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Neukölln-Komplex wird immer komplexer

Einleitung

Die Ermittlungen zur Neonazi-Anschlagserie in Berlin stagnieren seit Monaten. Dennoch wurden in den letzten Wochen immer wieder neue Details bekannt, die erklären könnten, woran das liegt.

Foto: Florian Boillot

Die Hauptverdächtigen der Anschlagsserie Sebastian Thom und Thilo Paulenz am 31. August 2020 in Berlin vor Gericht.

Es wurde als großer Erfolg der Sonder­ermittler der BAO Fokus beim Berliner LKA verkauft: Man habe Ende 2019 eine verschlüsselte Festplatte des Hauptverdächtigen der Anschlagserie, dem Neuköllner Neonazi Sebastian Thom geknackt, hieß es in den Medien. Auf dieser wurde eine über 500 Personen umfassende Datensammlung zu politischen Gegner*innen gefunden. Möglicherweise ein wichtiges Indiz in den seit Jahren stagnierenden Ermittlungen gegen rechten Terror in Neukölln und anderen Berliner Bezirken, bei dem über 50 Anschläge auf PKWs und Wohnungen von Nazigegner*innen verübt wurden.1 Zumal diese zuletzt mehrfach durch Skandale überschattet wurden, wie z.B. ein Politiker der Linken, der nicht vor einem Anschlag gewarnt wurde, obwohl Neonazis unter den Augen von LKA und Verfassungsschutz diesen ausspähten.2

Schnell wurde allerdings klar, keineswegs hat sich hier langer Ermittlungseifer ausgezahlt, sondern die Daten wurden bei einer späteren Durchsicht der Festplatten im Papierkorb des Betriebssystems entdeckt. Angeblich waren die Datensätze bei einer ersten Auswertung kurz nach der Beschlagnahme Anfang 2018 übersehen worden.

Der ist AfD-Wähler

Nicht übersehen, aber einfach ignoriert hat zudem der leitende Staatsanwalt Uwe Storm einen bemerkenswerten Vermerk in den Akten zu dem Ermittlungskomplex: „Also die Staatsanwaltschaft ist auf unserer Seite, der ist AfD-Wähler“, schrieb der zweite Hauptverdächtige der Serie Tilo Paulenz zu seinem Neuköllner AfD-Kollegen Jörg Kapitän per Telegram-Messenger am 27. März 2017 nach einer Vernehmung durch die Staatsanwaltschaft. Zu diesem Zeitpunkt war sich Paulenz nicht bewusst, dass gegen ihn wegen der Anschlagsserie ermittelt wird bzw. werden würde. Er wurde lediglich als Zeuge nach einer Auseinandersetzung um einen AfD-Infostand angehört. Insofern lässt sich ausschließen, dass er absichtlich den betreffenden Staatsanwalt korrumpieren wollte, wie Lobbygruppen aus der Justiz sofort mit Bekanntwerden des Vorgangs lancierten. Zu diesem Zeitpunkt sah er den Staatsanwalt noch nicht als einen Gegner. Bei diesem handelt es sich um den damaligen Leiter der politischen Abteilung 231 bei der Berliner Staatsanwaltschaft, Oberstaats­anwalt Matthias Fenner. Dieser macht offenbar keinen Hehl um seine politische Gesinnung, so wird er in der Behörde wahl­weise als „rechtskonservativ“ (Tagesspiegel) bzw. „stramm rechts“ (taz) bezeichnet. Sein jahrelanges „Engagement“ bei Ermittlungen gegen Linke führte oft zu absurdesten Strafverfahren, u.a. wurde 2017 eine antifaschistische Fahrraddemo zu einer „kriminellen Vereinigung“ nach §129 verklärt.3

