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¡Defender tu vida no es delito! »Dein Leben zu verteidigen ist kein Verbrechen!«

Víctor Nuess
Einleitung

Über einen inhaftierten Antifaschisten, über Neonazi-Skinheads in Quito und die Unabhängigkeit der Justiz in Ecuador.

Solidaritätskundgebung der Kampagne »Freiheit für Álvaro«

Wir stehen vor einer Stahltür im Norden Quitos, der Hauptstadt Ecuadors. Es ist Mittwoch, der 26. Januar, 11 Uhr. Es ist die Stahltür des »Carcél 4«, eines Gefängnisses in Quito, in dem normalerweise PolitikerInnen und PolizistInnen untergebracht sind, wenn sie auf der juristischen Ebene in Ungnade gefallen sind. Wir wollen einen jungen Antifaschisten von 20 Jahren besuchen; er sitzt seit Mai 2010 ein. Es ist Álvaro Paredes, dem vorgeworfen wird, den Neonazi Abraham Chimborazo erstochen zu haben.

»¡Defender tu vida no es un delito!« (»Dein Leben zu verteidigen ist kein Delikt«), so die Leitparole der bescheidenen Kampagne für die Freiheit von Álvaro. Bescheiden auch deshalb, weil sich die Solidaritätsgruppe sowie die Brigada Antifascista Quita, faktisch im Laufe eines Jahres seit dem Ableben des stadtbekannten Neonazi-Skins Chimborazo aufgelöst hat. Wir treffen nichtsdetsotrotz einen gut gelaunten Álvaro nach oberflächlichen Leibesvisitationen im Innenhof des Knastes.

Warum sitzt Álvaro?

Ein Gruppe um den bekannten Neonazi Abraham Chimborazo überfiel am 17. Mai 2010 – bewaffnet mit Schlagringen, Messern und Knüppeln – den jungen Antifaschisten, als er gerade aus der Universität kam. Es war bereits der dritte Überfall dieser Art, mit der offensichtlichen Absicht, Álvaros Leben zu beenden.

Álvaro flüchtete zunächst über eine vielbefahrene Straße, dann in ein Internetcafé, wo es zu einem heftigen Handgemenge kam. Er flüchtete weiter, wieder auf das Gelände der Uni, wo er Film- und Videostudent ist. Dort schlugen ihn die Neonazis brutal zusammen, er konnte das Messer von Chimborazo entwenden, der im Tohuwabohu dann von seinem eigenen Messer verletzt wurde und verstarb.

Danach tauchte Álvaro Paredes verletzt für einige Tage ab, gab über YouTube eine Erklärung zum Überfall auf ihn ab. Dann stellte er sich auf Anraten seiner damaligen Anwälte der Justiz. Die ersten Gerichtstermine zur Haftprüfung waren eher ein Desaster, nicht zuletzt wegen grundsätzlich falscher Einschätzungen seiner Anwälte. Ihre Einschätzung war gewesen, dass Álvaro ohne weitere Komplikationen auf freien Fuß gesetzt würde, da er ja in Notwehr gehandelt habe. Unterschätzt wurde seitens der Anwälte, die über reichlich Erfahrung mit Menschenrechtsprozessen verfügen, der Grad der Korruption ecuadorianischer Gerichte, speziell der des Provinzgerichtes Pichincha, der hiesigen Provinz. Álvaro wurde schließlich wegen Mordes angeklagt, was auch seine lange Untersuchungshaft erklärt.

Korruption der Justiz und Neonazi-Skinheads

In den ersten Anhörungen vor Gericht, hatte die zuständige Richterin sowohl eine Beweisführung auf Seiten von Álvaro nicht zugelassen, als auch jeglichen Versuch der Anwälte vor Ort weitergehende Äußerungen zu tätigen, unterbrochen oder abgewürgt. Im Gegenzug konnten die Eltern von Chimborazo sich offen selbst als Faschisten bezeichnen. Sie seien Nationalisten, wollten Ordnung etc. Kein Wort zur ANR [Acción Nacional Revolucionaria], der Neonazi-Gruppe, die Álvaro nach dem Leben trachtete. Kein Wort über ihre guten Verbindungen zu Teilen der Polizei, kein Wort dazu, dass ein ehemaliger Fremdenlegionär die jungen Neonazis in Kampfsport trainierte. Kein Wort über ihre Aktionen der »sozialen Säuberungen« gegen Homosexuelle, Sexarbeiterinnen, Obdachlose und Linke.

