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Jock Palfreeman: Politisches Sonderrecht in Bulgarien?

Einleitung

Der Antifaschist Jock Palfreeman ist nach dem Gesetz frei, er bleibt jedoch weiterhin in Bulgarien eingesperrt und sein Fall ist nach erfolgreichem politischen Druck rechter Parteien nun wieder juristisch in der Schwebe.

Bild: Screenshot von YouTube/Hristina Vardeva: Jock Palfreeman about Bulgarian Prisons

Seit einem Jahrzehnt verfolgt die australische Autorin Belinda Hawkins als Journalistin (ABC TV) und Autorin („Every Parent‘s Nightmare“) den Fall von Jock Pal­free­man. Der 32-jährige Australier wurde im Jahr 2009 in Bulgarien des Mordes für schuldig befunden und zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt. Palfreeman betonte stets, in Notwehr gehandelt zu haben, als er einen Roma beschützen wollte, der von einer Gruppe Rassisten der „Levski Ultras“ angegriffen worden war1 . Am 19. September 2019, nach zwölf Jahren Haft, gewährten ihm drei Berufungsrichter endlich Bewährung. Nach bulgarischem Recht war diese Entscheidung unanfechtbar und wir freuten uns mit Jock Pal­free­man. Aber die Freude währte nur kurz und Palfreeman wurde wieder eingesperrt, nachdem extrem rechte Politiker gegen seine Entlassung vorgingen. Wir fassen die Berichterstattung zusammen.

Anfang Oktober 2019 wurde bekannt, dass neues Filmmaterial die Argumentation der Selbstverteidigung belegen würde. Das besagte Video war zwar schon einmal während des Prozesses auf einem sehr kleinen Laptop gezeigt worden. Dort hatte Jock Pal­free­man in Handschellen und Ketten jedoch keine Gelegenheit gehabt, die Aufnahmen sachgemäß zu beurteilen. Die Anklage hatte sich vor Gericht auf die Argumentation gestützt, es habe keine vorangegangene Gewalt gegeben. Das neu gesichtete Filmmaterial zeigt hingegen eine Gruppe von Männern, darunter auch das spätere Opfer, die mindestens einen, möglicherweise sogar zwei andere Männer durch das Zentrum der Innenstadt von Sofia jagt. Diese Männer sind Roma, die von der Gruppe bedrängt und misshandelt wurden. Palfreeman hatte immer ausgesagt, er sei in den Kampf verwickelt worden, als er versuchte, schützend ins Geschehen einzugreifen. Die nun freigegebene Aufnahme soll zeigen, wie die Angreifer Gegenstände auf Palfreeman schleudern, ihn zu Boden werfen und ihn umringen, als er versucht, davonzulaufen.

Trotz dieser neuen Erkenntnisse und der vorangegangenen positiven Entscheidung über die Bewährung, befindet sich Jock bis zu einem nachgeschobenen - eigentlich irregulären – Berufungsverfahren weiterhin in „Einwanderungshaft“ im Gefangenenlager Busmantsi. Dort sollte er eigentlich nur auf einen aktuellen Reisepass warten, denn auch das Stadtgericht in Sofia hatte zuvor entschieden, dass das Ausreiseverbot aufgehoben ist. Doch der bulgarische Generalstaatsanwalt wandte sich gleich nach der Entscheidung des Berufungsgerichts an das Oberste Kassationsgericht mit dem Antrag, die Bewährung widerrufen zu lassen. Und zwar ohne jede Rechtsgrundlage, denn nach bulgarischem Recht können Entscheidungen des Berufungsgerichts, das Palfreeman seine Freiheit gewährt hatte, nicht erneut verhandelt werden. Das ist beispiellos, denn das bulgarische Parlament erwägt dafür nun eigens eine Änderung der Strafprozessordnung, die für endgültige Bewährungsurteile nunmehr eine außerordentliche Überprüfungsmöglichkeit vorsehen soll.

Eine rechte Kampagne

Begleitet wurde die positive Bewährungsentscheidung von rechten Protesten, die extrem rechten Parteien nutzten den Fall als Wahlkampfthema. Inmitten einer fieberhaften Debatte in den lokalen Medien über „Recht und Ordnung“ wurde die erneute Anhörung vorverlegt. Das Gericht erklärte, es habe die außergewöhnliche öffentliche Reaktion sowie die in den Medien verbreitete Information, die ausstehende Anhörung habe Palfreeman an der Ausreise gehindert, mit zu berücksichtigen gehabt. Die australischen Behörden hatten zwar drei Tage später einen Notfallpass ausgestellt, da war der oberste Kassationsgerichtshof aber schon vom Generalstaatsanwalt „gebeten“ worden, die Bewährung wieder aufzuheben.

Der Oberste Justizrat reagierte wie gewünscht. Als Reaktion verfasste die bulgarische Richterunion eine Rüge, die von fast 300 Richter_innen unterzeichnet wurde und den Verlust der gerichtlichen Unabhängigkeit verurteilt. Sie beklagen, bulgarische Richter_innen würden stark unter Druck geraten, wenn sie nicht in Übereinstimmung mit der öffentlichen Meinung und dem Willen der politischen Parteien und deren politischer Führung handeln. Auch der Leiter des Obersten Kassationsgerichtshofs kritisierte die Haltung des Obersten Justizrats in diesem Fall. Das zuständige Gericht hat inzwischen zwar getagt, sich seine Entscheidung aber für einen späteren Zeitpunkt - wahrscheinlich erst in mehreren Monaten - vorbehalten.

