Jugendheims wurde, das sie auf einem in Heide bei Siegburg erworbenen Grundstück errichteten. Über diesen Verein, der als Rechtsperson in Deutschland bis in die 1990er Jahre bestehen blieb, wurden später Container mit Kleidung, Maschinen und auch Waffen von Deutschland nach Chile geliefert. Über mehrere Lebensmittelgeschäfte in Siegburg wurden bis Ende der 1980er Jahre in der Colonia Dignidad in Chile produzierte Lebensmittel in Deutschland verkauft.

Die Gruppe pflegte von Anfang an eine intensive Lobbyarbeit bei Politik und Behörden. Der chilenische Botschafter in Deutschland, Arturo Maschke, und eine Vertreterin des Bundesfamilienministeriums kamen 1960 zur Einweihungsfeier des Jugendheims, der Direktor des Siegburger Gymnasiums fand lobende Worte. Ohne den autoritär geprägten kulturellen Hintergrund, in dem Zucht und Ordnung als Grundprinzipien der Pädagogik galten, wäre die Entwicklung der Gruppe in dieser Form vermutlich nicht möglich gewesen. Wie in Heide waren auch in anderen west- und ostdeutschen Heimen – oft als „schwer erziehbar“ eingestufte - Kinder und Jugendliche Prügelstrafen, sexualisierter Gewalt, teils auch Zwangsarbeit unterworfen und von der Außenwelt abgeschottet.

Ausreise nach Chile

Als Eltern 1961 erstmals Strafanzeigen wegen sexuellen Missbrauchs gegen Schäfer stellten, reiste dieser nach Chile aus. Rund 300 Anhänger:innen folgten ihm, darunter mehrere quasi entführte Kinder, deren Eltern lediglich Einverständniserklärungen für kurze (Chor-)Reisen unterschrieben hatten. Es kam zu weiteren Familientrennungen: wollte ein Ehepartner nicht ausreisen oder Haus und Vermögen nicht an die Gemeinschaft übertragen, drängte die Führungsgruppe oft zur Scheidung, diffamierte die Person als geisteskrank. Der chilenische Botschafter Maschke und der Konsul Osorio sollen die Einwanderung nach Chile unterstützt haben. Im Kontext der deutschen Siedlungsbewegung, die den Süden Chiles ab Mitte des 19. Jahrhunderts stark geprägt hat, gelten Deutsche als arbeitsam, ordentlich und effizient, viele sind konservativ und vergleichsweise wohlhabend.

Das Haus in Heide wurde für mutmaßlich 900.000 DM an die Bundeswehr verkauft. In Chile erwarb die Gruppe nach und nach 17.000 Hektar Land: knapp 400 km südlich der Hauptstadt Santiago, 40 km entfernt von der nächsten Stadt Parral, in unwegsamem Gelände am Fuß der Anden, nur über eine Schotterpiste zu erreichen. Die Siedler:innen machten Land urbar und erbauten eine Siedlung mit nahezu autarker Infrastruktur, Werkstätten, Landwirtschaft, Tierhaltung. Später kamen Krankenhaus, Schule, Steinbruch, Goldmine und Restaurantbetrieb hinzu.

Erwachsene, die nicht zur Führungsgruppe gehörten, und Kinder mussten oft 16 Stunden pro Tag arbeiten, ohne Sonn- oder Feiertage, ohne Lohn, ohne Einzahlungen in Sozialsysteme. Viele Betroffene stehen heute ohne Schulabschluss oder Ausbildung, ohne Geld oder Sozialabsicherung da.

Trennung von Familien, Misogynie

Männer, Frauen und Kinder lebten und arbeiteten streng voneinander getrennt. Vertrauensvolle Beziehungen wurden unterbunden oder zerstört. Frauen standen in der Hierarchieordnung der Colonia Dignidad unter den Männern, wurden bis ins hohe Alter als „Mädchen“ bezeichnet, von Schäfer als „Hühner“ oder „Sauweiber1 beschimpft. Kinder wuchsen in Mädchen- oder Jungengruppen mit „Gruppentanten“ ohne körperliche und emotionale Nähe auf, manche wussten nicht, wer ihre Eltern waren.

