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Neonazigewalt 1990 in Zerbst

Einleitung

Unter der Überschrift „Situation der Antifas in der ehemaligen DDR“ schilderten 1990 Jugendliche in Leserbriefen im AIB ihre Situation, Angriffe von Neonazis und das Verhalten der Polizei.

Faksimile AIB

Im Schatten der Wende

„Im Schatten der Wende“ ist der Titel einer lesenswerte Broschüre der „Arbeitsstelle Rechtsextremismus“ von „Miteinander e.V.“.  Zu Wort kommen die Protagonist_innen des Kurzfilmes „Du weißt schon, wie in Rostock ...“. Einer von ihnen gehört zu den jugendlichen Antifaschist_innen, dessen Brief aus Zerbst vom Oktober 1990 im Antifaschistischen Infoblatt abgedruckt wurde.

Neben anderen Beispielen wird das Setting einer Kleinstadt im Jahr 1990 beschrieben, wo sich (nicht-rechte) Jugendliche – wie an vielen anderen Abenden – in der Ketschauer Mühle am Rande der Stadt Zerbst trafen: „Im August 1990 besetzten die Jugendlichen die leerstehende Ketschauer Mühle – ein gewaltiges Gebäude von 18 Metern Höhe. Hier verbringen sie ihre Freizeit und suchen Schutz vor den Faschos – die damalige Bezeichnung für Neonazis. Wie in vielen Gegenden der Fast-nicht-mehr-DDR sind rechte Skinheads längst die Platzhirsche unter den Jugendlichen. Sie dominieren den Alltag und legen fest wer Freund und wer Feind ist. Vor allem die alternative Szene gerät ins Visier der Faschos. Auch die Ketschauer Mühle wird zum Angriffsziel.

Was folgt war ein Beinahe-Tod von 17 Jugendlichen mit Ansage: Die Lokalzeitung wusste vor ab zu berichten, dass es „in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober zu einem Zusammenstoß einer großen Anzahl rechtsgerichteter Jugendlicher aus Zerbst, Roßlau und Magdeburg mit linksgerichteten Jugendlichen aus Zerbst in der Ketschauer Mühle kommen soll.“ Weiter war dort zu lesen, dass das Zerbster VPKA (Volkspolizeikreisamt) sich auf Grund seiner zur Verfügung stehenden Kräfte außerstande sehen würde, dort einzugreifen. Man könnte sagen: Ein Freibrief.

Oliver aus Zerbst berichtet:

"Kurz nach der Wende hat sich eine kleine Punker-, Grufti-, Gothic-Szene entwickelt, die in Zerbst sehr marginal war, die sich an verschiedenen Treffpunkten versammelt und den Nachmittag verbracht hat. Im Durchschnitt waren wir 15 Jahre alt. Und damals fing das schon an, dass andere, ältere Jugendliche, so um die 20, aus Zerbst, das doof fanden, wie wir rumrannten, wie wir uns gekleidet haben und dann fing eigentlich auch die körperliche Auseinandersetzung bald an. Das war normal, wenn man nicht das gemacht hat, was der normale Zerbster Jugendliche gemacht hat: Schule, Arbeit, danach irgendwo stehen und Saufen und alles blöd finden; Ausländer blöd finden. Alles was anders war, war schon Angriffsziel. Da es in Zerbst in der Zeit keine Hip-Hopper oder Skater gab, waren wir als Gruppe das bevorzugte Angriffsziel. Über diese Auseinandersetzung haben wir uns schon mehr und mehr politisiert. Irgendwann im August 1990 haben wir die Ketschauer Mühle besetzt. In den folgenden zwei Monaten ist das Haus in jeder zweiten bis dritten Nacht angegriffen worden. Von Faschos, wie wir sie damals nannten. Das fing an mit zwei bis drei Leuten, die pöbeln oder Steine werfen. Nicht selten kamen zehn bis vierzig Leute, so dass es richtig zu Angriffen kam. Die haben auch versucht, in das Haus reinzukommen. In acht Wochen hat es sieben mal so gebrannt, dass die Feuerwehr kommen und löschen musste. Nicht jedes Mal ist die Feuerwehr gekommen. Oft haben wir die Brände selber gelöscht. (...) Es war sehr absehbar, dass es am Einheitstag, am 3.10. hier auch knallen wird. Es waren heftige Auseinandersetzungen, bis irgendwann das Haus brannte. So dass wir nicht mehr aus dem Haus rauskamen, aufs Dach gegangen sind und auf dem Giebel saßen. Irgendwann wurde die Feuerwehr informiert und die rückte dann an. Zu der Zeit war es so, dass Zerbst ein Luftkissen hatte, was für eine Höhe von 5 Meter zugelassen war und wir auf dem Giebel in 18 Meter Höhe standen. Und dann sind wir aus 18 Meter Höhe auf dieses Sprungkissen draufgesprungen, sind danach wieder in die Höhe geschleudert worden und danach irgendwo außerhalb aufgekommen. Es gab mehrere Schwerverletzte. Die 300 Faschos waren dann natürlich nicht mehr da. Und dann war 3. Oktober und dann waren „wir“ vereint. 1992 gab es dann das Gerichtsverfahren. Ich hab das damals so erlebt, dass wir zu dem Gerichtsverfahren hingegangen sind, draußen die Faschos standen mit ihren Freunden, sich gefeiert haben, wir da durchlaufen durften, in das Gerichtsgebäude reingegangen sind, der Richter das Verfahren eingestellt hat und wir wieder nach Hause gegangen sind. Das war’s, was an rechtlichen Konsequenzen geschehen ist. Ich selber hab mich damals nicht wirklich mit so’nem Gebiet wie Anzeigen und sowas auseinander gesetzt. Warum unsere Eltern das nicht getan haben ... Ich denke, dass da sowieso damals die allgemeine Unsicherheit war. Ob sowas Aussicht auf Erfolg hat, ob man in so ner Kleinstadt dann nicht noch weiter angegangen wird, wenn man da weiter rumpult."

Rückblickend fragte das AIB nach: "Ist eigentlich zu den paar Angreifern, die vor Gericht nie verurteilt wurden, irgendetwas spannendes zu sagen oder waren das eher Zufallsfestnahmen?"

Oliver: "Ganz ehrlich? Keine Ahnung. In meinem Gedächtnis ist nur, dass sie alle frei gesprochen wurden. Ich weiss nur, dass wir damals recht viele von denen kannten und auch Namen genannt hatten, aber da irgendwie nix passierte. Zufallsfestnahmen waren das keine. Da war niemand, der unberechtigt angeklagt wurde."

Nachtrag:

Im „Heimaträtsel“ der lokalen „Volksstimme“ kann die Leserschaft am 2. September 2018 erfahren, nur wenige Bilderrätselfreunde hätten die „Kötschauer Mühle“ erkannt. Der Redakteur berichtet in dem Zusammenhang, diese sei 1990 ein Treffpunkt von Jugendlichen, welche „von Rechten, Skins und anderen Gruppen angefeindet“ würden, gewesen. Am 2. Oktober 1990 sei der „Kampf der rivalisierenden Jugendgruppen“ eskaliert. Der damalige Oberlöschmeister Semtner wird in der „Volksstimme“ zitiert: „Es wurde jedoch nicht erwähnt, dass am Einsatzort auch Molotowcocktails gefunden wurden“. Offenbar ein Indiz der Mitschuld: „Es bleibt also noch immer offen, ob das Feuer nicht doch vorsätzlich gelegt wurde. Außerdem wurden Gegenstände, die als Schlagwaffen hätten benutzt werden können, gefunden.

Am 9. Oktober 1990 wurde zu einer Bürger­versammlung ins Rathaus geladen: „Man wollte mehr Toleranz, mehr voneinander erfahren, Sprachlosigkeit überwinden, eben den gefundenen Gesprächsfaden nicht wieder abreißen lassen.“ Ob die zu überwindende „Sprachlosigkeit“ einer Verurteilung der angreifenden Neonazis und einer Solidarität mit den Schwerverletzten im Weg stand, war nicht zu erfahren.

