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»Lebe deinen Albtraum« oder: Die subjektive Geschichte des Tibor Sturm, die objektiver nicht sein könnte.

Angela Kamara Brothers Keepers
Einleitung

Im Frühjahr 2008 wird Tibor Sturm, auch bekannt unter seinem Künstlernamen QuietStorm, zu sieben Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt. Im Kampf mit sechs Neonazis hatte er einen seiner Angreifer so unglücklich verletzt, dass dieser ins Koma fiel.

Es ist ein frostiger Wintermorgen, als Tibor Sturm am 30. Januar 2009 hinaus auf die Sebastianstraße tritt. In Ingolstadt weht ein unangenehmer Wind und Tibor beobachtet einen kurzen Moment lang, wie sein Atem zu kleinen Wölkchen kondensiert. Mit geschlossenen Augen holt er tief Luft, hält inne und genießt das wohlige Kribbeln, welches sich langsam in seinem Körper ausbreitet. Er will sie spüren, die neugewonnene Freiheit – diesen besonderen Augenblick festhalten, so lange es geht.

»Das kostbarste Gut eines Menschen ist die Zeit«, erklärt der 32-Jährige einige Wochen später im Gespräch. »Durch meine Zeit im Gefängnis habe ich ›wieder‹ gelernt, jeden Moment bewusst wahrzunehmen.« Dann schweigt er und ergänzt: »Sieben Monate Haft können eine verdammt lange Zeit sein. Vor allem, wenn man sich keiner wirklichen Schuld bewusst ist.«

Die Tat, aufgrund derer der fränkische Rapper verurteilt wurde, liegt rund vier Jahre zurück. An einem regnerischen Abend im Dezember 2005 ist er auf dem Nachhauseweg von einer Party in Nürnberg. Nahe der Steintribünen, an einem kleinen Pfad nicht weit ab dem Dutzendteich, pöbeln ihn sechs angetrunkene Männer an und brüsten sich mit rechten Parolen. Als der Satz »Haut den Nigger weg!« fällt, rennt Tibor instinktiv los, den schmalen spärlich beleuchteten Weg entlang, hinter sich den grölenden Mob. Schließlich bleibt er stehen, ringt nach Luft. Kurz darauf trifft ihn ein erster Fausthieb. Es folgt ein Gerangel und Tibor geht ein wenig abseits des Weges zu Boden. »Ich bin zur Seite getaumelt und fiel auf‘s Gras. Es war komplett dunkel«, erinnert er sich. »Ich hab’ um mich getastet und während des Aufrichtens was zu greifen bekommen. Dann hab ich mit dem ganzen Schwung vom Aufstehen durchgezogen.« Dass er dabei einen seiner Kontrahenten trifft, registriert er nicht. »Ich hab‘ eine Art Vibration gespürt, der Ast, ich dachte, es sei ein Ast, ist zerbrochen.« Der Kampf geht weiter bis in der Ferne Sirenen zu hören sind und Scheinwerferlicht die Szenerie beleuchtet.

Wenig später erfährt Tibor, dass der vermeintliche Ast ein Holzpfahl war und die verspürte Vibration nicht das Brechen eben jenes Pfahles sondern des Kopfes eines seiner Angreifer. Dieser liegt nun mit Schädelbruch und Kleinhirnquetschung im Wachkoma. Er wird zwar überleben, muss jedoch das Sprechen und das Laufen neu erlernen. Tibor wird von der Polizei verhört.

In den folgenden Monaten wähnt Tibor sich in einem schlechten Film: die Anklage, die Gerichtsverhandlung, das Urteil. »Ich wurde wegen ›exzessiver Selbstnotwehr‹ verurteilt«, erläutert der Vater zweier Kinder noch immer ungläubig. Zum Verhängnis wird ihm seine elfjährige Kampfsporterfahrung. Erschwerend hinzu kommen die »Nutzung eines Hilfsmittels« sowie seine Körperstatur von 1,96 Metern. Nach Meinung des Richters hätte er die Wirkung seiner Kräfte besser einschätzen müssen. Aber auch seine Missachtung des Gerichts wirkt sich nicht zum Vorteil aus. »Ich habe gelacht und Fragen nicht beantwortet«, gibt der Verurteilte zu. »Für mich war das alles ein Witz. Ich hab‘ gedacht, der Richter steht jeden Moment auf und sagt: Freispruch!«

Kurz vor Haftantritt im Juni 2008, trifft Tibor sich mit dem Regisseur Otu Tetteh, der ihn während seiner letzten Tage in Freiheit begleitet. Gemeinsam drehen sie die Kurzdokumentation »Lebe deinen Albtraum« (www.alptraum.be). Tetteh porträtiert einen jungen Mann, der sich an das Geschehene erinnert. Bewusst persönlich, subjektiv und fokussiert fängt er dabei eine ohnmächtige – gar einsame – Stimmung ein, die genau jene Unfassbarkeit zum Ausdruck bringen soll, die Tibor in jener Zeit fühlt. »Tibors Geschichte ist eine Tatsache«, erklärt der Filmemacher. »Letztlich spiegelt die Dokumentation nur einen kleinen Teil des riesigen Mosaiks namens Rechtsextremismus wider.« Es ist ein Film, der die Aufmerksamkeit auf eine »prekäre Gerichtsentscheidung« lenken soll, denn »offensichtlich schafft Recht alleine noch keine Gerechtigkeit«.