Sexualität und das Wissen um biologische Zusammenhänge waren tabuisiert. Körperdarstellungen in Schulbüchern und der Bibel wurden überklebt, viele in der Colonia Dignidad aufgewachsene Menschen wussten bis in die 2000er Jahre hinein nicht, wie Kinder gezeugt werden. Nur wenige privilegierte Personen durften heiraten. Anfang der 1970er Jahre wurde eine Gruppe von 10- bis 12-jährigen Kindern über ein Jahr lang nachts regelmäßig mit Elektroschocks gequält – angeblich um sexuelle Regungen im Keim zu ersticken. Zugleich umgab sich Schäfer mit Jungen, die er systematisch sexualisierter Gewalt unterwarf. Inzwischen berichten auch Frauen über sexuelle Übergriffe durch Schäfer.

Abschottung nach außen

Die meisten Sektenangehörigen durften die Siedlung nicht verlassen. Mitglieder der bewaffneten „Sicherheitsgruppe“ überwach­ten das Gelände mithilfe hochtechnisierter Installationen von Kameras, Mikrofonen und Meldedrähten. Wer zu fliehen versuchte, wurde meist wieder eingefangen. Alles was Orientierung geben konnte, war verboten: Es gab weder Uhren noch Zeitung, Radio oder Fernsehen. Briefe zu Angehörigen in Deutschland wurden zensiert. Alles von „außen“ galt als böse, gefährlich, teuflisch, verwerflich oder im Zweifel kommunistisch. Antikommunismus als Kampfbegriff spielte in der Geschichte eine wichtige Rolle: als Motivation für die Ausreise aus Deutschland, als Flucht vor einem befürchteten Angriff der Sowjetunion, und in der strammen Orientierung auf die Diktatur.

Mythos Wohltätigkeit: das Krankenhaus

1961 wurde die „Sociedad Benefactora y Educacional Dignidad“ („Wohltätigkeits- und Erziehungsgesellschaft Würde“) unter der Leitung Hermann Schmidts gegründet. Sie wurde als gemeinnützig anerkannt, von Steuern wie Importzöllen befreit und von Kontrollen ausgenommen. Viele Sektenangehörige glaubten selbst an die Erzählung, dass sie für sich ein Leben in Gemeinschaft aufbauen und außerdem der armen und von einem schweren Erdbeben 1960 getroffenen Landbevölkerung in Chile mittels kostenlosem Zugang zum Kranken­haus helfen würden. Tatsächlich wurden Menschen aus den umliegenden Dörfern im siedlungseigenen Krankenhaus behandelt.

Dennoch war die Wohltätigkeit ein Mythos: So ließ sich das Krankenhaus die Behandlungskosten vom chilenischen Gesundheitsdienst erstatten. Als renitent geltende Siedlungsangehörige oder solche die zu fliehen versuchten, wurden im Kran­kenhaus mit Elektroschocks und zwangsweise verabreichten Psychopharmaka grausam misshandelt, manche jahrelang eingesperrt. Frühere Siedlungsbewohner berichten, im Krankenwagen der Siedlung seien Waffen und politische Gefangene transpor­tiert worden. Außerdem kam es im Krankenhaus zu betrügerischen Aneignungen chilenischer Kinder. Manchen Müttern wurde mitgeteilt, ihr Kind sei nach der Geburt oder einer Behandlung verstorben.

Engmaschiges Unterstützungsnetzwerk

Zahlreiche unter Druck oder Vorspiegelung falscher Tatschen vollzogene Adoptionen, wurden im Standesamt in der nahegelegenen Ortschaft Catillo eingetragen, das zu einem engmaschigen Netzwerk von Unterstützer:innen der Colonia Dignidad gehörte. Mitarbeiter:innen von Polizei, Justiz und sonstigen Behörden erhielten oft Geschenke in Form von Naturalien (Gebäck, Fleisch- und Wurstwaren), wurden zu Feierlichkeiten oder Urlaubsaufenthalten in die Siedlung eingeladen. Reichte das nicht aus, wurde Druck auf sie ausgeübt. Zusammen mit Militärs und Polizisten aus der Umgebung vertrieben Angehörige der Colonia Dignidad Anfang der 1970er Jahre etwa 35 Familien von Landarbeiter:innen, die eine Art Pachtvertragsverhältnis hatten, gewaltsam von ihrem Gelände.

