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»Schutzmächte« und »Vertreiberstaaten«

Einleitung

Völkische Autonomiebestrebungen in Europa

Stjepan Mesic reagierte außergewöhnlich scharf. »Istrien, das Küstenland,  Dalmatien und die Inseln sind unveräußerlicher Bestandteil der Republik  Kroatien«, ließ der Präsident des Landes unmissverständlich verlauten. Wer den Status Quo der europäischen Grenzen in Frage stelle, beiße auf Granit: Schon »der kleinste Hinweis auf Revanchismus oder eine Revision der gutbekannten historischen Wahrheiten« werde »in Kroatien auf entschiedenste Ablehnung stoßen«. Verhandlungsspielräume, das signalisierte Mesic klar und deutlich, gebe es nicht.

Heftige Reaktionen auf höchster diplomatischer Ebene – was war geschehen? Die beiden Kammern des italienischen Parlaments hatten einstimmig eine Novellierung des italienischen Staatsbürgerschaftsrechts gebilligt. Die Novellierung hat vor allem für Kroatien einschneidende Folgen. Das hat damit zu tun, dass Italien im Pariser Friedensvertrag von 1947 Teile seines früheren Staatsgebiets an das damalige Jugoslawien abtrat – ähnlich wie Deutschland mit dem Potsdamer Abkommen seine ehemaligen Ostgebiete. Wie die deutschsprachige Bevölkerung Polens, der Tschechoslowakei und anderer Staaten wurde auch die italienischsprachige Bevölkerung Jugoslawiens umgesiedelt. Seitdem gibt es in Italien die Organisationen der so genannten »Esuli« (»Exilierte«), die den deutschen »Vertriebenen«-Verbänden entsprechen.

Allerdings wurde – ganz wie im Falle der Deutschen in Osteuropa – auch die Umsiedlung der italienischsprachigen Bevölkerung Jugoslawiens nicht vollständig durchgeführt. Italienischsprachige Bevölkerungsteile gibt es in Slowenien und vor allem in Kroatien bis heute. Ihnen gilt die Novellierung des italienischen Staatsbürgerschaftsrechts. Wenn sie nachweisen können, dass bereits ihre Vorfahren in den an Jugoslawien abgetretenen Gebieten gewohnt hatten, dann erhalten sie jetzt ohne Weiteres den italienischen Pass. Diese Praxis kennt man ebenfalls von den Deutschen: Polinnen und Polen etwa bekommen deutsche Papiere, wenn sie glaubhaft machen können, dass sie von Bürgerinnen und Bürgern des Deutschen Reichs abstammen. Diese Regelung unterwirft Bevölkerungsteile der osteuropäischen Staaten deutscher Passhoheit und erleichtert deutsche Einflussnahme in den 1945 abgetretenen Gebieten. Das völkisch-deutsche Modell wird jetzt von Italien nachgeahmt.

Druck auf Kroatien

Die scharfen Proteste in Kroatien reflektieren die Furcht vor italienischem Revanchismus – und die ist durchaus begründet. Das zeigt neben der Novellierung des Staatsbürgerschaftsrechts am deutlichsten das Beispiel der »Esuli«. Ihre Verbände wollen die Umsiedlung zum Unrecht erklären lassen und verlangen außerdem Entschädigung dafür. Anfang Februar haben Verbandsfunktionäre der »Esuli« ihre Forderungen bei einer Veranstaltung im italienischen Kulturinstitut in Berlin bekräftigt: Die Nachfolgestaaten Jugoslawiens müssten »Schuldeingeständnisse und materielle Wiedergutmachung« leisten, hieß es dort.

Die Verbände der »Esuli« beziehen sich dabei auch auf ein österreichisch-kroatisches Entschädigungsabkommen, das bereits unterschriftsreif war und erst in letzter Minute Anfang dieses Jahres vom kroatischen Parlament gestoppt worden ist. Es sah vor, dass aus Jugoslawien umgesiedelte »Donauschwaben« Entschädigungen erhalten, sofern sie heute Bürgerinnen und Bürger Österreichs sind. Das Abkommen hätte nicht nur zur Restitution alter habsburgischer Adelsfamilien in Südosteuropa führen, sondern auch Entschädigungsansprüche deutscher Umgesiedelter begründen können. Die rot-grüne Bundesregierung jedenfalls hatte im vergangenen Sommer gegenüber der kroatischen Regierung ihr Interesse an den Verhandlungen zwischen Wien und Zagreb bestätigt.