Fenner hatte als Staatsanwalt bereits vor längerer Zeit dienstlich mit Paulenz zu tun: Am 4. April 2003 attackierte eine Gruppe von rund 20 Neonazis in Südneukölln mit Baseballschlägern und Flaschen mehrere Personen aus rassistischen Motiven. Unter den Verdächtigen war auch Paulenz. Nach über drei Jahren Ermittlungen wurden lediglich drei Beteiligte angeklagt. Als der Lokalsender RBB im Jahr 2006 Fenner fragt, ob sich angesichts der langen Verfahrensdauer die Justiz „im Tief­schlaf“ befände, erklärt er, „dass die personellen und sachlichen Ressourcen der Strafverfolgungsbehörde und der Gerichte begrenzt“ seien.4 Fenners Überlastung überrascht nicht, in dieser Zeit zog er gleich mehrere Verfahren gegen Antifaschist*innen an sich und versuchte aufwändig, diese zu kriminalisieren.5

Obwohl der Auswertungsbericht mit Paulenz‘ Einschätzung von Fenner als AfD-­Wähler bereits am 27. Februar 2019 verfasst wurde, tat Staatsanwalt Storm nichts mit dieser Information über seinen Abteilungsleiter. Erst als die Nebenklageanwältin eines Betroffenen Teile der Akte einsehen konnte, fiel der Sachverhalt auf. Sie legte Beschwerde bei der Generalstaatsanwaltschaft ein, die daraufhin Fenner und Storm in andere Bereiche umsetzen ließ.

dienstlich nicht begründbare Anfragen

In einem Zwischenbericht der BAO Fokus vom Februar 2019 heißt es, man hätte „einen möglichen Informationsabfluss aus der Polizei Berlin in rechtsextremistische Kreise“ überprüft, indem alle Abfragen aus der Polizeidatenbank über Betroffene ausgewertet wurden und käme zu dem Schluss, dass es „keinen Hinweis auf missbräuchliche Datenabfragen“ gebe. Dem widerspricht die Berliner Datenschutzbeauftragte. Sie kritisierte im August öffentlich den mangelnden Aufklärungswillen der Behörde zu dubiosen Datenabfragen über Betroffene der Anschlagsserie. Denn anders als von der BAO behauptet, gab es bei mindestens zwei Betroffenen, die sich an die Datenschutzbeauftragte wandten, sehr wohl Abfragen durch Polizisten, die sich nicht „nachvollziehbar dienstlich begründen“ ließen. Konkret handelt es sich um diverse Abfragen durch zwei Beamte vom LKA 52, Staatsschutz PMK-links sowie von einem dritten Beamten, zu dem die Auskunft gesperrt sei. Anlass für die Überprüfung war, dass trotz kürzlichem Adresswechsel die Täter zeitnah die neue Anschrift zweier Betroffener herausbekamen und Morddrohungen wie „9 mm für […]“ und „Kopfschuss“ sprühten. Die Polizei verweigert bislang die weitere Aufklärung.

Ein politischer Wille bei Verantwortlichen, diesen unkontrollierten Datenabfluss aus Polizeidatenbanken zu unterbinden, ist beim rot-rot-grünen Berliner Senat nicht zu erkennen. Seit Jahren thematisiert die Datenschutzbeauftragte dieses Problem, spricht davon, dass „regelmäßig unberechtigte Abrufe in POLIKS durch Polizeimitarbeitende gemeldet“ werden sowie das „derzeitige System der Personensuche“ sogar komplett „rechtswidrig“ sei.6 So konnte der Polizist Sebastian K. mit seinen Helfer*innen Ende 2017 Drohbriefe an linke Aktivist*innen zusammenstellen.7 Mindestens fünf Personen fanden sich sowohl dort, als auch in Thoms Datensammlung.

Bei Observationen „auffällig zurück­gehalten

Gänzlich untätig blieb der Staat nicht, bislang brachte die Überwachung mittels abgehörter Telefonate und Observationen durch mindestens zwei Behörden (LKA und Verfassungsschutz) aber wenig. Jedoch wurden Thom und Paulenz im August 2017 dabei beobachtet, wie sie in Südneukölln Parolen für Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß gesprüht hatten. Im August 2020 sollte deswegen ein Prozess stattfinden, allerdings war dieser gleich am ersten Verhandlungstag geplatzt. Die LKA-Observatoren hatten keine Aussagegenehmigungen von ihren Vorgesetzten. Wieder wird deutlich, die Behörden wollen ihre Methoden und Vorgehensweisen um jeden Preis geheim halten. In diesem Fall wurde es der Richterin bei der Befragung des zweiten Beamten zu viel. Sie vertagte den Prozess auf unbestimmte Zeit, bis eine erweiterte Aussagegenehmigung vorliegt.