Das Gericht sowie große Teile der ecuadorianischen Gesellschaft haben keine Begrifflichkeit von Faschismus oder Nationalsozialismus. Ohnehin ein kurioses Phänomen: Die auf den Nationalsozialismus fixierte Neonazi-Skinhead-Szene, bestehend aus weniger als 20 Personen. In einem Land, in dem mehr als 80 Prozent der Bevölkerung entweder Indigene, Mestiz_innen oder Afro-Ecuadorianer_innen sind. Der Nazikult erscheint wie eine willkürliche Mischung aus der Verwendung von Nazi-Symbolik, (rassistischer) Verachtung von Armen, Hass auf Obdachlose und Sexarbeiter_innen. So spricht die ANR von sozialen Säuberungen und meint Überfälle auf Obdachlose und Sexarbeiter_innen, oftmals auch erkennbare alternative Jugendliche (Heavy Metals, Punks, Langhaarige). Die ANR stellt sich auf ihrem Internet-Blog ästhetisch wie »Autonome Nationalisten« in der BRD dar, deren Symbolik und Motive auch dort zu finden sind. Ihre Parolen sind eine Mischung aus Gewaltkult und Nationalismus; »Blut – Stolz – Nation« (Sangre, Orgullo, Nación). Ihre aktuell dargestellte Großtat für die »Säuberung des Vaterlandes« ist eine »ökologische Aktion« zur Reinhaltung ihres Viertels. Mit gefüllten Müllbeuteln zeigen sie sich breitbeinig ihrer Fangemeinde.

Es gibt zwar in der ecuadorianischen Gesellschaft die politische Kategorie »rechts«, jedoch wird dies oftmals nur für die rechte politische Opposition oder Paramilitärs angewandt. Was Rechtskonservatismus, (faschistische) Diktaturen oder paramilitärische Aktionen der Polizei ideologisch und praktisch mit Faschismus zu tun haben, wird nicht gesehen. So sind auch die Reaktionen der Richterin und der Presse zu erklären, die es nicht als Skandal empfanden, dass sich Rechte – wie die Familie des Toten Chimborazo – offen als Fans des Nationalsozialismus outen. Nicht selten heißen hier Menschen mit Vornamen »Hilter« oder »Jitler«.

(Gerichts-)Entscheidungen

Was aber im Falle von Álvaro eventuell beim Gerichtstermin am 2. Februar 2011 wesentlich entscheidender war, war die Tatsache, dass das Gericht vom neuen Anwalt von Álvaro im Vorfeld eine hohe finanzielle »Spende« von 30.000 US $ erwähnt hatte. In einer Unterredung mit der Richterin, hatte der Anwalt darum gebeten, beim kommenden Gerichtsterminen doch bitte Platz zu lassen, den Fall ausführlich von Seiten der Verteidigung  würdigen zu können. Es ist darüber hinaus davon auszugehen, dass in den vorangegangenen Verhandlungen ebenfalls Geld im Hintergrund eine nicht unerhebliche Rolle gespielt hatte.

Wendung und Freiheit

Am 2. Februar 2011 wurde im entscheidenden Gerichtstermin Álvaro Paredes nicht nur wegen einfacher Notwehr zu vier Jahren ohne Bewährung verurteilt, sondern auch ZeugInnen auf Seiten der Angreifer anschließend wegen Falschaussage angeklagt bzw. zu einer Geldstrafe verurteilt. Am Tag des Gerichtstermins wurde eine Gruppe von fünf Neonazi-Skinheads von der Polizei stundenlang geschützt. Auf der Solidaritätskundgebung auf Seiten der Unterstützenden von Álvaro Paredes hatten sich 50 Menschen eingefunden.

Mittlerweile ist Álvaro Paredes Freigänger mit Auflagen. Das Jahr Untersuchungshaft und das junge Alter geben ihm nach ecuadorianischer Rechtssprechung die Möglichkeit dazu. Seine ehemalige politische Gruppe, die Brigada Antifascista Quito hat sich aufgelöst und einige Personen, die noch am Anfang der Solidaritätsarbeit in seinem Namen antifaschistische Konzerte organisiert hatten, haben das eingesammelte Solidaritäsgeld nicht an Álvaro oder seine Anwälte weitergeleitet.

Ein Brief von Álvaro hat dies unlängst öffentlich gemacht. Er selbst denkt über zwei Möglichkeiten nach: entweder die Brigada Antifascista neu aufzubauen oder aber eine Zeit lang nach Venezuela zu gehen, um sich dort solidarisch im Prozess zur Umgestaltung hin zum »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« einzubringen, nicht zuletzt auch wegen anhaltender Drohungen seitens der Neonazis. Wir wünschen ihm viel Glück, wie immer seine Entscheidung auch ausfallen mag.

Víctor Nuess ist Aktivist der Antifaschistischen Linken Berlin und hielt sich zwischen September 2010 – März 2011 in Ecuador auf.