Unterstützer unter Druck

In der Haft gründete Jock die erste Gefangenengewerkschaft Bulgariens und brachte mit Hilfe von Menschenrechtsanwält_innen die Fälle anderer Gefangener vor bulgarische und europäische Gerichte. Einer der führenden bulgarischen Menschenrechtsanwälte berichtete, seine Unterstützung für Palfreeman habe einen Vorstoß der Regierung zur „Deregistrierung“ seiner lokalen NGO „Bulgaria Helsinki Committee“ (BHC) zur Folge gehabt. Die extrem rechte "Българско национално движение" ("Bulgarische Nationale Bewegung“), eine von zwei Parteien, die sich die Macht in der Regierung teilen, hatte den Generalstaatsanwalt schriftlich dazu aufgefordert, ein Verbot der BHC zu erwirken. Als Begründung wurde angeführt, die Vertretungen von Mandant_innen vor nationalen Gerichten sowie vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte würden die nationale Justiz beeinträchtigen.

Die extrem rechte Partei "Партия Атака" („Partija Ataka“) demonstrierte ebenfalls vor dem Justizpalast in Sofia. Die „Partija Ataka“ (übersetzt „Partei Angriff“) stand mit Schildern mit der Aufschrift „Helsinki-Komitee - Strafverfolgung nach Artikel 105 wegen Spionage zugunsten eines ausländischen Staates“ vor dem Gericht, das zu Jock Palfreeman tagte. Der Name der Partei ist wohlmöglich für manche Anhänger Programm: Im Jahr 2016 wurde der Präsident des BHC in Sofia körperlich attackiert, die Ermittlungen der Polizei wurden schnell eingestellt. Anfang Oktober berichtete er gegenüber „Human Rights Watch“, seit dem Amtsantritt der Regierungskoalition im Jahr 2018 habe man ihn und seine Organisation systematisch ins Visier genommen. Bei der Demonstration in Sofia forderte „Partija Ataka“ die erneute Inhaftierung Palfreemans, während ihr Führer Волен Сидеров (Volen Siderov) die Gelegenheit nutzte, um seine Kandidatur für das Amt des Bürgermeisters anzukündigen.

Der ehemalige Abgeordnete der bulgarischen "Sozialistischen Partei" Hristo Monov, dessen Sohn durch Palfreeman ums Leben kam, forderte auf der Demonstration die Entlassung des Vorsitzenden Berufungsrichters, der die positive Bewährungsentscheidung zu Gunsten von Jock Palfreeman gefällt hatte.

Reaktion in Australien und USA

Ein Versetzungsantrag in die Haft nach Australien aus dem Jahr 2013 wurde abgelehnt, da noch eine Entschädigungszahlung in Höhe von 300.000 Euro an die Familie des Opfers aussteht, zu der Jock gerichtlich verurteilt wurde. Während seiner Gefangenschaft gründete Jock im Jahr 2013 die „Bulgarian Prisoners‘ Rehabilitation Association“ (BPRA). Während die positive Entscheidung der Berufungsgerichte über Jock Palfreemans Bewährung offiziell mit seinem guten Sozialverhalten begründet wurde, vermutet der australische Journalist Andy Fleming, dass sein Aktivismus und seine erfolgreiche Vernetzungsarbeit im Kampf für die Rechte von Gefangenen eine weitere mögliche Ursache für seine geplante Entlassung aus Bulgarien gewesen sein könnte.

Der in Melbourne lebende Autor ist ein langjähriger Beobachter der extremen Rechten in Australien und international. Er schildert auch, dass der ehemalige australische Premierminister Tony Abbott die Gelegenheit einer Reise nach Ungarn nutzte, um seine politische Solidarität mit dem ungarischen Premierminister Viktor Orban zum Ausdruck zu bringen und ihm beizupflichten, dass Europa von Ausländern „überflutet“ werde. Dies ist ein Echo auf den Begriff „The Great Replacement“, der von dem australischen neonazistischen Christchurch-Attentäter bekannt gemacht wurde, aber auch in der Propaganda von extremen Rechten wie Stefan Molyneux und Lauren Southern während ihrer Australientour im Jahr 2018 weiterverbreitet wurde. Eine Unterstützungs-Petition an den australischen Premierminister wird angesichts der früheren Weigerung von Scott Morrison, sich in die Angelegenheit hineinziehen zu lassen, kaum Einfluss haben.

Solidarisch konkret wurde hingegen die Online-Fundraising-Plattform des „International Anti-Fascist Defence Fund“ in den USA, die „einen Betrag bereitstellen konnten, um sicherzustellen, dass um ihn gesorgt ist“. Eigenangaben zufolge haben sie über Internet-Crowdfunding in den letzten vier Jahren mehr als 75.000 Dollar an über 400 Antifaschist_innen und Antirassist_innen in achtzehn Ländern gespendet.

  • 1Wir berichteten ausführlich über den Fall im AIB Nr. 87 und Nr. 104