Leserbrief, 26. Oktober 1990

"Hallo,
wir haben Euren Brief erhalten und wollen auch gleich etwas über die Situation in diesem rechten Nest schreiben. Zerbst ist eine Stadt in der es von Möchtegern-Nazis nur so wimmelt. Wir, das sind ungefähr 20 Leute zwischen 13 und 18 Jahre, haben uns vor einem halben Jahr zusammengeschlossen, weil es auf den Straßen zu gefährlich wurde. Zu unserer Gruppe gehören Waves, Punks und Normalos. Die Hälfte sind Mädchen. Es gab des öfteren Zusammenstöße zwischen uns und den Rechten. Dabei versuchten diese Schweine ganz besonders Leute von uns zu erwischen, also die „Köpfe“ unserer Gruppe. Das ging soweit, daß wir nur noch mit Mollies durch die Stadt liefen. In der letzten Zeit versuchte auch die Polizei uns irgendwelche Dinge anzuhängen, so daß wir von allen Seiten bedrängt wurden. Uns kam dann der Gedanke, ein Haus zu besetzen. Wir fanden auch ein gut erhaltenes leeres Haus, machten es sauber und richteten uns dort gut ein. Weil wir auf Ärger gefaßt waren, verbarrikadierten wir den untersten Stock. Daß das nicht so gut geschah merkten wir beim ersten Angriff. Sie konnten ins Haus hineinkommen, aber nicht weiter, weil wir uns ziemlich verbissen verteidigten. Nachdem wir einige von ihnen verletzt hatten, zogen sie sich zurück. Es kamen dann noch mehr Angriffe, beim vorletzten waren nur vier Leute von uns im Haus und die anderen waren über 80. Deswegen mußten wir uns zurückziehen. Die Rechten schlugen dann alles auseinander. Danach verbarrikadierten wir den ersten Stock total, so daß niemand mehr eindringen konnte außer wir. Auf den 2. und 3. Oktober hatten wir uns ganz besonders vorbereitet. Es sollte ein Angriff von 100 Fascho-Glatzen und anderen Rechten erfolgen. Auch gab es noch andere Vorzeichen: Sich häufende Angriffe auf unsere Leute und andere. Am 2. Oktober dann trafen wir uns alle im Haus. Wir hatten ausreichend viele Mollies und andere Verteidigungswaffen wie Steine, Stangen. Bis gegen ca. 22.00 Uhr verlief alles einigermaßen ruhig. Außer einigen kleinen Störversuchen gab es keinen Ärger. Danach kam eine Gruppe von 200-250 Leuten auf das Haus zu. Mit Sprüchen wie „Sieg Heil“, „Oi Oi Oi“, „Steckt die roten Schweine an“ und und und... Sie begannen dann mit dem Abbrennen von Feuerwerkskörpern, warfen Steine und Mollies. Wir antworteten mit Steinen, Mollies und selbstgebauten Knallern. Es gab auf beiden Seiten Verletzte, zum Teil erhebliche Körperschäden. Als sie um 22.45 Uhr es immer noch nicht geschafft hatten, gelang es drei Rechten im Erdgeschoß in einem Hohlraum einzudringen und dort mit Hilfe von Sprit ein Feuer zu legen. Dieses Feuer konnte schnell übergreifen bis in den letzten Stock. Wir mußten uns auf das Dach zurückziehen, aber selbst dort kämpften wir noch weiter mit Steinen und Mollies und konnten doch, weil die Nazis unvorsichtig wurden, einige vor allem durch Mollies verletzen. Wir hatten, weil doch noch immer keine Sirene zu hören war, uns darauf vorbereitet dort oben zu verbrennen. Wir hatten schon Rasierklingen verteilt, damit wir nicht bei vollem Bewußtsein verbrennen mußten. Es war nur noch eine Frage von Minuten bis unser Platz vom Feuer erfaßt wurde. Doch dann hörten wir die Sirene. Die Feuerwehr kam und beim Springen vom Haus verletzten sich 5 unserer Leute so schwer, so daß sie sofort ins Krankenhaus kamen. Das Haus ist innen total verbrannt. Die Polizei hatte die ganze Zeit aus Entfernung zugeguckt und die Hilfe verweigert. So, jetzt kennt Ihr unsere Situation
."