Auch ein zweiter Prozess wurde mithilfe angeblicher Beobachtungen von Angehörigen des LKA 64 angestrengt, allerdings gegen linke Aktivisten. Sie sollen im Jahr 2017 mit Plakaten über die rechten Gewalttäter in Südneukölln informiert haben. Eine Lappalie, die nicht mal die örtlichen Beamten als Straftat beurteilten und lediglich einen Tätigkeitsbericht anfertigten. Dennoch strengten die Staatsanwaltschaft unter Fenner und das LKA 52 Hausdurchsuchungen und einen Prozess an, der jedoch in sich zusammenfiel. Nach zwei Stunden Verhandlung sagte der Richter: „Ich bin nicht der Meinung, dass das hier ein Verfahren hätte werden sollen. Freispruch ist das einzig Richtige.

Ebenfalls durch Observationen, allerdings vom Verfassungsschutz wurde im März 2017 ein bemerkenswertes Treffen aktenkundig. Eigentlich wurde anderswo ein Neonazi beschattet, der schließlich unvorhergesehen nach Südneukölln in das „Ostburger Eck“ fuhr. Erst dort wurde klar, wen er dort trifft: Sebastian Thom und andere Neonazis. Als die Personen das Lokal verlassen, notieren sich die Verfassungsschützer das Kennzeichen des PKW desjenigen, der mit Thom zusammen den Ort verlässt. Dabei handelte es sich um Andreas ‚Pit‘ W., seines Zeichens MEK-Beamter beim LKA 6, zuständige ebenfalls für Observationen. Der Fall sorgte kurzzeitig für Aufregung bei Politik und lokalen Medien, allerdings fanden sich auch für diesen Fall wie üblich verschiedenste Ausreden aus dem Apparat. Es steht Aussage gegen Aussage, Aufklärungswille ist derzeit nicht erkennbar.

Interessant ist jedoch, was „Die Zeit“ von einem Verfassungsschützer gesagt bekam: „Immer, wenn es Observationen gab, haben sich die beiden Hauptverdächtigen auffällig zurückgehalten“.8 Sprechen Berliner LKA und Verfassungsschutz wie in anderen Bundesländern ihre Observationen ab, um sich nicht in die Quere zu kommen? Das zumindest ausgerechnet in dem Fall, wo sich der VS nicht in Neukölln angekündigt hatte, solch ein Zusammentreffen beobachtet wird, hinterlässt viele Fragen.

Kein Ende in Sicht

Die jüngste Entwicklung bildet eine erneute Durchsuchung der BAO Fokus bei Thom Anfang September 2020, allerdings nicht wegen der Anschlagsserie, sondern weil er 5.000€ Corona-Soforthilfe veruntreut haben soll. Durchsuchungen fanden bei Thoms Meldeadresse in Gropiusstadt sowie seinem Wohnort bei seiner Lebensgefährtin Michaela K. in Rudow statt. Datenträger und Bargeld wurden beschlagnahmt.

Zudem ist für Ende September ein Abschlussbericht der erfolglosen BAO Fokus angekündigt. Innensenator Geisel will dann eine externe Kommission mit zwei bis drei auswärtigen Experten den Fall untersuchen lassen. Namen nannte er bislang keine.

  • 1Vgl. "Rechter Terror in Berlin-Neukölln", AIB 119.
  • 2Vgl. Berlin: "Neonazi-Anschläge unter Aufsicht?", AIB 121 und "Neonazis & Polizei: Immer wieder Berlin-Neukölln", AIB 127
  • 3Vgl. "Berlin: Repression nach antifaschistischer Fahrradtour", AIB 126
  • 4RBB-Abendschau vom 24.04.2006
  • 5"Soligruppe Christian S." 2006: https://web.archive.org/web/20060810151921/http://www.freechristian.de…
  • 6Jahresbericht 2019 der Datenschutzbeauftragten
  • 7Vgl. "Drohbrief aus dem Polizeicomputer", AIB 122
  • 8"Flächenbrand", DIE ZEIT Nr. 37 vom 3. September 2020