Skip to main content

»Flut aus dem Osten«

Einleitung

Die rechte Wochenzeitung Junge Freiheit und die Osterweiterung

Revanchisten und Neonazis fordern am 3. Oktober 1998 in Berlin die Rückgabe von Ländereien in Polen

Carl Gustav Ströhm weiß, wovon er spricht. Im Februar 2002 ist ihm in der Budapester Lendvay utca sein VW Passat abhanden gekommen. Geklaut, mitten im Diplomatenviertel gegenüber der Botschaft Estlands. »Seid froh, dass wir die kriminelle Flut aus dem Osten hier auffangen«, ließ der Osteuropa-Korrespondent der Jungen Freiheit (JF) sich von einem ungarischen Gesinnungsgenossen trösten: »Sonst könntet Ihr demnächst auch in Wien oder München nicht mehr Eure Autos parken!« Zwei Jahre später naht der Schlag, der österreichische und deutsche Großstädte zu autofreien Zonen zu machen droht: Die Osterweiterung der Europäischen Union. »Wien preist die großen Seg­nungen der EU-Erweiterung«, stöhnt Ströhm in der JF: »Wer’s glaubt, wird selig«. Handtaschenraub, Einbrüche, »gelegentlich ein kleiner Banküber­fall« – das »Rumänen­pro­blem«, so Ströhm, dem die eigene Erfahrung die Augen geöffnet hat, ist jetzt schon in der österreichischen Hauptstadt ange­kom­men. Die »Kriminalitäts­welle«, berichtet der ehemalige Korres­pondent der »Welt«, gelte dort als »Spitze eines Eisberges, der sich mit der EU-Osterweiterung auf das Land zubewege«. »Mit Öffnung der Ostgrenzen gelangten diverse östliche Mafia-Strukturen« in die alten EU-Länder, »eine klare Trennung zwischen legaler und mafiotischer Ökonomie« sei bald »nicht mehr möglich«.

Kriminalität, Korruption, Kostenex­plo­sion: Das ist die Zukunft der osterweiterten EU, wie sie die JF seit Jahren an die Wand malt. »Wie teuer wird uns die Osterweiterung?«, hatte Ronald Schill in seiner »Flutkatastro­phen«-Rede vor dem Deutschen Bunde­stag drohend gefragt, bei der JF weiß man die Antwort: Viel zu teuer. »Allein Polen wird die Union bis 2006 etwa 2,7 Milliarden Euro zusätzlich kosten«, klagt Ströhm; JF-Redakteur Moritz Schwarz vermutet mit Schrecken, dass »der deutsche Arbeitsmarkt nach der EU-Oster­weite­rung auch noch unseren osteuropäischen Nachbarn offen« steht. »Die EU«, fürchtet JF-Autor Alexander Griesbach, »wird durch die Oster­wei­terung über Jahre hinaus ökonomisch und politisch gelähmt sein.«

Wohlstandschauvinismus, rassistische Ressentiments und völkisches Ge­habe: Hinter der Agitation der JF gegen die Osterweiterung verbirgt sich eine Europakonzeption, die zahlreiche Widersprüche zur gängigen europäischen Einigungsstrategie aufweist. Zentral in dieser Konzeption ist der deutsche Nationalstaat, der möglichst wenig Souveränitätsrechte dele­gieren und sich mit scharf bewachten Grenzen gegen die Zuwan­derung fremder »Völker« schützen soll. Autoritär geführt, gilt dieser Staat als geeignetes Instrument, um deutsches Wesen und deutsche Macht weltweit auszudehnen.

Die EU als Ganzes ist Vertreterinnen und Vertretern dieser Konzeption suspekt. Schließlich ist die Einigung Europas nur um den Preis der formalen Übertragung von Hoheitsrechten nach Brüssel zu haben, auch scheinen die immer durchlässigeren EU-Bin­nen­grenzen die Zuwanderung ins deutsche Wohlstandszentrum zu erleichtern. Nicht zuletzt kostet die EU und ihre Erweiterung nach Osten viel Geld, das die JF-Redaktion – wie die radikale deutsche Rechte insgesamt – lieber für Deutsche ausgeben würde.

