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»…mit der Naziriecherei Schluss machen.«

Einleitung

Die Kritik des späteren Literaturnobelpreisträgers Heinrich Bölls fiel vernichtend aus. Im Spiegel hatte der Schriftsteller Konrad Adenauers soeben publizierte »Erinnerungen 1945-1953« besprochen, die Lektüre sei »niederschmetternd« gewesen. Zum einen habe Adenauer jegliche Form des Sozialismus »diffamiert«. Zum anderen sei die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik vom Bundeskanzler »mit Hinterlist und Niedertracht« vorangetrieben worden. Besonders heftig kritisierte Böll jedoch den Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Adenauer-Ära: »Er bekam die Kriegsverbrecher frei, und er wurde mitschuldig an der moralischen Fäulnis, die alles zu befallen droht, was in diesem Land offiziell unter ‚Bewältigung der Vergangenheit’ läuft.« Die Haltung Adenauers gegenüber Tätern und Profiteuren des NS-Regimes sei vor allem von opportunistischen Erwägungen geprägt gewesen. Demnach: »kommt (es) also gar nicht drauf an, ob einer und wie schuldig er sein mag, es kommt drauf an, ob einer noch gebraucht wird, ob seine Schuld oder Unschuld politisch gerade opportun ist […]« 

Kundgebung der CDU-Berlin-Lichtenberg gegen Kommunismus (Januar 2011).

Das Werben um die »Entnazifizierten«

Mit seiner Polemik hatte Böll die Vorstellungen von »Vergangenheitsbewältigung« wie sie während der 1950er Jahre kennzeichnend waren, treffend charakterisiert. Schon kurz nachdem sie sich (neu) konstituiert hatten, begannen nahezu alle Parteien, einschließlich der SPD, das Heer der ehemaligen NS-Funktionäre und der Mitläufer des Regimes zu umwerben. Diese Gruppe stellte ein quantitativ erhebliches Potential dar. So hatten im Mai 1945 allein 600.000 Personen leitende Positionen innerhalb der NSDAP eingenommen. Die SS verfügte zu diesem Zeitpunkt über mehr als eine Million Mitglieder. Dazu kam eine unübersehbare Zahl ehemaliger »normaler« Parteigenossen und kleinerer Funktionsträger. Bezeichnenderweise verortete sich der überwiegende Teil dieses Personenkreises nicht auf der Seite der Täter, sondern begriff sich als Opfer der von den Alliierten zunächst konsequent vorangetriebenen Entnazifizierungsmaßnahmen.

Mittel- und langfristig gelang es CDU/CSU sich als die Lobbyparteien der »Entnazifizierten« zu profilieren. Die kleinen rechts von der Union stehenden Parteien waren größtenteils absorbiert und marginalisiert worden. Dies galt für die vor allem in Niedersachsen verankerte Deutsche Partei (DP) ebenso wie für den Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE), der bei den Landtagswahlen in Bayern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein in den Jahren 1949/1950 noch zweistellige Wahlergebnisse erzielt hatte. An Einfluss verloren auch die offen rechtsextremen Parteien, wie etwa die Deutsche Reichspartei (DRP), die als faktische Nachfolgerin der 1953 vom Bundesverfassungsgericht verbotenen Sozialistischen Reichspartei (SRP) in Erscheinung trat. Letztere hatte bei den niedersächsischen Landtagswahlen im Jahr 1951 elf Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinigen können. Lediglich der in zahlreichen Regionen ebenfalls äußerst rechts stehenden FDP gelang es einer Marginalisierung durch die Union zu entgehen.

Zwischen »christlicher Demokratie« und Antikommunismus

Die CDU entstand nach dem Zweiten Weltkrieg aus unterschiedlichen politischen Strömungen. Der Anspruch, eine mehrheitsfähige interkonfessionelle bürgerliche Sammlungspartei zu etablieren, stellte zu diesem Zeitpunkt zweifellos ein Novum in der deutschen Parteiengeschichte dar.

