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»So wenig wie möglich und soviel wie nötig«

Einleitung

Gespräch mit Dr. Marc von Miquel über die Ahndung von NS-Verbrechen durch die bundesdeutsche Justiz

Bild: Bundesarchiv Bild 101I-166-0527-04/CC BY-SA 3.0

Erschießung von Zivilisten in Kondomari auf Kreta 1941.

In Ihrem Buch, »Ahnden oder amnestieren? Westdeutsche Justiz und Vergangenheitsbewältigung in den sechziger Jahren« vertreten Sie die These, die juristische Auseinandersetzung mit den Verbrechen des NS-Regimes habe während der 1950er und 1960er Jahre »im Schatten der Volksgemeinschaft« gestanden. Wie und in welchen Erscheinungsformen zeigte sich die fortwährende Präsenz volksgemeinschaftlicher Denk- und Verhaltensmuster?

Wenn von der NS-»Volksgemeinschaft« und ihrer spezifischen »Moral« die Rede ist, dann ist damit ein Spektrum von Erfahrungen und Einstellungen gemeint, das vom Führerkult über den Glauben an den »Endsieg« bis zur Teilnahme an den Verbrechen reichte. Im Vordergrund stand die Aufteilung der Welt in extreme Freund-Feind-Oppositionen und der Eindruck, im Ausnahmezustand der Diktatur könne man mit den Werten der bürgerlichen Gesellschaft ohne Folgen brechen. An dieser Auffassung, dass selbst für die Massenverbrechen im »Dritten Reich« niemand zur Verantwortung zu ziehen sei, hielten viele fest – vor allem die achtzig Prozent der westdeutschen Richter und Staatsanwälte, die schon unter Hitler im Justizdienst gewesen waren.

Wenn man deren Urteile zu ihresgleichen, nämlich zu angeklagten Juristen und Verwaltungsbeamten liest, dann trifft man auf Rechtfertigungen und Formen von Standessolidarität, gerade wenn es um den Justizterror ging. Dabei entsprach die Politik der Straffreiheit für NS-Täter in den fünfziger Jahren einer über die Justiz weit hinausreichenden Grundstimmung, ja geradezu einem Reflex. Während sich die Deutschen sonst an die Werte von Demokratie und gesellschaftlicher Solidarität gewöhnten, setzte dies bei der Frage der Strafverfolgung von NS-Tätern aus. Erst mit den großen NS-Prozessen wie dem Auschwitz-Prozess fand eine Umorientierung statt. Zumindest die jüngeren Generationen interessierten sich nun für die genauen Umstände der Verbrechen und für die Erfahrungen der Opfer.

Umgekehrt ist zu fragen: Inwiefern wirkte die juristische »Vergangenheitsbewältigung« auf die gesellschaftlichen Deutungen der NS-Verbrechen in der Bundesrepublik zurück?

Kernstück der westdeutschen Rechtsprechung zu den NS-Verbrechen ist die Konstruktion, dass die Haupttäter Hitler, Himmler und weitere Spitzen des Regimes waren, während die übrigen als Gehilfen eingestuft wurden. Eine solche Bewertung widersprach zwar der Erkenntnis aus den Gerichtsverhandlungen, dass die Angeklagten eigenständig Entscheidungen gefällt hatten. Die Rede von Mitläufern und Gehilfen enthielt aber ein Entlastungsangebot, das eigentlich allen galt, die das »Dritte Reich« gestützt und sich an den Verfolgungsmaßnahmen beteiligt hatten. Und nicht zuletzt konnten die Richter mit der Konstruktion einer Beihilfe statt lebenslänglich niedrige Strafen bis zu drei Jahren verhängen. Wer nicht vor Gericht gestellt wurde – und dies war die Mehrzahl der an den Verbrechen beteiligten NS-Eliten wie Richter, Ärzte, Unternehmer und Beamte – konnte seine Täterschaft unter der damals populären Formel des politischen Irrtums verbuchen.

Welchen Einfluss auf die vergangenheitspolitischen Diskurse in der Bundesrepublik hatten die von der DDR initiierten Kampagnen seit Mitte der 1950er Jahre, in denen die NS-Vergangenheit zahlreicher Vertreter der bundesdeutschen Justiz offen gelegt wurden?

