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Australiens Politik gegenüber den indigenen Gemeinden

Felix Heese
Einleitung

Die Kolonialisierung Australiens wurde lange mit dem Konzept „Terra Nullius“, Niemandsland, legitimiert. Demnach seien die ersten weißen Siedler in Australien auf eine unkultivierte Wüste gestoßen, deren Ur­ein­wohner „unzivilisiert“, ihre Gesellschaft „primitiv“ war. Erst 1992 wurde diese Doktrin vom Obersten Gericht Australiens aufgehoben. Einigen indigenen Gemeinden wurden Landrechte zugesprochen und weitgehende Selbstverwaltung gestattet. Eine echte Abkehr vom Bild indigener Australier als „primitive Wilde“ scheint dennoch bis heute nicht vollzogen.

 

Foto: Flickr.com — Takver CC-BY-SA-2.0

Agendasetting

Seit Jahrzehnten wurde über das Fehlen von Millionen Dollar für die Gesundheitsversorgung und über Gewalt und Probleme in indigenen Gemeinden berichtet, doch alle Appelle wurden sowohl von den Medien als auch der Politik ignoriert. Bis zum Jahr 2006, als der amtierende Minister für indigene Angelegenheiten, Mal Brough (Liberale), öffentlich von einem Pädophilenring im Norden Australiens sprach. Nach Kritik an seiner unfundierten Anschuldigung berichtete der staatliche Sender ABC in seiner Sendung "Lateline" extensiv über Missstände in indigenen Gemeinden. Ein aufsehenerregendes Interview stellte den Höhepunkt der Berichterstattung dar: Ein anonymisierter ehemaliger Sozialarbeiter berichtete unter Tränen von Gewalt gegen Frauen und von indigenen Pädophilenringen, die systematisch Kinder missbrauchten und als Sexsklaven hielten — und bestätigte somit Broughs Anschuldigung. Nahezu alle Medien Australiens berichteten nun über Kindesmissbrauch in indigenen Gemeinden.

Little Children Are Sacred

Durch den plötzlichen Medienrummel wurde die Bundesregierung unter Druck gesetzt. Daraufhin gab die Regierung des Northern Territory (NT) eine Untersuchung des Ausmaßes von sexuellem Kindesmissbrauch in Auftrag. Der Bericht „Little Children are Sacred“ wurde ein Jahr später veröffentlicht und beschreibt — wie schon viele Berichte zuvor — Kindesmissbrauch, Vernachlässigung und unerträgliche Lebensbedingungen in indigenen Gemeinschaften im Norden Australiens. Im Bericht werden nicht nur Ursachen benannt — wie die katastrophale Grundversorgung, bittere Armut und das Fehlen von Mitteln für Gesundheitsversorgung, Bildung und Sozialarbeit — sondern auch 97 Empfehlungen gegeben, wie Kindesmissbrauch in den Gemeinden bekämpft werden kann.

Die erste Empfehlung des Berichts lautet, indigene Menschen (also die Betroffenen) zu beteiligen und sie in alle Entscheidungen einzubeziehen. Auch sollten die Lebensbedingungen verbessert werden, da Armut, überfüllter Wohnraum und Drogenkonsum oft zu häuslicher Gewalt führt.

Intervention

Hatten Politik und Medien auf ähnliche Berichte in der Vergangenheit gar nicht bis sehr zurückhaltend reagiert, so war das Tempo, mit dem die liberale Howard-Regierung nun vorging, sehr erstaunlich. Nur zwei Monate nach der Veröffentlichung von „Little Children are Sacred“ und zwei Monate vor der Parlamentswahl, wurde ein Notfallgesetz von 500 Seiten verabschiedet: die Northern Territory Emergency Response (Intervention). Seit über 20 Jahren hatten sich Organisationen und Behörden für zusätzliche Mittel für indigene Gemeinden ausgesprochen und nun wurde sozusagen über Nacht ein Multi-Millionen-Dollar-Programm verabschiedet. Obwohl sich die Regierung auf „Little Children are Sacred“ berief, handelte sie entgegen aller Empfehlungen des Berichts, entschied über die Köpfe der Betroffenen hinweg und zeigte symbolisch Härte.

Die Armee und zusätzliche Polizei wurden zur „Stabilisierung“ in 73 indigene Gemeinden im Norden entsandt. Alkohol, Pornographie und Glücksspiel wurden verboten, dementsprechende Verbotsschilder aufgestellt. Um der Regierung unbegrenzten Zugang zu indigenem Land zu gewähren, wurden 65 „townships“, welche zuvor selbstverwaltet waren, zwangsverstaatlicht und sogenannten „General Business Managern“ unterstellt. Marktbasierte Mieten und Mietverträge wurden eingeführt und die Gemeinden für die „echte Wirtschaft“  geöffnet. Die Hälfte der Sozial­hilfezahlungen wurden unter „Quarantäne“ gestellt, um den Kauf von Tabak, Alkohol und Pornographie zu kontrollieren.

