Skip to main content

Der NSU-Komplex und der Münchener Prozess: „Aufklären und Einmischen"

NSU-Watch
Einleitung

Vorabdruck aus dem Buch „Aufklären und Einmischen – Der NSU-Komplex und der Münchener Prozess“

Foto: Christian Ditsch

Als wir uns am 11. Juli 2018 frühmorgens, um nicht zu sagen: nachts, auf den Weg Richtung Strafjustizzentrum machten, haben wir nicht mit einem Urteil gerechnet, dass das staatliche Aufklärungsversprechen, geschweige denn unsere eigenen Ansprüche an Aufklärung des NSU-Komplexes erfüllt. Wir haben nicht damit gerechnet, dass ein Urteil fällt, in dem der Betroffenenperspektive und der Nebenklage angemessen Raum gegeben wird. Denn zum einen hatten wir uns von vornherein keine umfassende Aufklärung vom Münchener NSU-Prozess erhofft. Zum anderen hatte der 6. Strafsenat des OLG München über fünf Jahre und 437 Verhandlungstage und insbesondere in der zweiten Hälfte des Prozesses recht deutlich gezeigt, dass er der von der Anklage vorgegebenen Linie auch im Urteil folgen würde.

Und doch waren wir wie viele andere an diesem letzten Tag des Prozesses enttäuscht. Enttäuschung machte sich bereits breit, als wir das Zelt vor dem Eingang des Gerichtsgebäudes erreichten. Einige Antifaschist*innen hatten sich bereits am Abend vorher angestellt, um sicher in den Saal zu gelangen und Neonazis die Plätze wegzunehmen. Bei unserer Ankunft stand nach kurzem Durchzählen jedoch bereits fest, dass es die ebenfalls bereits länger anwesende Gruppe von Neonazis fast vollständig in den Saal schaffen würde.

Und die Enttäuschung setzte sich fort beim Urteil, das Richter Götzl kurz nach Beginn des Prozesstages vorzulesen begann. Götzl wurde vor Beginn des Prozesses als harter Hund, als besonders verurteilungsfreudiger Richter beschrieben. Und tatsächlich verurteilte er alle Angeklagten, er verurteilte sie allerdings entgegen anderslautender Behauptungen keineswegs besonders hart. Die Sicherungsverwahrung – ein menschenrechtlich betrachtet ohnehin hochproblematisches Instrument – stand bei Zschäpe sowieso nie wirklich zur Debatte, auch wenn sich ganze Verhandlungstage um die Erörterung dieser Frage drehten. Und die Verurteilung Zschäpes als Mittäterin war ebenso erwartbar wie das daraus schlüssig folgende hohe Strafmaß. Eine lebenslängliche Freiheitsstrafe bei Feststellung der besonderen Schwere der Schuld ist angesichts von zehn über sieben Jahre hinweg als Teil einer terroristischen Gruppe verübten Mordtaten keineswegs überraschend. Ausgesprochen milde zeigte Götzl sich gegenüber den anderen Angeklagten, insbe­sondere bei André Eminger und Ralf Wohlleben.

Viel schwerer als die Strafzumessungen bei den einzelnen Angeklagten wiegt aber die mündliche Urteilsbegründung. Diese war ein einziger Versuch der Zementierung der Trio-These. Kein Wort der Anteilnahme in Richtung der Nebenkläger*innen, kein Wort über Rassismus oder die Ideologie der Täter*innen, kein Wort über den Verfassungsschutz findet sich in ihr. Dieses Urteil will ein Schlussstrich sein. Die anwesenden Neonazis, die sich auch noch über die sofortige Haftentlassung ihres Kameraden Eminger freuen konnten, haben diese Botschaft verstanden und dies durch ihren Jubel auch lautstark zum Ausdruck gebracht.