Zum ideellen Bezugspunkt der Union avancierte der nicht näher definierte Begriff der »christlichen Demokratie«, dieser konnte von den unterschiedlichen Strömungen flexibel gefüllt werden. Das »C«, so urteilt der Bochumer Historiker Frank Bösch, »gab dem katholischen Milieu und dem protestantisch-bürgerlichen Lager […] einen gemeinsamen, individuell deutbaren und scheinbar unpolitischen Kitt, der in der konkreten Wirtschafts-, Sozial- oder Außenpolitik nur schwer zu finden war.«1 Im positiven Bezug auf die »christliche Demokratie« war zugleich eine entschiedene normative Abgrenzung sowohl gegenüber dem historischen Nationalsozialismus, als auch gegenüber jeder Form des Sozialismus enthalten, da beide Systeme gleichermaßen als Ausdrucksformen »vermasster« Gesellschaften galten. Besonders die massive antikommunistische Rhetorik der Union trug dazu bei, milieuübergreifend in bürgerlichen Wählerschichten Fuß zu fassen. Vor allem aber gelang es auf diesem Wege, die zahlreichen ehemaligen Funktionsträger des NS-Regimes anzusprechen, ließ sich der Antikommunismus unter christlich-abendländischem Vorzeichen doch als Fortsetzung des nationalsozialistischen Antibolschewismus mit anderen Mitteln verstehen. Dieser Antikommunismus richtete sich dabei nicht nur gegen die kommunistische Regime des Ostblocks, sondern zielte darüber hinaus innenpolitisch auf die SPD, was z.B. in den berüchtigten CDU-Wahlplakaten »Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau« oder »Wo Ollenhauer sät, erntet Stalin« zum Ausdruck kam.

»Bürgerliche Sammlung« – Die Machtstrategien der Union

Die rigorose Abgrenzung nach links zeigte sich auch in der von der Union im Vorfeld von Wahlen forcierten »Bürgerblock«-Politik. Diese intendierte, das bürgerliche Lager einschließlich des extrem rechten Randes unter der Führung der CDU auf Grundlage von Listenverbindungen und Wahlabsprachen zu einen. In Niedersachsen, wo sich die Union mit der DP, dem BHE und der DRP/SRP konfrontiert sah, die allesamt mit Wahlergebnissen im zweistelligen Prozentbereich rechnen konnten, waren die Sammlungsbemühungen der CDU besonders ausgeprägt. Anlässlich der Kommunalwahlen im Jahr 1952 erging von der Parteiführung an alle Kreisverbände die Weisung, »einen Block der nichtmarxistischen Parteien« zu bilden. Dementsprechend entstanden auf lokaler Ebene zahlreiche Wahlbündnisse, die wie etwa in Holzminden unter dem Namen »Partei der Gemeinschaft« firmierten und von CDU, DP, BHE und SRP getragen wurden. Während die niedersächsische CDU-Führung die lokale Einbindung der nazistischen SRP offenkundig für unproblematisch befand, fiel die Abgrenzung gegenüber der Sozialdemokratie umso deutlicher aus. So erhielten alle Kreisverbände den »verbindlichen Hinweis […] unter keinen Umständen« mit der SPD zu koalieren.2

Obwohl die Sammlungsbemühungen am rechten Rand vor allem beim katholischen Arbeitnehmerflügel der CDU auf teilweise massive Kritik stieß, setzte die Union auch im Vorfeld der Bundestagswahl 1953 auf diese Form der Bündnispolitik. Zwar war die SRP mittlerweile vom Bundesverfassungsgericht verboten worden, mit der DRP kam es in einigen Wahlkreisen aber zu »Wahlverhaltensvereinbarungen«.

Die CDU traf nicht nur Wahlabsprachen mit den rechts von ihr stehenden Parteien, sondern beteiligte diese auch an der Macht – selbst dann, wenn aufgrund der Mehrheitsverhältnisse die Notwendigkeit einer Koalition nicht bestand. So hatten CDU/CSU bei der Bundestagswahl im September 1953 zwar die absolute Mehrheit erreicht, Adenauer entschloss sich jedoch, die bereits marginalisierten Parteien BHE, DP sowie die FDP mit in die Regierungsverantwortung zu holen. Ähnliche Zugeständnisse gab es auch auf Landesebene.