Aus der Colonia Dignidad geflüchtete Siedler:innen, die Schutz bei umliegenden Polizei­stationen suchten, wurden von dort oft wieder zurückgebracht, Anzeigen oder Klagen gegen die Siedlung wurden meist abgewiesen. Die Colonia Dignidad erstattete oft Gegenanzeigen, bezahlte teure und gute Anwälte, die die Auseinandersetzungen meist gewannen.

Eine entscheidende Rolle bei der Verfestigung der Macht spielten enge Beziehungen der Führung der Colonia Dignidad zur deutschen Botschaft in Santiago. Die Botschaft gewährte Personen, denen die Flucht aus der Siedlung gelungen war, teils keinen Schutz, sondern ließ zu, dass Angehörige der Sektenführung diese wieder abholten. In der Botschaft wurden Pass­dokumente für Siedlungsbewohner:innen en bloque ausgestellt. So liefen Zahlungen aus der deutschen Rentenkasse für ältere Siedlungsangehörige weiter und wurden auf ein Sammelkonto überwiesen, auf das die Rentenempfänger:innen selbst keinen Zugriff hatten.

Auch im Auswärtigen Amt verhallten Hilfsgesuche folgenlos, in denen Verwandte von Sektenmitgliedern ihre Sorge um die in der Colonia Dignidad festgehaltenen Angehörigen ausdrückten. Dabei waren die Verhältnisse in der deutschen Siedlung spätestens seit zwei gelungenen Fluchten 1966 durch Presseberichte in Deutschland und Chile bekannt.

Strategische Bedeutung für die Diktatur

Bereits während der Regierung des Linksbündnisses der Unidad Popular (1970 bis 1973) organisierten rechtsextreme Gruppen wie „Patria y Libertad“ („Vaterland und Freiheit“) oder „Comando Rolando Matus“ in und mit der Colonia Dignidad militärische Trainings und verübten gemeinsam Sabotageakte. Am 11. September 1973 wurde der Putsch gegen Salvador Allende in der Siedlung bejubelt und gefeiert. Einzelne Angehörige der Colonia Dignidad wie Kurt Schnellenkamp arbeiteten eng mit chilenischen Militärs zusammen, tauschten Waffen und Informationen über Oppositionelle aus.

Der chilenische Geheimdienst Dirección de Inteligencia Nacional (DINA) richtete auf dem Siedlungsgelände ein Gefangenenlager ein. Hunderte Oppositionelle wurden dort gefoltert, Dutzende ermordet. Ihre Leichen wurden in Gruben verscharrt, Jahre später wieder ausgegraben und verbrannt, wie Aussagen von Siedlungsbewohner:innen belegen. Bis heute fordern Angehörige der Verschwundenen Aufklärung des Schicksals ihrer Liebsten.

Ab 1976 veröffentlichten die UNO und Amnesty International Berichte von Chilen:innen, die Folter in der Colonia Dignidad überlebt hatten. Der damalige deutsche Botschafter Erich Strätling erklärte kurz darauf nach einem Besuch in der deutschen Siedlung, es gebe dort keine Haft- oder Foltereinrichtungen und führte als weiteren Beleg Luftaufnahmen der chilenischen Luftwaffe an. Im Kontext des Kalten Krieges waren dem Botschafter und der Bundesregierung die Colonia Dignidad und auch die Diktatur unter Pinochet näher als die Wahrung von Menschenrechten.