Für diejenigen von uns, die bei der Urteils­verkündung im Saal waren, war dieser letzte Tag des Münchener NSU-Prozesses also trotz der geringen Erwartungen zunächst ein niederschmetterndes Erlebnis. Als wir aus dem Gebäude traten, mussten wir mit ansehen, wie bayerische Bereitschaftspolizist*innen protestierende Antifaschist*innen gewaltsam vom Gerichtsvorplatz drängten. Besonders aber für viele der Nebenkläger*innen war die Urteilsverkündung eine Enttäuschung, wenn nicht ein Schlag ins Gesicht. Familie Kubaşık verließ noch während Götzl das Urteil herunterleierte den Saal. Elif Kubaşıks bitteres Fazit des Prozesses lautete: „Vielen Dank, Gericht. Dieses Urteil empfinde ich wie eine weitere Ohrfeige.“

Der Staatsräson bei der Arbeit zuschauen

Wir haben im Prozess sehr viel Zeit darauf verwendet, die – unzureichende – staatliche Aufarbeitung des NSU-Komplexes aus der Nähe zu beobachten, haben gewissermaßen der Staatsräson bei der Arbeit zugeschaut. An jedem Verhandlungstag haben wir im Gerichtssaal gesessen. Wir haben Protokolle verfasst, die anfangs den Verlauf des jeweiligen Prozesstages zumeist indirekt wiedergaben, später nah am Wortprotokoll waren. So wollten wir neben unserer analytischen Begleitung möglichst viele Fakten aus dem Prozessgeschehen möglichst zeitnah an die Öffentlichkeit bringen und allen außerhalb des Gerichtssaals eine Arbeitsgrundlage geben. Außerdem berichteten wir in den Verhandlungspausen per Twitter vom Prozessgeschehen. Auf der Tribüne des Saals A 101 mussten wir auch die „Ohnmacht des bloßen Beobachters aushalten“, wie Robert Andreasch seine Arbeit für NSU-Watch beschreibt: „Wenn ‚unten‘ Neonazi-Zeug*innen und Verfassungsschutzmitarbeit­e­r*in­nen logen, dass sich die Balken bogen, konnten wir nur dokumentieren, nicht eingreifen.“ (...)

Unsere bundesweite Vernetzung mit ihren Teilen in den Bundesländern, so dezentral wir auch waren, hat erheblich dazu beigetragen, dass wir durchhalten konnten. Das ist eine der zentralen Erkenntnisse der Arbeit in allen NSU-Watch-Strukturen: die Wichtigkeit einer verlässlichen Struktur, des regelmäßigen Austausches und der gemeinsamen analytischen Arbeit am Thema. Diese trotz einiger personeller und struktureller Veränderungen und auch Auseinandersetzungen vorhandene Kontinuität gewährte den Erfolg unserer Arbeit.

Erfolge und Probleme

Denn bei aller Ernüchterung, bei all den Enttäuschungen, die sich über die Jahre einstellten, war die Arbeit von NSU-Watch trotzdem erfolgreich. Wir haben am Ende eben doch nicht nur ohnmächtig dokumentiert, nicht nur zugeschaut. Wir haben immer klar gemacht, worum es uns bei der kritischen Begleitung der Aufklärung geht. Wir wollten nicht nur neue Informationen über den NSU-Komplex erfahren und diese über unsere Protokolle der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Wir wollten dem Geschehen nicht neutral beiwohnen. Als Antifaschist*innen standen und stehen wir stattdessen klar auf der Seite der Ange­hörigen und Überlebenden.

Unsere ständige Anwesenheit und der stetige Informationsfluss aus dem Gerichts­saal in die sozialen Netzwerke sollte einerseits andere Medienvertreter*innen unter Zugzwang setzen, den NSU-Prozess mit mehr Ressourcen zu begleiten, als sie es normalerweise getan hätten. Bei einigen Sitzungen von Untersuchungsausschüssen waren wir sogar die einzige anwesende kritische Öffentlichkeit. NSU-Watch Baden-­Württemberg formuliert das folgendermaßen: „Wir sind hier, wir schauen Euch auf die Finger, es ist uns nicht egal, was hier passiert.“ Andererseits sollten die Informationen, die wir sammelten, auch antifaschistisch und antirassistisch Aktiven bei der Arbeit helfen, es ging auch um eine Art Wissenstransfer. Mit diesem Anspruch haben wir berichtet und dokumentiert und Analysen erstellt. Wir haben, wenn dies gewünscht war, der Nebenklage zugearbeitet, ihr unser Wissen und unsere Archive zur Verfügung gestellt:

Klar war jedoch: Es brauchte immer auch kritische Interventionen. Mit einfachem Monitoring, Beobachtung und Protokollierung war es für uns nicht getan. Auch deswegen, weil wir als zivilgesellschaftliche und antifaschistische Initiative natürlich auch Akteur*innen im NSU-Komplex vor 2011 und danach sind.“ Unsere Pläne haben unterschiedlich gut funktioniert. Wir sind uns zum Beispiel nicht sicher, ob der Wissenstransfers zu Aktivist*innen in e nem ausreichenden Maß funktioniert hat. Sicher sind wir dagegen, dass wir gemeinsam mit anderen dafür gesorgt haben, dass sich das von der BAW gewünschte Narrativ über den NSU nicht einfach durchsetzen konnte. (...)

Es geht weiter

In jedem Fall verstehen wir NSU-Watch als eine Aufforderung an diejenigen, die in einem ähnlichen Bereich aktiv werden wollen. Eine Aufforderung, dem Staat auf die Finger zu schauen, ihn und die Gesellschaft durch Interventionen und Kampagnen unter Druck zu setzen und damit Aufklärung von rechtem Terror kritisch zu begleiten und voranzutreiben. Unsere eigene Arbeit weitete sich auch in den letzten Jahren über das Kernthema NSU hinaus aus. NSU-Watch Hessen begleitete den Prozess gegen John Ausonius, alias „Lasermann“ aus Schweden, als dieser 2018 in Frankfurt wegen des 1992 verübten Mordes an Blanka Zmigrod vor Gericht stand.

NSU-Watch NRW beobachtete den Prozess wegen des Anschlags auf den S-Bahnhof Wehrhahn in Düsseldorf im Jahr 2000. Seit 2019 widmet sich NSU-Watch NRW außerdem dem Untersuchungsausschuss zum Fall Ahmad A., einem syrischen Geflüchteten, der 2018 unter ungeklärten Umständen in einer Gefängniszelle verbrannte.

NSU-Watch Sachsen war bei fast allen sächsischen Rechtsterrorprozessen der letzten Jahre dabei und machte die dortigen Ereignisse einer größeren Öffentlichkeit zugänglich: Gegen die Gruppe „Oldschool Society“, „Gruppe Freital“ oder „Revolution Chemnitz“. (...)

Die Nebenklage, kritische Journalist*innen, engagierte Abgeordnete, Aktivist*innen, Antifaschist*innen, NSU-Watch – wir alle haben uns seit 2011 ein Wissen über den NSU-Komplex, über Neonazis, rechten Terror, Rassismus, die Polizei, den Verfassungsschutz und nicht zuletzt die deutsche Gesellschaft erarbeitet, das auch ein niederschmetterndes Urteil im NSU-­Prozess nicht zunichtemachen kann. Gegen den Versuch des Gerichts, um jeden Preis die Botschaft zu vermitteln, der NSU sei Geschichte, stellen wir die Ergebnisse der Hauptverhandlung, der Untersuchungsausschüsse und unserer eigenen Recherchen: Der NSU war und ist ein Netzwerk und kein isoliertes Trio.

Nebenklageanwalt Alexander Hoffmann stellte bei der Kundgebung am Tag der Urteilsverkündung vor dem Gerichtsgebäude richtig fest:
Ein deutsches Gericht hat sicherlich die Macht und die Möglichkeit darüber zu bestimmen, wie die Angeklagten die nächsten Jahre verbringen, ob jemand frei gesprochen wird oder nicht. Aber ein deutsches Gericht hat nicht die Deutungs­hoheit über das, was in den letzten 430 Tagen hier an Beweisaufnahme erfolgt ist. [...] Das Wissen über den Verfassungsschutz, staatlichen Rassismus, institutionellen Rassismus, das Wissen über die ­organisierten militanten Neonazis, das ist in der Welt, das ist geschaffen, das haben wir, das wird auch ein Urteilsspruch nicht aus der Welt schaffen.

