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Den Wahnsinn stoppen – die katastrophale Lage an den EU-Außengrenzen

Christian Jakob
Einleitung

Die ohnehin katastrophale Lage in den Flüchtlingslagern in Südosteuropa hat sich wegen des einbrechenden Winters deutlich verschlimmert. Der Präsident von „Ärzte ohne Grenzen“, Christos Christou, bat die EU in einem Brief „diesen Wahnsinn“ zu stoppen. Die Zustände seien „unfassbar“, es gebe wenig, was die Ärzteteams vor Ort tun können, um „diesen Kreislauf des Leidens zu stoppen.“ Auch der Chef des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR), Filippo Grandi, nannte die Lage nach einem Besuch „katastrophal“.

Symbolbild: flickr.com; Christopher Jahn/IFRC; CC BY-NC-ND 2.0

Die „Hotspots“ genannten EU-Registrierlager auf den griechischen Inseln im Osten der Ägäis sind völlig überfüllt. In und um die Camps von Lesbos, Chios, Samos, Leros und Kos leben nach Angaben des griechischen Ministeriums für Bürgerschutz rund 39.000 Menschen – Plätze gibt es nur für rund 7.500 Menschen.1

Mehr geschlossene Lager

Die griechische Regierung hat sich entschlossen, der Überfüllung dadurch zu begegnen, dass sie einen großen Teil der Flüchtlinge künftig in geschlossenen Lagern interniert. Entsprechende Einrichtungen mit 15.000 Plätzen sollen jetzt gebaut werden. Der konservative griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis sagte, die europäischen Nachbarn betrachteten Ankunftsländer wie Griechenland als bequeme Parkplätze für Flüchtlinge und Migranten, er werde das „nicht länger hinnehmen“. Griechenland will, dass Deutschland deshalb Flüchtlinge direkt aus Lesbos aufnimmt. Ein Teil der Asylverfahren solle dann hier durchgeführt werden. Mitsotakis forderte, die neue EU-Kommission solle sich für „mehr Lastenteilung“ einsetzen.

Doch wie diese „Lastenteilung“ genau aussehen soll, ist fraglich. 40 Abgeordnete aus mehreren Ländern haben einen Brief an die neue EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen (CDU) geschrieben, und sich für die Errichtung von „Asylzentren“ an Europas Außengrenzen eingesetzt. Dort sollten Asylsuchende „direkt in ein Asylverfahren gehen und im negativen Fall direkt von dort wieder zurückgeschoben werden“, heißt es in dem Schreiben, das unter anderem der CDU-Bundestagsabgeordnete Philipp Amthor oder CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak unterschrieben haben. Genau dasselbe hatte erst kurz zuvor Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) vorgeschlagen. Wahrscheinlich ist, dass die Vorstellungen der griechischen Regierung mit jenen der konservativen deutschen Innenpolitiker so in Einklang gebracht werden, dass in den neuen Gefängnissen eine Art Asyl-Vorverfahren durchgeführt wird.

Massenhafte Pushbacks

Schon länger aber hat Griechenland auf andere Art versucht, sich der Flüchtlinge zu entledigen: Durch gewaltsame, direkte Zurückschiebungen an den Grenzen. Allein an der Landesgrenze zur Türkei sollen es in den vergangenen zwölf Monaten fast 60.000 Menschen gewesen sein. Das berichtete der Spiegel unter Berufung auf Dokumente des türkischen Innenministeriums. Mit den Zurückschiebungen verstößt Griechenland gegen seine Pflicht, Ankommenden die Möglichkeit für einen Asylantrag zu geben. Dies wiegt umso schwerer, als es sich bei den Zurückgeschobenen auch um Menschen aus Konfliktregionen wie Afghanistan, Pakistan, Somalia und Syrien handelt. Und die Türkei schiebt ihrerseits Zurückgeschobene in ihre Herkunftsländer ab.

Pushbacks verletzen die EU-Grundrechtecharta und die Genfer Konvention, die Schutzsuchenden das Recht auf ein ordentliches Verfahren geben. Sie dürfen nicht in ein Land zurückgeführt werden, wo sie in Gefahr sind. Auch kollektive Ausweisungen ohne eine Einzelfallprüfung des Asylanspruches sind illegal.

