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8./9.Mai: Zwei Tage zwischen allen Stühlen – Gedenken gegen den Krieg?

Artur Nähring Mitorganisator der antifaschistischen Kundgebungen der VVN -BdA am 8. und 9. Mai
Einleitung

Gegen die offizielle deutsche Gedenkpolitik machen wir die Erinnerungen der Opfer aber eben auch der Bezwinger*innen des deutschen Faschismus stark. (Aus der Broschüre der VVN-BdA zum 9. Mai 2020)

Am 8. Mai 2022, dem Jahrestag der Befreiung vom deutschen Faschismus und am 9. Mai, dem Tag des Sieges über den Faschismus, verbrachten Aktivist*innen der Berliner VVN-BdA und befreundete antifaschistische Gruppen zwei aufregende und gleichzeitig bedrückende Tage auf zwei Kundgebungen am sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow. Beide Tage waren Anlass für zahlreiche Interventionen, und wurden von einem riesigen Polizeiaufgebot begleitet, das Auseinandersetzungen zwischen den „Kriegsparteien“ und ihren jeweiligen „Alliierten“ verhindern oder wenigstens per Flaggenverbot für russische, ukrainische und sowjetische(!) Flaggen entschärfen sollte.

In den vergangenen Jahren hatten wir nationalistische Symbole von unserem alljährlichen Fest zum „Tag des Sieges“ am 9. Mai verbannt, und dabei Sowjetfähnchen zum Tausch angeboten. Unsere Kundgebung am 9. Mai wurde durch die Polizei für eine volle Stunde mit der Begründung unterbrochen, die offizielle Gedenkveranstaltung der russischen Botschaft sollte nicht „gestört“ werden. Zurück bleiben Fragen und das Gefühl, der politischen Situation im Moment nicht wirklich gewachsen zu sein, aber die Gewissheit, dennoch zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen zu sein.

„Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!“

„The last good war“, wie er von US-Veteran*innen oft genannt wurde, endete in Europa mit der militärischen Zerschlagung des deutschen Faschismus und der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945. Überlebende, die VVN-BdA und viele weitere Antifaschist*innen entwickelten daraufhin die Parole „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!“. Der 8. Mai ist für uns der Tag der Befreiung als ein Gedenk- und Feiertag. Für die bundesrepublikanische Gesellschaft war dies jedoch nie eine Selbstverständlichkeit. Doch vor allem in diesem Jahr stellte uns das Gedenken vor besondere Herausforderungen.

Vorab: Am 24. Februar 2022 hatte die russische Regierung unter Putin verkündet, ihr Eroberungs- und Angriffskrieg auf die Ukraine und die dort lebenden Menschen, der bis dato andauert, diene der „Denazifizierung“. Ehemalige Häftlinge der deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager veröffentlichen daraufhin am 28. Februar 2022 einen Appell, der vieles von dem ausdrückte, was auch uns beschäftigte. Im Appell hieß es unter anderem:

Unter den sowjetischen Überlebenden der Nazilager, die im Frühjahr 1945 die Orte verließen, an denen sie jahrelang dem Tod ins Auge gesehen hatten, waren oft Russ*innen und Ukrainer*innen am zahlreichsten. Sie teilten mit allen die Hoffnung, Zeugen und Akteure einer neuen, befreiten und friedlichen Welt zu werden. Russ*innen und Ukrainer*innen waren von den Nazis als dieselbe Kategorie von Häftlingen registriert worden, sie waren denselben Entbehrungen, Demütigungen und lebensbedrohlichen Situationen ausgesetzt gewesen. Sie konnten sich nur auf die Solidarität unter den Deportierten verlassen, um zu überleben. Alle hatten als Bürger*innen der Sowjetunion ihren Teil am gemeinsamen Kampf gegen den Nazi- Aggressor beigetragen. (...) Als Träger des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus verurteilen die Unterzeichner*innen dieses Aufrufs die Verwendung der Worte Entnazifizierung und Völkermord zur Rechtfertigung des Angriffs auf die Ukraine: „Wir sind legitimiert, das Gewicht der Tragödie, die diese Worte bedecken, geltend zu machen. Wir können nicht akzeptieren, dass diese Worte so missbraucht werden. (...) Wir verurteilen den gegen die Ukraine geführten Krieg, der die Existenz des Landes und den Frieden in Europa gefährdet. (...) Wir sind davon überzeugt, dass jeder politische Konflikt am Verhandlungstisch gelöst werden kann, wenn beide Seiten Vernunft und Menschlichkeit an den Tag legen. Beenden Sie diesen Krieg sofort!1

„Kampf“ der Erinnerungen und Ausle­gungen

Die Tatsache, dass Überlebende des deutschen Vernichtungskrieges und des Holocaust heute der Todesgefahr durch Russlands Krieg ausgesetzt sind und das Entsetzen, dass die Enkel der Opfer des deutschen Faschismus und unserer Befreier*innen in Russland und der Ukraine in einem grausamen Krieg aufeinander schießen, veränderte unser diesjähriges Gedenken und bestimmte dessen Ort an der Skulptur „Mutter Heimat“ im sowjetischen Ehrenmal.