Auch die italienischen Umgesiedelten wollen seit geraumer Zeit ein vergleichbares Abkommen erzwingen. Sie kooperieren mit dem Bund der Vertriebenen, dessen Bündnisorganisation »Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen« in ihrem für den Sommer geplanten Berliner Ausstellungsprojekt die Umsiedlung der italienischsprachigen Bevölkerung aus Jugoslawien eigens  thematisieren will. Der Druck, dem Kroatien ausgesetzt ist, ist enorm: Einflussreiche Verbände aus reichen westeuropäischen Staaten wenden sich mit Entschädigungsansprüchen gegen die Regierung in Zagreb, die den EU-Beitritt  anstrebt und sich daher in einer umso schwächeren Position befindet. Zudem können die westeuropäischen Revisionsverbände darauf verweisen, dass ihre Politik im Grundsatz auch von Kroatien selbst vertreten wird. Mit völkischen Argumentationen hatte sich die jugoslawische Teilrepublik 1991 zum eigenständigen Staat erklärt und damit selbst das Startsignal für die gesamteuropäische Grenzrevision gegeben. Auch Kroatien verleiht übrigens seine Staatsbürgerschaft an Bürgerinnen und Bürger eines anderen Landes – nämlich an die kroatischsprachigen Bevölkerungsteile Bosnien-Herzegowinas.

Völkisches Comeback

Droht Kroatien derzeit von seiner eigenen völkischen Politik eingeholt zu werden, so könnte das auch Italien passieren. Im Norden des Landes gibt es neue Unruhe. Dort hat die deutschsprachige Bevölkerung der Region Trentino/Alto Adige in den vergangenen Jahrzehnten weitreichende Autonomierechte durchgesetzt – Autonomierechte, die nicht sozial, sondern völkisch begründet wurden und auf Sonderrechte für Deutschsprachige abzielten. In den 1950er und 1960er Jahren kam es beim Versuch rechter Kräfte aus Deutschland und Österreich, die Südtirol-Autonomiebewegung zu radikalisieren, sogar zu Sprengstoffanschlägen, in die nach dem Urteil italienischer Gerichte unter anderem Burschenschafter verwickelt waren. Südtirol gilt heute als Musterbeispiel völkischer Autonomie.

Das reicht den Deutschsprachigen in Norditalien jedoch nicht. Österreich solle in seine Verfassung eine »Schutzmacht-Klausel« aufnehmen, fordert die Südtiroler Volkspartei (SVP), deren Einfluss unter den Deutschsprachigen in Norditalien wohl noch stärker ist als der Einfluss der CSU in Bayern. Die »Schutzmacht-Klausel« basiert auf der Annahme, es gebe ein »Selbstbestimmungsrecht (...) des vom Land Tirol abgetrennten Tiroler Volkes« (mit »Land Tirol« ist das gleichnamige österreichische Bundesland gemeint). Die Klausel soll festlegen, dass die deutschsprachige Bevölkerung Norditaliens dem »Schutz und (der) Förderung« durch Österreich unterliegt. Die revanchistischen Ansprüche, die darin enthalten sind, haben zu scharfen Protesten der italienischen Regierung geführt. Der Innenminister beurteilt die Klausel als »ernsthafte Bedrohung« Italiens und schließt »Initiativen zur Verteidigung der nationalen Einheit« nicht aus.

Das große Hauen und Stechen in der völkischen Disziplin hat begonnen: Österreich gegen Italien, Italien gegen Kroatien, Kroatien gegen Bosnien-Herzegowina und so weiter. Nützen kann das all denjenigen Staaten,  die im vergangenen Jahrhundert Gebiete abtreten mussten und jetzt Argumente bekommen, ihre Ansprüche auf diese Territorien systematisch auszuweiten. Der größte und einflussreichste dieser Staaten ist Deutschland. Und deswegen hat völkische Politik hier seit je Konjunktur.