Vom Tag der Urteilsverkündung ging trotz des enttäuschenden Urteils auch ein ermutigendes Zeichen aus. Am Abend des 11. Juli 2018 hatte ein antifaschistisches und antirassistisches Bündnis zu einer Demonstration unter dem Motto „Kein Schlussstrich“ aufgerufen. Angeführt von Nebenkläger*innen und deren Anwält*innen ­zogen mehrere Tausend Menschen vom Gericht in der Nymphenburger Straße durch die Münchener Innenstadt. Die Stimmung vieler Demonstrant*innen war von Enttäuschung und Wut geprägt, doch zeigte die Demonstration, dass das Urteil, das so sehr ein Schlussstrich sein will, kein Schluss­strich ist. In einem Redebeitrag buchstabierten wir das Motto und damit unseren eigenen Anspruch für die zukünftige Arbeit folgendermaßen aus:

Wir schauen heute auch in die Zukunft. Wir lassen diesen Prozess, diesen Ort, der allzu oft ein Ort der Täter*innen war, hinter uns. Die Zukunft gehört den Angehörigen und Überlebenden, ihren Fragen, ihren Wünschen. [...] Vielleicht werden wir nie alles wissen, was den NSU-Komplex ausmacht. Aber wir können unser Möglichstes tun, um Lücken zu füllen. Das heißt für uns: Kein Schlussstrich.“

In ihrem Plädoyer am 411. Verhandlungstag sagte die Nebenklägerin Yvonne Boulgarides: „Ich werde oft gefragt, wie ich diesem Prozess gegenüberstehe. Er ähnelt für mich einem oberflächlichen Hausputz. Um der Gründlichkeit genüge zu tun, hätte man die ‚Teppiche‘ aufheben müssen, unter welche bereits so vieles gekehrt wurde.“
Dass eine Gesellschaft das nicht auf sich beruhen lassen kann, ist ein Antrieb für die weitere Arbeit von NSU-Watch.

Neue rassistische Mobilisierungen

Dieser Anspruch trifft aber auf eine veränderte politische Lage. Während wir an 438 Tagen über mehr als fünf Jahre im NSU-­Prozess saßen, veränderte sich die gesellschaftliche Situation in Deutschland. Im Saal A 101 standen uns die 1990er Jahre, die damalige Neonaziszene und die damalige rassistische Mobilisierung noch einmal vor Augen. Wir wurden auch an die ausbleibenden Konsequenzen für die Neonazis im NSU-Komplex von gesellschaftlicher, polizeilicher und juristischer Seite in den 1990er Jahren erinnert. Allein gegen den V-Mann Tino Brandt gab es über 35 Ermittlungsverfahren, von denen keines Konsequenzen für ihn hatte.

Doch vor der Tür des Saals wurden gleichzeitig rassistische und rechte Stimmen wieder lauter. Dieser Aufschwung von rechts setzte tatsächlich schon vor Beginn des Münchener NSU-Prozesses ein. Bereits ab Ende 2012 kam es wieder verstärkt zu rechten und rassistischen Kampagnen. Diese richteten sich zunächst gegen die Kämpfe von Geflüchteten gegen die Lagerunterbringung und die sogenannte Residenzpflicht. Nur ein Jahr nach der Selbstenttarnung des NSU begann ein neuer Zyklus rassistischer Mobilisierung (...).

Zeitlich parallel zu dieser Zunahme rassistischer und rechter Gewalt entfaltete sich der Versuch der Behörden, den NSU-­Komplex von seinen noch heute existierenden Strukturen und den ebenfalls noch andauernden Folgen abzutrennen und ihn zu einer abgeschlossenen Geschichte zu erklären. Eine weiter gehende Aufklärung des NSU-Komplexes wäre für den Staat durchaus möglich gewesen, ein anderer Prozess ohnehin (...). Nebenklagevertreterin Antonia von der Behrens weist jedoch darauf hin, dass das Urteil im Prozess wenigstens Klarheit darüber verschafft, was von diesem Staat zu erwarten ist:

In der Rückschau muss es letztendlich wohl begrüßt werden, dass das Gericht keinen Kompromiss gewählt hat und die Nebenkläger*innen und ihre Aufklärungsinteressen nicht mit gefühligen Floskeln abgespeist und auch die Öffentlichkeit nicht mit ein paar zitierfähigen, die Bedeutung des Verfahrens anerkennenden Sätzen zufriedengestellt hat. In ihrer Rohheit hat die mündliche Urteilsbegründung an Klarheit nichts zu wünschen übrig­gelassen.“ (...)