Die traditionelle Kundgebung zum 8. Mai – Befreiung was sonst! - fand in diesem Jahr ohne offizielle Gäste aus deutscher, russischer, belarussischer Politik (ukrainische Vertreter*innen nehmen seit 2014 nicht mehr teil) als eher stille Gedenkkundgebung ohne Reden und Musik statt, um eskalierende Situationen zu vermeiden und ein ruhiges Gedenken zu ermöglichen. Schließlich steht bei vielen Mitgliedern der VVN-BdA die Erinnerung an ihre verlorenen Angehörigen verbunden mit der Dankbarkeit für die Befreiung durch die Rote Armee und die Alliierten an jenem Tag im Vordergrund.

Auf der Kundgebung wurden hunderte rote Nelken mit einem kleinen „Нет войне – Nein zum Krieg“–Fähnchen verteilt. Auch auf unserem Transparent machten wir mit den Worten Nein zum Krieg! in den Sprachen Russisch, Ukrainisch, Polnisch, Englisch, Französisch und Deutsch unser Anliegen deutlich.

Auf der Kundgebung am 9. Mai verzichteten wir in diesem Jahr bewusst auf die Parole „Wer nicht feiert, hat verloren!, mit der wir in den Jahren zuvor zu unserem Fest zum „Tag des Sieges“ eingeladen hatten. (vgl. AIB Nr. 108/ 3.2015) Stattdessen riefen wir zu einer Antikriegskundgebung auf. Mit den Transparenten „Nein zum Krieg!“, „Solidarität statt Nationalismus“, „Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus!“, dem Schwur von Buchenwald und tausend Nelken markierten wir unsere Position zum Krieg. Aus einem spontanen Bündnis aus Redebeiträgen und Positionierungen linker Gruppen und Einzelpersonen mit postsowjetischen und einhellig Ukraine solidarischem Hintergrund entwickelte sich eine über den Tag verteilte öffentliche Diskussionsveranstaltung und damit eine politische und inhaltliche Zerreißprobe. Das Ehrenmal wurde zum Austragungsort eines „Kampfes“ der Erinnerungen, sich widersprechenden Geschichtsinterpretationen und Auslegungen des aktuellen Krieges - innerhalb unseres Bündnisses, den anwesenden politischen Initiativen und unter den tausenden Besucher*innen des Ehrenmals.

Politische und inhaltliche Zerreißprobe

Den härtesten Job auf unserer Kundgebung hatten sicherlich unsere russische Übersetzerin und andere russischsprechende Redner*innen. Denn sie wurden von Personen, welche die Position der russischen Regierung teilten, der Krieg gegen die Ukraine sei eine militärische Spezialoperation zur Denazifizierung, als Vaterlandsverräter*innen beschimpft. Auch gab es Anfeindungen gegen uns, wir selbst seien oder würden Faschist*innen unterstützen. Dagegen wirkte der Vorwurf aus den Reihen der Sowjetunion-Russland- Verwechsler*innen, wir seien Ex-Antifaschist*innen, weil wir der Behauptung, Russland müsse sich lediglich verteidigen, nicht folgen wollten, beinahe milde. Kritik kam aber auch aus den eigenen Reihen unseres Bündnisses, also von den Gruppen und Personen, mit denen wir unsere Kundgebung teilten und von jenen, die gerade am 9. Mai den Tag des Sieges als vornehmlich russischen nationalistischen staatlichen Feiertag im Kontext des Krieges gegenüber den Besucher*innen des Ehrenmals und der Öffentlichkeit markieren wollten (und eben nicht den sowjetischen, den wir als Tag der Befreier*innen und ihrer Nachfahren die letzten Jahre begingen). Das von ihnen ausgegebene Motto „Gedenken gegen den Krieg“ klang verbindend, war durchweg aber mit der Forderung nach Waffenlieferungen an die Ukraine verbunden. Für uns ein No-Go, trennte es doch die Forderungen unserer Parole „Nie wieder Faschismus“ von „Nie wieder Krieg“.

Dies fand auch Ausdruck in den in ationären Deutungen von „Faschismus“. Gegen „Putinismus“ und „Russischen Faschismus“ und Russismus auf der einen Seite, gegen den „ukrainischen Faschismus“ auf der anderen – so viel Umdeutung war nie. Neu für uns war auch, als „deutsche Linke“ in Kriegszeiten unter die offizielle deutsche (Erinnerungs-)Politik und Mitte der Gesellschaft subsumiert zu werden, die sich weigere, die Schicksale und Perspektiven der Menschen aus dem postsowjetischen Raum und jener von dort, die heute hier leben, einzunehmen – und deshalb in unsolidarischer Weise Waffenlieferungen ablehnen würden.

Das sind nur einige Beispiele der unzähligen Auseinandersetzungen, Diskussionen, Vorwürfe und Missverständnisse, die wir am diesjährigen 8. und 9. Mai erlebten. Das Gedenken, das noch in den vergangenen Jahren mit tausenden Besucher*innen immer sehr divers und ambivalent, aber gefühlt und gedacht ein gemeinsames war - es ist keines mehr. Wir müssen reden.

Wir danken den Befreier*innen. Спасибо, Спасибі, thank you, merci!