Für die Diktatur hatte die Colonia Dignidad strategische Bedeutung: Angehörige der deutschen Siedlung installierten Funktechnik in Haftzentren der DINA. In der Colonia Dignidad fanden gemeinsame Foltertrainings mit DINA-Angehörigen statt, es gab Experimente mit Sprengstoff und Giftgassubstanzen. Die Führung der deutschen Siedlung legte ein Geheimarchiv mit rund 45.000 Karteikarten an, in dem sich Informationen über Verhöre von Gefangenen finden.

Der deutsche Waffenhändler und BND-­Informant Gerhard Mertins (Deckname „Uranus“) besuchte und verteidigte die Colonia Dignidad mehrfach. Der frühere SS-Offizier, der nach 1945 Kontakte zu neonazistischen Gruppen unterhielt, handelte über seine Firma „Merex AG“ mit ausgesonderten Waffen der Bundeswehr und lieferte im Wissen des BND auch Rüstungsmaterial in Spannungsgebiete. Mertins beschaffte Waffen für die Siedlung und soll durch deren Vermittlung auch welche an das chilenische Heer verkauft haben.

Politischen Rückhalt genoss die Colonia Dignidad bei einigen CSU-Angehörigen rund um Franz Josef Strauß, wie dessen Berater und CSU-Auslandsreferent Dieter Huber, oder bei dem Münchener CSU-­Stadtrat Vogelsgesang. Bedeutend waren enge Verbindungen zu zwei Würzburger Professoren: dem Soziologen Lothar Bossle mit direktem Kontakt zu Pinochet sowie dem Juristen Dieter Blumenwitz. Der erstellte nach Stehles Recherchen ein juristisches Gutachten für die Colonia Dignidad und wirkte an der Ausarbeitung der chilenischen Verfassung von 1980 mit, in der die Diktatur das neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell festschrieb. Jaime Guzmán, der als intellektueller Kopf dieser Verfassung gilt, Diktator Pinochet und die Justizministerin Mónica Madariaga hielten sich mehrfach in der Colonia Dignidad auf. Ebenso Hernán Larraín, der die Siedlung als Senator der Region noch Mitte der 1990er Jahre verteidigte, als chilenische Jungen und ihre Familien Anzeigen gegen Paul Schäfer erstatteten, und der bis März 2022 Minister für Justiz und Menschenrechte war, die Aufarbeitung aber nicht voranbrachte.

Gegenstrategie?

Dabei waren es der Mut und die Beharrlichkeit dieser Kinder, ihrer Familien und Anwält:innen sowie einzelner engagierter Richter und Polizist:innen, die sich weder einschüchtern noch kaufen ließen, die die Colonia Dignidad in ihrer alten Form zu Fall brachten. Offiziell besuchten Kinder aus der Umgebung der Siedlung, die sich seit 1988 „Villa Baviera“ („Bayerisches Dorf“) nennt, dort Freizeitangebote, manche Jungen auch ein „Intensiv-Internat“. Wirklichen Unterricht erhielten sie nicht, doch sie wurden in der Siedlung festgehalten, von Schäfer systematisch missbraucht und vergewaltigt. Einem 12-Jährigen gelang es, einen Zettel mit einer Nachricht an seine Familie aus der Siedlung herauszuschleusen. Seine Mutter konnte ihn unter einem Vorwand für ein paar Tage aus der Villa Baviera herausholen. Da sie wusste, dass die Polizei in der Umgebung mit der Siedlung kooperierte, erstattete sie Anzeige bei einer als unbestechlich geltenden Polizeieinheit in der Hauptstadt Santiago. Nach den ersten polizeilichen Durchsuchungen der Villa Baviera floh Sektenchef Schäfer 1997 nach Argentinien, wo er bis zu seiner Verhaftung 2005 in einem Versteck lebte.

