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M. Der Sohn des Jahrhunderts

Antonio Scurati

Über historische Epochen und Ereignisse lässt sich nicht nur durch die Lektüre geschichts- oder populärwissenschaftlicher Werke einiges erfahren, sondern auch über Romane, deren Autor_innen ihren Stoff auf einer umfassenden Quellenrecherche aufgebaut haben. So verarbeitete das Autor_innenkollektiv Luther Blisset/Wu Ming die Bauernkriege oder etwa jüngst die französische Revolution, und nimmt dabei die „Perspektive des gemeinen Volkes [und] der rebellierenden Frauen“ ein. Auch Marge Piercys unbedingt zu empfehlender Klassiker „Menschen im Krieg“ erzählt die Alltagsgeschichte verschiedener Menschen ganz unterschiedlicher Länder während des Zweiten Weltkrieges und stützt sich dabei auf eine jahrelange Quellenrecherche.

Mit „M. Der Sohn des Jahrhunderts“ er­schien im Frühjahr nun der erste Teil einer Trilogie über Benito Mussolini und den italienischen Faschismus auch auf deutsch. Der dokumentarische Roman des italienischen Medienwissenschaftlers Antonio Scurati stützt sich ebenfalls auf eine intensive Quellenrecherche, „sämtliche Personen, Dialoge und Reden sind histo­risch belegt und/oder durch mehr als eine Quelle bezeugt“, so der Einband des Buches. „M“ handelt nicht von Alltagsgeschichte, sondern schildert die Ereignisse zwischen März 1919, der Gründung der Kampfbünde durch Mussolini in Mailand, und Januar 1925, dem Tag einer wegweisenden Rede Mussolinis im Parlament, die die faschistische Diktatur einleitete. Dabei nimmt M immer wieder die Perspektive der faschistischen Akteure ein.

Und genau hier liegt auch die Schwachstelle des Buches, das sich nicht so recht vom dokumentarischen Stil lösen mag. Vielfach holpert die Erzählperspektive, faschistische Allmachtsphantasien und vulgäre Sprache, verfasst aus auktorialer Perspektive, wechseln sich innerhalb eines Kapitels ab mit deskriptiven Passagen, eine Zusammenstellung, die den Lesenden mitunter etwas orientierungslos zurücklässt. Insbesondere der erste Teil des Buches reiht verschiedene Ereignisse chronologisch aneinander – von der Besetzung der Stadt Fiume, über Zusammenkünfte Mussolinis mit seiner Geliebten bis hin zu brutalen Überfällen der Faschisten auf politische Gegner.

Die dokumentarische Erzählweise macht zwar schlaglichtartig die historische Entwicklung und zentralen Begebenheiten ebenso wie das Agieren der einzelnen Akteursgruppen deutlich. Allerdings gelingt es dem Autor nicht, ein zusammenhängendes literarisches Narrativ zu entwickeln. Etwas mehr Mut zur narrativen Fiktion und literarischen Ausgestaltung und Charakterisierung der Protagonisten hätte dem Buch gut getan. Dennoch lohnt die mitunter etwas zähe Lektüre des preisgekrönten 800 Seiten-Werkes, das in Italien mehrere Monate lang auf den Bestsellerlisten stand. Mussolinis Aufstieg zur Macht mithilfe verschiedener Verbündeter und die faschistische Doppelstrategie (Hans Woller), bestehend aus ungezügelter Gewalt der faschistischen Squadren einerseits und dem parlamentarischen und beschwichtigenden Agieren Mussolinis andererseits werden eindrucksvoll geschildert. Trotz der Gewaltexzesse der Kampfbünde gelang es den Faschisten schließlich, sich als Ordnungsmacht gegen die Kommunisten zu inszenieren. Ergänzt werden die einzelnen Kapitel durch Zitate der zentralen Akteure, etwa aus der von Mussolini gegründeten Zeitung Il Popolo D‘Italia oder auch aus historischen Dokumenten oder Parlamentsreden. Im Anhang des Buches findet sich ein hilfreicher Personenindex, der einen kurzen biografischen Überblick über die 72 Protagonisten des Buches bietet. Wer ein literarisches Meisterwerk erwartet, wird von der Lektüre enttäuscht sein. Als historische Dokumentation und Einblick in das frühfaschistische Milieu kann das Buch hingegen uneingeschränkt empfohlen werden.•

Antonio Scurati
M. Der Sohn des Jahrhunderts
Klett-Cotta, Stuttgart 2020
829 Seiten
ISBN: 978-3-608-98567-2
32 Euro