Anfangs war es geradezu eine Auszeichnung, wenn man von der »Zone« angegriffen wurde, denn schließlich war die heiße Phase des Kalten Krieges und viele der sonstigen Phrasen aus der DDR waren blanke Propaganda. Bei der NS-Justiz und ihrer Verbrechen sah dies anders aus. Hier erhob die DDR in Tausenden von Fällen nicht nur Beschuldigungen, sie legte auch Beweise vor. Die Tatsache, dass nur wenige der schwer belasteten Richter zurücktraten und keiner angeklagt wurde, hat das Ansehen der Justiz in der deutschen Gesellschaft jedoch auf Dauer schwer beschädigt.

Hatten die sich (nicht nur) im Bereich der Justiz vollziehenden generationellen Umbrüche seit Mitte der 1960er Jahre Auswirkungen auf die juristische Ahndung von NS-Verbrechen? Zeigten jüngere Generationen von Richtern und Staatsanwälten stärkeres Engagement bei der Strafverfolgung von NS-Tätern?

Ja, es ist tatsächlich eine veränderte Einstellung bei jüngeren Juristengenerationen zu erkennen. Ein eindrucksvolles Beispiel sind die Staatsanwälte bei der Zentralen Stelle in Ludwigsburg, der Institution also, die seit Ende der fünfziger Jahre die meisten Täter ermittelte. Als Mitte der sechziger Jahre die Aufgaben und Kompetenzen der Zentralen Stelle erheblich erweitert wurden, waren es gerade die dort eingesetzten jungen Juristen, die den festen Vorsatz hatten, alle Verantwortlichen an den Massenverbrechen dingfest zu machen. Dieses Projekt wurde dann aber radikal abgebrochen durch den Bundesgerichtshof und seine belasteten Richter. Ihr Mittel war eine Amnestieregelung, die nicht die Mörder vor Ort, aber deren Vorgesetzte schützte.

In den vergangenen Jahren haben sich die Richter am Bundesgerichtshof klar distanziert von der Rechtsprechung ihrer Vorgänger in den fünfziger und sechziger Jahren. Gerade der Freispruch für die NS-Justiz wurde angeprangert. Den Worten ließ man aber keine Taten folgen. Ein bedrückendes Beispiel ist ein Urteil von 1995, in dem der Wehrmachtsjustiz, immerhin verantwortlich für etwa 50.000 Todesurteile, die Bindung an rechtsstaatliche Normen unterstellt wurde, um einen Angeklagten freizusprechen.

Seit Anfang der 1990er Jahre hat es eine Reihe spektakulärer Prozesse gegen hochbetagte NS-Täter gegeben. Einige von ihnen, wie etwa die (mittlerweile verstorbenen) ehemaligen SS-Offiziere Julius Viel oder Anton Malloth wurden zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt. Andere, wie Friedrich Engel, der im Mai 1944 als SD-Chef von Genua die Erschießung von 59 italienischen Kriegsgefangenen befohlen hatte, wurden zwar ebenfalls verurteilt, vom BGH aber wieder auf freien Fuß gesetzt. Staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren wegen Mordaktionen der Waffen-SS in Italien oder Massakern der Wehrmacht in Griechenland scheinen nur sehr schleppend voran zu kommen.

Wie bewerten Sie die Strafverfolgungspraxis der deutschen Justizbehörden seit der Wiedervereinigung?

Das Muster dieser Rechtspraxis hat sich eigentlich kaum verändert im Vergleich zu den zögerlichen Tätigkeiten der Justiz seit Ende der sechziger Jahre: so wenig wie möglich und so viel wie nötig, um das Ansehen der Justiz und das Ansehen der Bundesrepublik im Ausland nicht gravierend zu beschädigen.

Vielen Dank für das Gespräch!      

Dr. Marc von Miquel ist Historiker und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geschichtsort Villa ten Hompel in Münster. Er ist Autor des Buches »Ahnden oder amnestieren? Westdeutsche Justiz und Vergangenheitspolitik in den sechziger Jahren«, Wallstein Verlag, Göttingen 2004.