Bis in die 2000er Jahre hinein setzte die Führung der Villa Baviera in Schäfers Abwesenheit das Regime von Zwangsarbeit und Prügel in der abgeschotteten Siedlung fort. Seit Mitte der 2000er können Bewohner*innen die Siedlung verlassen, ein Drittel ging nach Deutschland, ein weiteres in andere chilenische Orte, etwa hundert Personen leben heute noch in der Villa Baviera. Bis 2013 finanzierte die Bundesregierung Ausbildungskurse und wirtschaftliche Beratung in der zu einer undurchsichtigen Holding geschlossener Aktiengesellschaften umstrukturierten Siedlung. Bis heute kontrollieren wenige Bewohner:innen Immobilien-, Landwirtschafts- und Tourismusunternehmen, viele leben am Existenzminimum. Bisher zahlt die ­Villa Baviera rechtskräftig fällige Entschädigungen an die chilenischen Missbrauchs­opfer nicht, sondern versucht seit 2013, diese juristisch abzuwenden.

Straflosigkeit und politische Gleichgültigkeit

Straflosigkeit ist ein entscheidender Faktor für das lange Fortbestehen der Colonia Dignidad. In Chile wurden 2013 zumindest einige Personen wegen Beihilfe zu Missbrauch und Vergewaltigung zu Haftstrafen verurteilt, 2016 weitere wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung. In Deutschland ist es jedoch nie zu einer Anklage oder einem Prozess gekommen. Mehr als zehn strafrechtliche Ermittlungsverfahren wurden seit den 1960er Jahren in Nordrhein-Westfalen eingestellt, meist hieß es, es liege „kein hinreichender Tatverdacht“ vor.

Die deutsche Justiz habe vor den Verbrechen der Colonia Dignidad versagt und „nicht begriffen, in welcher Dimension diese stattgefunden haben“, kritisiert Opferanwältin Petra Schlagenhauf. Sie habe nie die Bereitschaft gesehen, ausreichend tief, aufwändig und aus eigener Initiative zu recherchieren und zu ermitteln. Andreas Schüller, Leiter des Programmbereichs Völkerstraftaten und rechtliche Verantwortung beim European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), fordert ein „Strukturermittlungsverfahren in Deutschland, um den Gesamtkomplex der Colonia Dignidad als solchen zu ermitteln“, denn es gehe nicht nur um die Ermittlungen einzelner Fälle. Inzwischen leben mehrere Führungspersonen der Colonia Dignidad in Deutschland, das für sie zu einem „sicheren Hafen“ vor der chilenischen Justiz geworden ist, da sie als deutsche Staatsangehörige nicht nach Chile ausgeliefert werden. Zentrale Bedeutung kommt dem Fall des früheren Krankenhausleiters mit besten Kontakten zu Junta und DINA, Hartmut Hopp, zu.

Auf juristischer und politischer Ebene schieben sich deutsche und chilenische Institutionen zum Teil bis heute gegenseitig die Verantwortung zu, statt selbst konsequent zu ermitteln oder zu agieren. Wo beide Staaten verpflichtet waren, Menschenrechtsverletzungen in der Colonia Dignidad zu beenden und die dort lebenden Menschen zu schützen, herrschten Gleichgültigkeit und Ignoranz vor. Nachdem es jahrelang kaum Ansätze zur Aufarbeitung gab, begann 2016 mit einer selbstkritischen Rede Frank Walter Steinmeiers, damals als Außenminister, ein vorsichtiger Aufarbeitungsprozess von offizieller Seite. Seitdem arbeiten Bundestagsabgeordnete fraktionsübergreifend zusammen und fassten 2017 einen Beschluss zur Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad. In dessen Folge wurde zumindest ein Oral History Archiv mit Interviews von Betroffenen und Zeitzeug:innen aufgebaut und über einen Hilfsfonds werden Unterstützungsleistungen von bis zu 10.000 Euro ohne Rechtsanspruch an Opfer der Colonia Dignidad gezahlt.

Die im Bundestagsbeschluss von 2017 geforderte Klärung der Besitzverhältnisse in der heutigen Villa Baviera, auch mit dem Ziel, dass Mittel aus dem Vermögen konkret den Opfern zugutekommen, und die Errichtung eines Gedenk-, Dokumentations- und Lernortes am historischen Ort sind ­allerdings bis heute nicht umgesetzt.

  • 1 a b vgl. Ulla Fröhling 'Unser geraubtes Leben'