Öffentlich kommuniziertes Ziel der Intervention war es, Kinder zu schützen, Gewalt und Drogenmissbrauch einzudämmen und die Überbelegung indigenen Wohnraums zu senken. Damit die auf indigene Gemeinden zugeschnittenen Maßnahmen umgesetzt werden konnten, setzte die Howard Regierung den „Racial Discrimination Act“ außer Kraft, welcher die Diskriminierung von Minderheiten verbot. Dieser Schritt wurde von zahllosen Organisationen und von einem UN-Sonderberichterstatter als rassistisch diskriminierend verurteilt, passt aber zum Gebaren der Howard-Regierung, welche auch die UN-Deklaration über die Rechte indigener Völker ablehnte.

Stronger Futures

Nach der Wahl 2007 übernahm Kevin Rudd (Labor) die Regierung und führte die Intervention fort. Eigentlich bis 2012 begrenzt, verlängerte die folgende Premierministerin Julia Gillard (Labor) die Intervention bis 2022 und benannte sie um in „Stronger Futures“. Zu den maßgeblichen Änderungen zählen die Ausweitung des Einkommensmanagements mit der Einführung einer „Basics Card“, welche die sogenannte „Quarantäne“, die Rückhaltung eines Teils  der Sozialhilfe, auf 70 Prozent anhob sowie höhere Strafen für Alkohol- und Pornografiebesitz vorsieht — bis zu sechs Monate Haft für eine Dose Bier.

2014 kürzte Premier Tony Abott (Liberale) das Budget für frühkindliche Erziehung sowie den Gesundheitsdienst und fasste 150 indigene Programme zu fünf Kernprogrammen zusammen. 2015 wurde „Stronger Futures“ erneut angepasst. Der Fokus wurde nun auf Schule, Sicherheit und Arbeit gelegt, gleichzeitig wurden die Ausgaben für Gesundheitsmaßnahmen halbiert.

Zum Wohle der Kinder?

Die Intervention sollte Kinder schützen, Gewalt und Drogenmissbrauch einschränken sowie neuen Wohnraum schaffen. Entgegen dieser Ziele hat die australische Regierung seit der Intervention die Ausgaben für Alkohol- und Suchtkrankheiten von 8 Millionen auf 2,6 Millionen pro Jahr gesenkt. Seit der Intervention hat sich die Zahl der Selbstmorde und Selbstverletzungen in indigenen Gemeinden mehr als vervierfacht. Die Anwesenheit im Unterricht hat abgenommen und die Unterernährung (also Vernachlässigung) von Kindern hat zugenommen. Mit 700 Millionen Dollar sollte die Überbelegung in indigenen Häusern von 9,4 auf 9,3 Prozent gesenkt werden — in den ersten zwei Jahren der Intervention sind trotz Ausgaben in Höhe von 200 Millio­nen Dollar lediglich zwei Häuser gebaut worden.

Lügen, falsche Legitimation & tatsächliche Ziele

Das ABC-Interview mit dem Sozialarbeiter, welches der Startschuss für die Intervention war, löste eine intensive, 18-monatige Polizeiuntersuchung aus. Das Ergebnis der Untersuchung ist ebenso erschreckend wie bezeichnend für den Umgang Australiens mit der indigenen Bevölkerung. Der Untersuchungsbericht zeigte, dass es keinen Pädophilenring in Zentralaustralien gab. Darüber hinaus wurde nun öffentlich, dass der vermeintliche Sozialarbeiter ein enger Berater Mal Broughs war, der nie einen Fuß in die besagte Gemeinschaft gesetzt hatte. Sowohl Broughs als auch sein Berater hatten also gelogen.

Die maßgebliche Rechtfertigung für die beispiellos schnelle Verabschiedung der Intervention war ein nationaler Notstand — also ein immenses Ausmaß an Missbrauch von Kindern. Die tatsächlichen Zahlen zeichnen ein anderes Bild: Zwischen 2006 und 2010 wurden insgesamt 33 Menschen in den von der Intervention betroffenen Gemeinschaften für Kindesmissbrauch verurteilt. Wie „Little Children are Sacred“ und viele andere Berichte zuvor aufzeigten, ist nicht der Missbrauch, sondern die Vernachlässigung von Kindern das Hauptproblem in indigenen Gemeinden — ausgelöst nicht zuletzt durch die chronische Unterfinanzierung über Jahrzehnte.

Management-Paternalismus

Der Zeitpunkt der Intervention kurz vor der Wahl 2007 und die absolute Missachtung aller Empfehlungen von „Little Children are Sacred“ zeigen, dass die tatsächliche Agenda nicht der Schutz von Kindern war. Vielmehr wurde in einem einzigartigen PR-Gag Millionen für indigene Gemeinden versprochen, die seit Jahrzehnten in der Gesundheitsversorgung fehlten. Das Geld war allerdings an weitreichende Änderungen indigener Landrechte, Selbstverwaltung und die Öffnung der Gemeinden für den „freien Markt“ gekoppelt.

Ultimatives Ziel der Intervention ist somit, die Kultur der indigenen Australier zu ändern, sie in den australischen Mainstream zu ziehen und sie zu assimilieren. Dieser Management-Paternalismus zeigt, dass indigene Australier immer noch als „primitive Wilde“ gelten, die ihr Leben nicht unter Kontrolle hätten. Dies zeigt sich auch in der Weigerung weiter Teile der australischen Gesellschaft, die rassistische Politik anzuklagen und die Probleme in indigenen Gemeinschaften gemeinsam mit den Betroffenen anzugehen.