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Der Weg zur Anerkennung bislang ignorierter NS-Opfergruppen

Dagmar Lieske
Einleitung

Vor nunmehr 75 Jahren wurde das nationalsozialistische Regime von den Alliierten zerschlagen, die Konzentrationslager befreit. Kaum zu glauben, dass es immer noch Menschen gibt, deren Verfolgungsschicksale bislang keine Aner­kennung gefunden haben, geschweige denn in der offiziellen Erinnerungskultur präsent sind. Dies betrifft insbesondere die im Nationalsozialismus von Kriminalpolizei, Justiz, Gestapo und Wohlfahrtsbehörden als „Berufsverbrecher“ und „Asoziale“ Stigmatisierten. Sie konnten bislang als ignorierte Opfergruppen gelten – denn sie wurden nicht einfach „vergessen“, sondern bewusst aus der Gedenkkultur sowie der Entschädigungspraxis ausgeschlossen.1

  • 1Vgl dazu Dagmar Lieske, „Berufsverbrecher“ Zur wissenschaftlichen und politischen Auseinandersetzung mit einer „unbequemen“ Opfergruppe, in: Stephanie Bohra (Hrsg.), Institutionen des nationalsozialistischen Verfolgungsterrors in Brandenburg. Opfer – Täter – Folgen.

Auch innerhalb der historischen Forschung fanden sie lange keine Berücksichtigung. So erklärte der Sozialwissenschaftler Wolfgang Ayaß noch 2009 die „Kriminellen“ zur „bislang am schlechtesten erforschte[n] Häftlingsgruppe“. Inzwischen hat sich jedoch einiges getan: In den vergangenen Jahren erschienen zahlreiche Forschungsbeiträge, die sich explizit den „Berufsverbrechern“ als Opfergruppe des nationalsozialistischen Regimes widmen.1

Nicht nur die Forschungslandschaft hat sich dem Thema angenommen: Auch auf erinnerungspolitischer Ebene ist einiges in Bewegung geraten: So folgte der Deutsche Bundestag am 13. Februar 2020 einer Beschlussempfehlung des Kulturausschusses2 und sprach sich für die längst überfällige Anerkennung der „Berufsverbrecher“ und „Asozialen“ als NS-Opfer aus. Diesem Ergebnis gingen mehrere Jahre mitunter mühseliger Kampagnenarbeit voraus, bis schließlich zwischen Februar und April 2019 die Fraktionen der Grünen und der FDP jeweils einen entsprechenden Antrag im Kulturausschuss des Bundestages stellten. Auch die CDU/CSU und SPD sowie die Partei Die LINKE reichten eigene Anträge ein. Alle forderten im Kern die Anerkennung dieser Verfolgtengruppen, allerdings mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Im Januar 2020 legte der Kulturausschuss schließlich eine Beschlussempfehlung und Bericht vor, indem die Mehrheit der Abgeordneten dem Antrag der CDU/CSU und SPD folgte, dem der Bundestag schließlich am 13. Februar 2020 zustimmte. Dieser sieht u. a. die Erarbeitung einer Ausstellung zu dem Thema vor.

Anerkennungsinitiative

Maßgeblicher Motor und Initiator hinter der Kampagne, die dieser Entscheidung des Bundestages vorausging, war Frank Nonnenmacher. Nonnenmacher, Sozialwissenschaftler und emeritierter Professor für Didaktik, hatte als junger Dozent Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre seinen Onkel Ernst mehrfach zu dessen Lebensgeschichte befragt. Ernst Nonnenmacher kam früh mit dem kleinkriminellen Milieu in Kontakt. Zeitweise betätigte er sich auch politisch in kommunistischen Kreisen. 1941 wurde er als „Asozialer“ und „Berufsverbrecher“ zunächst in das KZ Flossenbürg und später in das KZ Sachsenhausen in Oranienburg verbracht. Mehrere Jahrzehnte später griff Frank die Geschichte von Ernst auf. Frank Nonnenmacher war damit der erste Angehörige der zweiten Generation, der seine Familiengeschichte literarisch und öffentlich verarbeitete und vor diesem Hintergrund eine Beschäftigung mit diesen Opfergruppen forderte.

Ende 2017 startete die Kampagne auch „Berufsverbrecher“ und „Asoziale“ als  Verfolgte des NS anzuerkennen. Über „change org“ konnten neben weiteren Wissenschaftler*innen auch zahlreiche Politiker*innen, Künstler*innen, Prominente, Wissenschaftler*innen und weitere Interessierte als Unterstützer*innen gewonnen werden. Leider stieß die Kampagne aber auch auf Widerstand und Ablehnung: Insbesondere die nach wie vor populäre pauschale Annahme, die Mehrheit der als „Berufsverbrecher“ Verfolgten hätten in den Konzentrationslagern Gewalt an anderen KZ-Inhaftierten begangen, erwies sich als Problem.