Von der Aufregung, die »Lebe deinen Albtraum« auslöst, bekommt Tibor zunächst nichts mit. Die ersten 18 Tage seiner Haft verbringt er, abgeschottet von der Außenwelt, in der JVA Eichstätt und erinnert sich: »23 Stunden auf sechs Quadratmetern, ein kleines vergittertes Fenster, das selbst für mich zu hoch lag, um rauszuschauen.« Schließlich wird er nach Ingolstadt verlegt, vom geschlossenen in den offenen Vollzug – mit Fernseher auf der Zelle und zweimal 48 Stunden Freigang im Monat.

Doch auch der offene Vollzug ist kein Zuckerschlecken. Einer der Häftlinge macht aus seiner nationalistischen Gesinnung keinen Hehl und stachelt neun weitere Mitinsassen gegen Tibor auf. »Ich hatte über drei Wochen meine persönliche ›No-Go-Area‹ im ersten Stock des Gebäudes.« Von den Beamten sei ohne Beweise für ›das Mobbing‹ keine Hilfe zu erwarten gewesen, erinnert er sich. Erst der Dienstleiter bereitet dem Treiben ein Ende.

Seinen ersten Hafturlaub nutzt der Rapper für einen Abstecher nach Isny im Allgäu, wo er bei einem Konzert spontan gemeinsam mit Künstlern des bekannten Musikkollektives Brothers Keepers auf der Bühne steht. Seit Ende 2007 ist er Mitglied des Vereins (www.brotherskeepers.org) und arbeitet in dessen Namen gegen Rechtsextremismus und Rassismus. Zum einen lässt genau diese Tatsache seine Verurteilung als doppelten Hohn erscheinen. Zum anderen bestärkt sie ihn jedoch auch in der Notwendigkeit aktiv zu sein und zu bleiben. Denn die Ausmaße des alltäglichen Rassismus bleiben Tibor auch während seiner Inhaftierung nicht verborgen.

So haben die Insassen im offenen Vollzug die Möglichkeit, außerhalb der Gefängnismauern Jobs zu erhalten. Als nach einem Gas-Wasser-Installateur für eine Baustelle gesucht wird, stehen zwei Männer zur Auswahl: ein gelernter Gas-Wasser-Installateur mit türkischer Herkunft und ein Bäcker »ohne Migrationshintergrund«. Mit der eindeutigen Begründung, Türken wolle man nicht haben, entscheidet sich das Bauunternehmen für den Bäcker.

»Was da zum Teil abläuft, ist wirklich unglaublich«, regt Tibor sich noch immer auf. Rassismus und Rechtsextremismus sei kein ostdeutsches Problem. »Über die »Bürgerinitiative Ausländerstopp« (BIA) zogen zum Beispiel nach der Kommunalwahl sowohl in Nürnberg als auch in München NPD-Funktionäre  in den Stadtrat ein. Bei meinen Workshops an Schulen spreche ich das offen an.«

Unter dem Titel »Neue Qualität des Rechtsextremismus. Jugendliche im Visier totalitärer Bewegungen« geht Tibor seit seiner Freilassung für Workshops wieder an Schulen. Die Aufklärungsarbeit ist ihm wichtig, auch wenn er damit nicht ungefährlich lebt: »Soweit ich weiß, hat mich der Verfassungsschutz für den Raum Bayern in die Top 7 der am meisten durch Rechtsextremismus gefährdeten Personen eingestuft«, lautet sein kurzes Statement auf die Frage, ob er denn keine Angst habe.

Gemeinsam mit dem Filmemacher Otu Tetteh plant er zudem einen Spielfilm  namens »NoGo«, in welchem – ähnlich Tibors Geschichte – ein afrodeutscher Jugendlicher plötzlich »vom Opfer zum Täter« wird. »Die vielen Rückmeldungen auf ›Lebe deinen Albtraum‹ haben mich bestärkt, das Projekt in Angriff zu nehmen. Ich hoffe, das die Finanzierung klappt«, erzählt Tetteh. Tibor ist da ganz zuversichtlich, er steckt voller Tatendrang. Das Manuskript zu seinem Buch »7 Monate für ein Leben – ein afrodeutscher Alptraum« ist geschrieben und wird derzeit überarbeitet.

Das deutsche Rechtssystem hingegen agiert nicht so schnell. Das Verfahren gegen Tibors Angreifer läuft, wobei erwähnt werden muss, dass alle Angeklagten in einem ersten Urteil freigesprochen wurden. Aufgrund von »Verfahrensfehlern« kam es jedoch zu einer Wiederaufnahme des Falles. »Das laufende Verfahren ist auch der Grund, warum es keine Akteneinsicht gibt und bisher nur meine Version der Geschichte bekannt ist«, erklärt Tibor. Bleibt zu hoffen, dass der Blinde zum Sehenden wird – vor allem auf dem rechten Auge der Justiz. Das letzte Urteil zumindest ist noch nicht gefallen.

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