Adenauer ging es darum, Einfluss auf die kleinen Rechtsparteien zu gewinnen. Deren führende Repräsentanten erhielten Ministerposten im Bundeskabinett, gerieten dafür aber in die machtpolitische Abhängigkeit des Bundeskanzlers. Dies führte dazu, dass etwa die beiden BHE-Minister Waldemar Kraft und Theodor Oberländer 1955 zur CDU übertraten. Gleichzeitig machten sich die Christdemokraten teils offen, teils verdeckt daran, die Parteiorganisationen und Fraktionen von BHE und DP systematisch zu spalten. Dabei wurden den umworbenen Abgeordneten allerlei Posten und mögliche Parteikarrieren in Aussicht gestellt.

Diese Strategie erwies sich bis zum Ende der 1950er Jahre als äußerst erfolgreich. Zusammen mit Oberländer und Kraft hatten 1955 bereits sieben Abgeordnete des BHE ihren Wechsel in die CDU-Fraktion bekannt gegeben. Der Trend setzte sich auch in den Bundesländern fort, wo die BHE-Mitglieder scharenweise zur CDU überliefen. Die DP wurde am Beginn der 1960er Jahre endgültig von der Union geschluckt. Die Tatsache, dass sich unter den Überläufern aus BHE und DP zahlreiche Rechtsextremisten befanden, störte bei den Christdemokraten kaum jemanden. Bereits nach dem Verbot der SRP 1953 waren Anhänger der Partei bereitwillig aufgenommen worden. Mit Theodor Oberländer hatte man sich nun jedoch einen hochrangigen vormaligen NS-Funktionär zunächst ins Kabinett und dann in die Union geholt. Die Vergangenheit des Vertriebenenministers (1953–1960), der während des »Dritten Reichs« SA-Hauptsturmführer, Gauamtsleiter und Reichsführer des Bundes Deutscher Osten gewesen war, führte während der 1950er Jahre zu vehementen Forderungen, Oberländer zu entlassen.

»Bewältigung der NS-Bewältigung« – Vergangenheitspolitik

Die seit Beginn der 1950er Jahre dramatisch zunehmende Präsenz ehemaliger NS-Funktionäre in der Politik, in den Ministerien und in der öffentlichen Verwaltung resultierte aus den »vergangenheitspolitischen« Maßnahmen der Adenauer-Regierung. Bereits in seiner ersten Regierungserklärung im September 1949 brachte Adenauer die Haltung seiner Koalition zur »Entnazifierung« und deren Folgen auf den Punkt: »Durch die Denazifizierung ist viel Unglück und Unheil angerichtet worden.«3

Nur wenige Monate später wurde ein Amnestiegesetz vom Bundestag einstimmig verabschiedet, das Straffreiheit für Taten vorsah, die mit bis zu einem Jahr Gefängnis geahndet werden konnten. Von dieser Amnestie profitierten mindestens 800.000 Personen, darunter eine nicht unerhebliche Zahl an NS-Verbrechern. Zudem bot das Gesetz NS-Funktionären, die nach 1945 untergetaucht waren, die Möglichkeit, wieder in die Legalität zurückzukehren, ohne strafrechtlich belangt zu werden. Im Sommer 1954 folgte das zweite, einstimmig verabschiedete Straffreiheitsgesetz, das »Taten während des Zusammenbruchs« amnestierte. Den entscheidenden Markstein für die soziale Integration ehemaliger Anhänger und Mitläufer des Nationalsozialismus stellte zweifellos das 1951 verabschiedete »Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen« dar. Das so genannte 131er Gesetz verfügte, dass Beamte, die 1945 ihre Stellung verloren hatten, wieder in den öffentlichen Dienst übernommen werden sollten.

Sämtliche staatliche und kommunale Behörden waren daher verpflichtet, mindestens 20 Prozent ihrer Planstellen mit Beamten aus diesem Personenkreis zu besetzen. Zwar sind genaue Zahlen nicht bekannt, es ist jedoch davon auszugehen, dass mehrere hunderttausend Beamte und ehemalige Berufssoldaten der Wehrmacht wieder Beschäftigung im öffentlichen Dienst der Bundesrepublik fanden, darunter vermutlich Zehntausende, die politisch erheblich belastet waren.