Der NSU-Komplex ist nicht aufgeklärt

Und auch als am 2. Juni 2019 Walter Lübcke in Istha bei Kassel ermordet wurde, sahen wir und andere die Ähnlichkeit zu den Taten des NSU – viele erinnerten sich an die vorangegangene rechte Hetze gegen den Kasseler Regierungspräsidenten. Die wohl wortlose Hinrichtung Lübckes ließ an die Vorgehensweise des NSU denken. (...)

Stephan Ernst und Markus H., sein mutmaßlicher Mittäter, waren Teilnehmer der Demonstration in Chemnitz am 1. September 2018, während der die AfD den Schulterschluss mit der Naziszene auch auf der Straße vollzog. Hier traf also die politische Entwicklung auf einen Täter, der aus derselben Generation und der gleichen Szene stammte wie der NSU, der die 1990er Jahre als Bestätigung seines Rassismus erlebt hatte, der sogar über Verbindungen zum NSU-Netzwerk verfügte. Für uns stellt sich seitdem die Frage, ob bei einer angemessenen Aufklärung des NSU-­Komplexes diese Tat vielleicht hätte verhindert werden können.

In den nicht einmal neun Monaten vom 2. Juni 2019 bis zum 19. Februar 2020 forderte rechter Terror in Deutschland 13 Todes­opfer. Seit dem Ende des NSU-Prozesses wurden weltweit dutzende Menschen von Neonazis ermordet, dabei denken wir beispielsweise an die rassistischen Attentate von Christchurch und El Paso oder an den antisemitischen Angriff von Pittsburgh. In Halle wurden am 9. Oktober 2019 zum höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur Jana L. und Kevin Sch. ermordet. In Hanau wurden am 19. Februar 2020 Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Said Nessar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz. Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu aus rassistischen Gründen ermordet, der Täter tötete im Anschluss seine Mutter und sich selbst.

Es sind kleine Veränderungen wahrnehmbar in der gesellschaftlichen Reaktion auf solche Anschläge. Nach dem Mord an Walter Lübcke gab es viele, die forderten, in Richtung eines rechten Motivs zu ermitteln. Nach Halle stellten sich etliche dem Einzeltäternarrativ entgegen, das von Poli­tik und Behörden vorschnell ausgesprochen wurde. Nach Hanau wurde überraschend deutlich das rassistische Motiv der Anschläge benannt und die Namen der Ermordeten und die Stimmen ihrer Angehörigen standen zumindest bei manchen Berichten im Vordergrund. Doch diese Veränderungen sind bei weitem nicht umfangreich genug.

„Kein Schlussstrich“ ist nicht nur eine Forderung sondern auch das Versprechen, mit dem NSU-Komplex nicht abzuschließen. Wir wollen dafür sorgen, dass bei der Aufarbeitung rechten Terrors die Verantwortung der Täter*innen und auch der gesamten Strukturen, die die Taten erst ermöglicht haben, aufgeklärt werden. Rechte Ideologien und ihre Organisationen, bis hin zur AfD, müssen als Grundlage und Stichwortgeber rechten Terrors erkannt werden.

Neun Jahre nach der Selbstenttarnung ist die Aufarbeitung des NSU-­Komplexes noch lange nicht abgeschlossen, die Gefahr des rechten Terrors bleibt schrecklich aktuell. NSU-Watch hat den NSU-Prozess beobachtet, jeden Tag protokolliert und der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Das zentrale Anliegen des Buches von NSU-Watch ist, die rassistischen Strukturen, die den NSU hervorbrachten, ihn wissentlich oder unwissentlich unterstützten und so zehn Morde, drei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle zwischen 1998 und 2011 möglich machten, entlang der Geschehnisse und Akteur*innen des NSU-Prozesses in München aufzuzeigen. Trotz der vielen offen gebliebenen Fragen soll das Buch eine Zwischenbilanz bieten.

"Aufklären und einmischen - Der NSU-Komplex und der Münchener Prozess"

Verbrecher Verlag
232 Seiten
Preis: 18,00 Euro
ISBN: 9783957324221

(Der Blog NSU Watch wurde 2020 mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet)