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Lesbos: Solidarität in Zeiten rassistischer Mobilisierung und Corona-Pandemie

Ilias Pistikos (dystopiancommune.wordpress.com)
Symbolbild Tim Lüddemann; flickr.com; CC BY-NC-SA 2.0

*StayatHome

Am 14. März 2020 - einen Tag nach der Ankündigung der Regierung, den Großteil des Marktes mitsamt der Restaurants, Bars usw. zu schließen und der Empfehlung zum #StayatHome - fanden in Mitilini (der Hauptstadt der Insel Lesbos) zwei antifaschistische Demonstrationen statt, die die Politik der Gefangenenlager für Geflüchtete und deren „Ghettoisierung“ auf der Insel scharf angriffen. Wie zu erwarten, wurden diese Demonstrationen von der gesamten politischen Bandbreite des konservativen, patriotischen/nationalistischen, aber auch ängstlichen Spektrums scharf kritisiert. Doch gab es auch Kritik von „Genoss_innen des Kampfes“, die die Demonstrationen ohne das Coronavirus-Problem unterstützt hätten. Die folgenden Gedanken richten sich an sie.

Kritik kam aus zwei Richtungen. Zum einen wurde angesichts der realen Gefahr, die von der Ausbreitung des Coronavirus ausgeht, und der durchaus verständlichen Notwendigkeit, diese einzudämmen, die soziale Verantwortung der Menschen in Frage gestellt, die an den Demonstrationen teilnahmen. Zum anderen wurden mögliche negative Folgen für die antifaschistische Bewegung befürchtet. Das Konzept von #StayatHome basiert auf nachvollziehbaren Bedürfnissen. Die kritischen Argumente im Umgang mit dem Coronavirus waren ernst zu nehmen und wurden diskutiert. Der folgende Text soll daher nicht die kritischen Argumente widerlegen, sondern versucht, diese zu vervollständigen und um einige besonderen Aspekte der Zustände auf der Insel Lesbos zu ergänzen.

#StayatMoria

Der erste - und bisher einzige - Fall von Coronavirus in Plomari (einer kleinen Stadt in der Nähe von Mitilini) trat zu einem Zeitpunkt auf, als mehr als ein Viertel der Inselbevölkerung im Aufnahme- und Identifizierungszentrum von Moria (RIC) innerhalb oder um das Lager herum lebte, gefangen in unmenschlichen und entwürdigenden Lebensbedingungen. Für sie klingen #StayatHome, Empfehlungen für hygienische Pflichten und die Vermeidung von Kontakten und Menschenansammlungen wie ein schlechter Witz.

Die Pogrome gegen Mitarbeiter_innen von NGOs, die vorausgingen (und weitergehen), haben zur Aussetzung eines Großteils der humanitären Aktivitäten für Geflüchtete geführt. Unabhängig davon, wie wir uns in Bezug auf die biopolitische und wirtschaftliche Rolle der humanitären Industrie positionieren, hatte diese spezifische Entwicklung Auswirkungen auf die - ohnehin schon unzureichende - Deckung der Grundbedürfnisse dieser Menschen.

Der 1. März war aus zwei Gründen ein richtungsweisendes Datum. Zum einen wurde das Recht auf Asyl für die Menschen, die ab dem 1. März ins Land kommen, aufgehoben. Zum anderen wurde bei einem Treffen eines Abgeordneten der „Neuen Demokratie“ (Regierungspartei), des Regionalgouverneurs, des Bürgermeisters von Mitilini und des Gemeindevorstehers des Dorfes Moria die Trennung der beiden Gemeinden (West-Lesbos und Mitillini) der Insel beschlossen. An den Gemeindegrenzen wurden Kontrollpunkte von Milizen eingerichtet, um damit den Transport von Personen von den Ufern der Gemeinde West-Lesbos (an denen sie ankamen) in die Gemeinde Mitilini zu verhindern (das Aufnahmezentrum von Moria befindet sich in der Gemeinde Mitilini). Vorausgegangen war eine Brandstiftung im Camp Stage II (Transit Camp in Skalia Sikamineas) in Skamia, wo Neuankömmlinge übernachten konnten, bis sie nach Moria transportiert wurden. Diese Entwicklungen führten dazu, dass der Transport von Personen, die die Gemeinde West-Lesbos erreicht hatten, zum RIC von Moria komplett eingestellt wurde. Alle Menschen, die nach dem 1. März in die Gemeinde Mitilini kamen, mussten unter einem eigentümlichen Haftregime im Hafen oder auf einem Transportschiff bleiben, während diejenigen, die in die Gemeinde West-Lesbos kamen, in verstreuten Gruppen unter restriktiver Aufsicht von Polizei- oder Küstenwache, (manchmal sogar mit der Präsenz von Frontex) im Freien lebten.

In einigen wenigen Fällen wurde es Aktivist_innen gestattet, mit den Neuankömmlingen in Kontakt zu treten. MitarbeiterInnen und NGO-Freiwilligen ist dies, mit Ausnahme des UNHCR (das UNHCR ist keine NGO) untersagt. Die mangelnde Betreuung und Gefährdung dieser Menschen ist offensichtlich: Es wurden nur wenige Zelte aufgestellt, sodass viele draußen in der Kälte schlafen müssen. Ihre Lebensmittelversorgung ist unorganisiert, es gibt keine Toiletten, keinen Strom und keine medizinische Grundversorgung. Wie leicht ist es, sich im #StayatHome aufzuhalten, wenn man dieses Massenelend sieht? Unter diesen menschenunwürdigen Bedingungen fällt eine gehorsame Reaktion auf die Forderung #StayatHome immer schwerer, das Dilemma gewinnt eine erfahrbare Intensität. Der Schutz der öffentlichen Gesundheit kann unter diesen Umständen eben nicht mehr so einfach mit der Forderung nach der sozialen Verantwortung des Einzelnen, zu Hause zu bleiben und auf die staatlichen Maßnahmen zur Unterstützung des öffentlichen Gesundheitssystems zu hoffen, begründet werden.

Die Entscheidung für die Demonstrationen wurde auf der Grundlage eben dieses Widerspruchs zwischen der nachvollziehbaren Empfehlung an #StayatHome und des Massenelends in #StayatMoria (#WeHaveNoHome) getroffen. Und diese schwierige Entscheidung wurde nicht von sozial unverantwortlichen Menschen getroffen, sondern von Menschen, die diesen Widerspruch erleben.

~ StayatLesbos ~

Die rasanten Entwicklungen und die erstickende Medienatmosphäre haben es bisher nicht erlaubt, aufbereitete Informationen über die Geschehnisse auf den Inseln an den Rest Griechenlands weiterzugeben. Bis 2015 herrschte auf Lesbos das staatliche Dogma der „Verhinderung illegaler Einwanderer“, während auf der Straße die antifaschistische Dynamik der Solidarität mit den Geflüchteten dominierte (es gab keinen öffentlichen Raum für organisierte extrem rechte Aktivitäten).

Von 2015 bis Mitte 2019 dominierte das Dogma der „Rettung von Flüchtlingen“. In dieser vierjährigen „Lesbos der Solidarität“ genannten Periode, nahmen die Solidaritätsaktivitäten immer professionellere Züge an. Gleichzeitig kam es zu einer Konkurrenz zwischen der lokalen Tourismusindustrie und der humanitären Industrie, die mit intensiven Veränderungen in der Wirtschaftsgeographie der Insel einhergingen und das Sicherheitsgefühl der Anwohner_innen negativ beeinflussten. Was auch immer das Dogma der „Rettung von Flüchtlingen“ symbolisiert, wurde gewaltsam zur Zielscheibe gemacht (Brandstiftung in der Schule der „Stage II“ und in der Schule „Eine glückliche Familie“, Angriffe auf das Rettungsboot Mare Liberum, gezielte Angriffe auf Aktivist_innen, Pogrome gegen Arbeiter_innen und NGO-Freiwillige, gezielte Angriffe auf Häuser, Einstellung des Betriebs der rettenden NGO in Skala Skamias „Lighthouse“, Schikanierung von Journalist_innen und des Koordinators des UNHCR, Milizen, die den Personentransport behindern, usw.).

Der oben beschriebene Dogmenwechsel und die gut vorbereitete Solidaritätsdynamik im öffentlichen Raum dominierten in den Medien und auf territorialer Ebene. Umgekehrt erleben wir heute eine rechte Dominanz im öffentlichen Raum. Die Stimmen, die in Zeiten des „Lesbos der Solidarität“ unterdrückt wurden, treten nun in den Vordergrund, manchmal wütend und manchmal organisiert, aber auf jeden Fall mit einem antisozialen Gesicht. Aber das, was sich heute kollektiv Bahn bricht, ist nicht neu, sondern war bereits latent vorhanden, was z.B. das Pogrom auf dem Sapfous-Platz im Frühjahr 2018 beweist.1

Die Gefahr dabei liegt nicht allein in dem rasanten Anstieg organisierter neofaschistischer Aktivitäten durch zumeist Golden Dawn-Mitglieder und Anhänger und in deren Unterstützung durch die lokale Regierung. Die Gefahr liegt vielmehr darin, dass es die rasante Ausbreitung der organisierten neofaschistischen Gewalt für uns momentan schwierig macht, sie zu dokumentieren und damit wahrnehmbar zu machen und sie symbolisch von der breiteren lokalen Gesellschaft abzugrenzen. Von einem vereinten Massenwiderstand gegen die Ankunft der Bereitschaftspolizei für den Betrieb eines neuen Gefangenenlagers mussten wir innerhalb weniger Tage zu einer Verteidigung gegen die Intensivierung neofaschistischer Aktivitäten übergehen. Gerade als wir die Heterogenität mit einer Massenreaktion übertönten, sahen wir uns schon am nächsten Tag mit neofaschistischen Gruppen und Milizblockaden konfrontiert, während der größte Teil der Menschen, die sich gegen die Bereitschaftspolizei gestellt hatten, in ihre Dörfer zurückkehrte.

Die Zeiten der Jahre 2011 und 2012, in denen es gelang, die Verbindungen neofaschistischer Aktivitäten mit dem Neonazismus aufzuzeigen und damit bloßzustellen, sind vorbei. Nun verwischen die verschiedenen Manifestationen des Patriotismus das ideologische Feld noch mehr und erschweren die Abgrenzung des organisierten Neofaschismus von der breiteren Gesellschaft zusätzlich. Wir durchleben eine Periode extrem rechten Aufbruchs mit der möglichen Auswirkung, dass er aus dem Grenzgebiet ausbrechen und Griechenland in seiner Gesamtheit betreffen könnte.

Inmitten eines öffentlichen, digitalen und territorialen Raums, der von extrem rechten Aktivitäten übertönt wird, in dem die dominierenden Massenmedien fast vollständig von der Regierung kontrolliert werden, in dem nicht nur jeden Tag, sondern buchstäblich stündlich trostlose Zwischenfälle ausbrechen, gab es ein starkes Bedürfnis nach kollektivem Ausdruck davon, dass Lesbos nicht von Neofaschisten überrannt wurde.

Die Demonstrationen waren die Mittel des kollektiven Ausdrucks der Solidarität der Einwohner_innen, aber auch der Versuch von Antifaschist_innen, aus dieser erstickenden und handlungsunfähigen Situation herauszukommen, zu atmen, und ihre Solidarität und Handlungsstärke zu bekunden. Das gewaltsame Aufkommen der extrem rechten Dynamik hatte die antifaschistische Bewegung und ihre kollektiven Prozesse geschwächt vorgefunden. Die zwei Wochen der Vorbereitung der Demonstrationen waren Wochen intensiver antifaschistischer Arbeit, der Versuch, so viel verlorenes Terrain wie möglich zurückzugewinnen.

(Der Text wurde gekürzt und ist voller Länge erschienen unter: https://dystopiancommune.wordpress.com/2020/05/12/stayathome-or-stayatmoria/)