Entsprechend agitiert die JF gegen die Osterweiterung, wenn auch zunehmend mit resignativem Unter­ton. Eine »tödliche Infektion« für die »Effektivität der jetzt schon schwerfälligen EU-Administration« sieht JF-Autor Alexander Barti; dass »mit der Osterweiterung nicht die Einheit, sondern die Widersprüche sich vertiefen«, befürchtet Ströhm. Mutigere Versuche, gegen die Osterweiterung einzuschreiten, sind fehlgeschlagen. Nachgedacht hat die JF-Redaktion über Zweckbündnisse mit den Grünen, für die die Agitation der FPÖ gegen das tschechische Atomkraft­werk Temelin das Vorbild abgab; auch an Vorbehalte des rechten Flügels der Unionsparteien wollte man anknüpfen. Ohne Erfolg: »Nein, auf keinen Fall«, antwortete die grüne EU-Parlamentarierin Mercedes Echerer auf die hoffnungsvolle Frage des JF-Interviewers, ob als unsicher geltende Atomkraftwerke nicht ein Beitritts­hindernis seien; man könne auch innerhalb der EU »die Zuwanderung begrenzen und steuern«, verkündete der CSU-Bundestagsabgeordnete Hans Michelbach auf prinzipielle Einwände eines JF-Redakteurs.

Auch über Kompromissvorschläge dachte die JF-Redaktion nach. Be­mer­kenswert ist das »Europa á la carte«, das Jörg Horn im Dezember 2001 ins Spiel brachte. Horn, Spezialist für »Volksgruppen«-Politik und Absolvent des elitären Europa-Kollegs in Brügge, hatte einige Jahre zuvor für den außenpolitischen Think Tank »Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Stu­dien« gearbeitet und verfügt über Kontakte, die ihm Anfang 2002 den Posten des offiziellen Vertreters der ostbelgischen »Deutschsprachigen Gemein­schaft« in Brüssel verschafften. Als Realpolitiker versuchte Horn, den Leserinnen und Lesern der JF eine besondere Variante der Oster­weiterung schmackhaft zu machen.

Man müsse bei der Osterweiterung nicht gleich komplette Staaten in die EU aufnehmen, schlug Horn in einem ganzseitigen Elaborat vor; man könne sich vielmehr zunächst auf eine Mitgliedschaft »geeigneter Regionen« beschränken. »Geeignet« seien Gebie­te, »die bereits stark mit dem EU-Gebiet verbunden sind, einen hohen Entwicklungsstand aufweisen oder aus geographischen Gründen rasch zum EU-Gebiet gehören sollten«. Konkret: »Das trifft zum Beispiel zu auf die an Deutschland grenzenden Teile Polens.« Bewusst knüpfte Horn damit an völkische Vorstellungen an, die die JF stets vertreten hat: Dass Deutschland wieder stärkeren Ein­fluss auf die ehemaligen Ostgebiete des Deutschen Reiches erhalten müsse. Auch »Königsberg« könne als Einzelregion in die EU aufgenommen werden, erklärte Horn; der Idee hatte sich kurz zuvor der Vorsitzende des Auswärtigen Bundestagsausschusses, Hans-Ulrich Klose (SPD), angeschlossen, sie ist später erneut in der JF aufgegriffen worden.

Die Osterweiterung wird am 1. Mai 2004 vollzogen, völlig unbeeinflusst von den unmaßgeblichen Debatten und Vorschlägen der JF. Bei dieser kehrt jedoch so langsam die Erkennt­nis ein, dass gerade die ungeliebte Expansion der ungeliebten EU völkisch-deutschen Ansprüchen neue Chancen bringt. »Entscheidend ist der 1. Mai – an diesem Tag tritt bekanntlich Polen der EU bei«, gab kürzlich JF-Redakteur Moritz Schwarz zu, als er Rudi Pawelka interviewte, den Aufsichtsratschef der Preußischen Treuhand, die vor dem Europäischen Gerichtshof Entschädigungen für die Umgesiedelten erstreiten will. »Damit untersteht auch Polen dem Einfluss der Europäischen Kommission und dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg«, ergänzte Pawelka und gab seiner Hoffnung Ausdruck, EU-Recht könne den Widerstand Polens gegen die Forderungen der deutschen Umgesiedelten brechen. Dass damit auch die prinzipielle Abneigung der JF-Redaktion gegen die EU-Osterwei­te­rung gebrochen würde, ist wenig wahrscheinlich – zu groß sind die Unterschiede in den Europakonzep­tionen. Ob die neuen Chancen für deutsch-völkische Politik jedoch taktische Annäherungen an die EU mit sich bringen, das muss sich noch zeigen.