Die Rolle der AfD

Die Gleichsetzung der als „Berufsverbrecher“ verfolgten Menschen mit dem Bild des „bösen Kapo“, der permanent andere Häftlinge verprügelt und sich mit der SS verbrüdert, dominierte lange die Darstellung dieser Gruppe – sowohl in der Erinnerungsliteratur als auch in den KZ-Gedenkstätten. Selbst in der wissenschaftlichen Literatur wurde dieses Narrativ aufgegriffen – so schrieb etwa Wolfgang Sofsky in seinem Standardwerk zum KZ-System von einem „Kampf Rot gegen Grün“. Diese Darstellung legt nahe, dass es sich hier nicht um Konflikte innerhalb einer kleinen (privilegierten) Schicht von KZ-Häftlingen handelte, sondern um Verhaltensweisen, die in dieser Lesart charakteristisch für gesamte Gruppen erscheinen.

Ausgerechnet die AfD, die z.T. offen mit Neonazis paktiert, bspw. indem sie diese als Mitarbeiter von Abgeordneten engagiert, hat während der Plenardebatte im Bundestag und im Kulturausschuss unter Rückgriff auf dieses Narrativ eine differenzierte Sichtweise auf die nationalsozialistische Herrschaft eingefordert. So erklärte Thomas Ehrhorn im April 2019, es sei „nicht möglich, allen sogenannten „Asozialen“ und „Berufsverbrecherneine Art Generalamnestie einzuräumen, sie zu Opfern zu erklären, weil ein Teil von ihnen eben durchaus auch Täter war.“ Diese Täter-Opfer Umkehr stieß indes in der Öffentlichkeit auf Kritik. Jens-­Christian Wagner, Leiter der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten und Leiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen, nannte die Äußerungen Ehrhorns „skandalös“. Dennoch beharrte die AfD bis zum Schluss auf dieser Position und begründete damit ihre Ablehnung gegenüber einer Anerkennung vor allem der als „Berufsverbrecher“ Verfolgten.

Die Strategie der AfD war in dem Prozess nicht, die Verbrechen der Nationalsozialisten zu leugnen, sondern vielmehr die Argumente der Initiator*innen aufzugreifen und auf ihre Weise umzuinterpretieren. Der jahrzehntelange Ausschluss der genannten NS-Opfergruppen wurde im Verhalten einzelner KZ-Häftlinge gesucht. Als Leumund wurden ferner Überlebendenverbände hinzugezogen, deren Verlautbarungen aus der Vergangenheit nicht kontextualisiert wurden. Die Tatsache, dass sich verschiedene Lagergemeinschaften in einem Brief an alle Fraktionen im Bundestag im Januar 2020 explizit für die Anerkennungsinitiative ausgesprochen haben, wurde von der AfD ign­oriert. Die AfD versuchte mit ihrer Argumentation für eine „Einzelfallprüfung“ die gesellschaftliche Skepsis gegenüber einer Auseinandersetzung mit Menschen, die eine kriminelle Laufbahn hinter sich hatten und für deren Anerkennung als NS-Opfer es jahrzehntelang keine Lobby gab, für sich zu nutzen. Insofern ist es durchaus erfreulich, dass sich am 13. Februar 2020 alle Fraktionen im Bundestag von der AfD abgrenzten und mehrfach betonten, niemand sei zu Recht im KZ gewesen.

Ausblick

Der Entwurf der CDU/CSU und SPD sei nicht weitreichend genug, kritisierte Brigitte Freihold, Abgeordnete im Kulturausschuss für die LINKE. Sie erklärte dazu, „Rechtsextremistische Gewalt gegen Obdachlose und Hartz IV-Empfänger“ werde „kaum im Zusammenhang mit den Nachwirkungen der nicht aufgearbeiteten NS-Stigmatisierung gesehen.“ Dies gelte es zu ändern. Tatsächlich gilt es nun, die Politiker*innen in ihre Pflicht zu nehmen. Gerade die Aufarbeitung der Verfolgung von „Asozialen“ und „Berufsverbrechern“ bietet die Möglichkeit, kritisch auf Kontinuitäten von Ausgrenzung und repressiver Kriminalpolitik zu blicken. So wäre danach zu fragen, wie schmal bisweilen der Grat zwischen einer bürgerlichen Existenz und dem Ausschluss aus der „Volksgemeinschaft“ sein konnte und auf welche Weise und in welchem Umfang verschiedene Behörden an der Vernichtung derjenigen beteiligt waren, die aus Sicht der Nationalsozialisten nicht (mehr) in das zunächst imaginierte und schließlich auch konstruierte Kollektiv passten. Gerade in Zeiten einer erstarkenden Rechten erscheint es wichtiger denn je, diese Mechanismen zu benennen und zu begreifen.
 

  • 1Julia Hörath, „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ in den Konzentrationslagern 1933 bis 1938, Göttingen 2017; Sylvia Köchl, „Das Bedürfnis nach gerechter Sühne“. Wege von „Berufsverbrecherinnen“ in das Konzentrationslager Ravensbrück, Wien 2016; Dagmar Lieske, Unbequeme Opfer, 2016; Sven Langhammer, Die reichsweite Verhaftungsaktion vom 9. März 1937 – eine Maßnahme zur „Säuberung des Volkskörpers“, in: Hallische Beiträge zur Zeitgeschichte 1 (2007), S. 55–77.
  • 2http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/168/1916826.pdf