Auf die Warnungen vor einer drohenden »Renazifizierung« der Verwaltung reagierte Bundeskanzler Adenauer mit der gereizten Bemerkung, es sei nun an der Zeit, »mit der Naziriecherei Schluss zu machen.«4 Die Bonner Ministerien entwickelten sich daher zu Tummelplätzen ehemaliger Nazis. So hatten zwei Drittel der leitenden Beamten des Auswärtigen Amtes der NSDAP angehört. Unter den Referatsleitern waren es sogar vier Fünftel. Damit beschäftigte das Auswärtige Amt während der 1950er Jahre mehr NSDAP-Mitglieder als in der Zeit des »Dritten Reichs«. Ähnliche Zahlen ließen sich für das Justiz- und das Vertriebenenministerium nennen.

Aber auch in der Union wurde »Schluss gemacht« mit der »Naziriecherei« – sofern es diese jemals gegeben hatte. In der Partei, im Bundeskabinett und in den CDU-geführten Landesregierungen gelangten Politiker in einflussreiche Positionen, die aufgrund ihrer Tätigkeiten im »Dritten Reich« als hochgradig belastet gelten mussten. Neben Theodor Oberländer ist hier beispielhaft Hans Globke zu nennen, der zum engen Vertrauten Adenauers und Ministerialdirektor im Kanzleramt avancierte. Die Tatsache, dass er in der Zeit des Nationalsozialismus einen juristischen Kommentar zu den Nürnberger Rassegesetzen verfasst hatte, erwies sich für seine Karriere in der Bundesrepublik nicht als hinderlich.

Einen bemerkenswerten Aufstieg machte auch Kurt-Georg Kiesinger. Er war während des »Dritten Reichs« in der Propagandaabteilung des Auswärtigen Amtes beschäftigt gewesen. Nach 1945 trat er der CDU bei und brachte es zum Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, bevor er Ludwig Erhard 1966 als Bundeskanzler nachfolgte. Kiesingers Vergangenheit war schon damals bekannt und geriet verstärkt in die öffentliche Diskussion, nachdem ihn Beate Klarsfeld während eines CDU-Parteitages im November 1968 als »Nazi« bezeichnet und geohrfeigt hatte. An Rücktritt dachte Kiesinger damals freilich nicht.

Die »moralische Fäulnis«, die Heinrich Böll im Jahr 1965 der Union im Umgang mit der NS-Vergangenheit sowie hinsichtlich der von ihr betriebenen Integration von Funktionären, Profiteuren und Tätern des Nationalsozialismus attestierte, haftete der Politik von CDU/CSU auch in späteren Jahren an. Die Strategien, die die Christdemokraten anwandten, um im extrem rechten Spektrum zu punkten, blieben bis heute im Wesentlichen unverändert und basierten bzw. basieren auf einer Mischung aus meist mit massivem Verbalradikalismus vorgetragenen Drohungen gegenüber offen rechtsextremen Parteien bei gleichzeitiger populistischer Anbiederung an deren Wähler. Diese Politik forcierte die Union sowohl am Ende der 1960er Jahre, nachdem die NPD in sieben Landtage eingezogen war, als auch am Ende der 1980er Jahre angesichts der Wahlerfolge von DVU und Republikanern. Zu erwarten ist, dass die CDU nun in Brandenburg und Sachsen versuchen wird, mit der bewährten Strategie die Wähler von DVU und NPD zu ködern.

  • 1Vgl. Frank Bösch: Macht und Machtverlust. Die Geschichte der CDU, Stuttgart 2002, S. 15.
  • 2Zitiert nach: Frank Bösch: Die Adenauer-CDU. Gründung, Aufstieg und Krise einer Erfolgspartei 1945-1969, Stuttgart 2001, S. 142.
  • 3Zitiert nach: Axel Schildt: Ankunft im Westen. Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, Frankfurt/M. 1999, S. 117.
  • 4Zitiert nach Schildt, Ankunft im Westen, S. 122.