Griechenland wies die Vorwürfe zurück. „Das haben wir bereits mehrmals dementiert. Griechenland ist ein Rechtsstaat“, sagte Alexandros Gennimatas, Sprecher des Außenministeriums. Tatsächlich ist die Praxis dieser Zurückschiebungen seit langer Zeit bekannt. Dabei werden Migranten und Flüchtlinge, die die griechische Polizei aufgreift, nicht wie vorgeschrieben zunächst in Aufnahmeeinrichtungen gebracht, sondern direkt an die grüne Grenze zurückgefahren und meist mit Gewalt dazu genötigt, zurückzugehen. Strittig war in der Vergangenheit unter anderem die Frage, welche Rolle die EU-Grenzschutzagentur Frontex dabei spielt. Frontex hatte die Zurückschiebungen meist als rein griechische Aktionen dargestellt.

Neu ist, wie die Türkei mit dem Phänomen umgeht: Nämlich mit einer Offenlegung ihrer Erkenntnisse zu den Pushbacks. Im Juli diesen Jahres war Kyriakos Mitsotakis Ministerpräsident der konservativen Nea Dimokratia geworden und hatte bald eine härtere Gangart in Sachen Asyl angekündigt. Ankara fürchtete offenbar eine Zunahme der illegalen Rückschiebungen. Ende Oktober 1999 hatte die Türkei deshalb Griechenland der Lüge bezichtigt. Salinia Stroux, freie Mitarbeiterin bei Refugee Suppurt Aegean in Athen, beobachtet die Lage am Evros seit Jahren. „Alle wissen es seit Jahren, auch Frontex ist Zeuge dieser Vorfälle.“, sagt sie. Schon 2013 hat Stroux für Pro Asyl eine Studie über die illegalen Zurückschiebungen aus Griechenland verfasst. „Die Zahlen schätzte man damals auch schon sehr hoch“, sagt sie.

Am Evros Zurückgeschobene würden in der Regel aufgegriffen und in kleinen Polizeiwachen an der Grenze oder in der Stadt Edirne in Gewahrsam genommen. „Uns haben viele Flüchtlinge und Migranten berichtet, dass sie dabei befragt wurden.“ Dass die Türkei diese Statistiken nun erstmals so offensiv kommuniziert, nennt Stroux „ein politisches Spiel“, offenbar um den Druck auf Griechenland und die EU zu erhöhen.

Kein Ende der humanitären Krise

Auch in Bosnien hatte sich die Lage in den vergangenen Monaten drastisch zugespitzt. Mitte Dezember räumte die Regierung das Lager in Vucjak. „Das Ende einer humanitären Katastrophe,“ twitterte reichlich optimistisch Peter Van Der Auweraert, der Westbalkan-Koordinator der Internationalen Organisation für Migration. An die 1.000 Menschen lebten hier in Zelten ohne feste Böden, ohne Strom- und Wasseranschlüsse und Heizmöglichkeiten. Im November 1999, mit dem einsetzenden Winter, Schneefällen und nächtlichen Temperaturen tief im Minusbereich wurde die Situation in Vucjak vollends unhaltbar. Das Camp hatte die Gemeinde Bihac im Juni 2018 auf dem Terrain einer ehemaligen Mülldeponie eingerichtet. Sie wollte damit den gestiegenen Andrang von Migranten und Flüchtlingen bewältigen, die in der Grenzregion zum EU-Land Kroatien feststeckten. In Bihac und Umgebung halten sich Schätzungen zufolge rund 7.000 Migranten und Flüchtlinge auf. Sie hatten bis zuletzt in Vucjak ausgeharrt, weil sie nahe an der Grenze zu Kroatien bleiben wollten. Der Ort diente als Ausgangspunkt für Märsche über die Grenze ins EU-Nachbarland.

Denn auch Kroatien bringt Flüchtlinge mit Gewalt zurück über die Grenze nach Bosnien, wo sie dann festsitzen. AktivistInnengruppen wie „Border Violence Monitoring“ oder Bordermonitoring Europe hatten dies in der Vergangenheit immer wieder dokumentiert, unter anderem auch mit Aufnahmen von versteckten Kameras. Auf den Bildern war zu sehen, wie kroatische Polizisten mit schweren Waffen Flüchtlinge in Waldgebieten über die Grenze zurück nach Bosnien schicken. Solche direkten Zurückweisungen ohne Asylverfahren sind nach EU-Recht illegal.

Kroatien dementierte die Praxis, genau wie die griechische Regierung. Doch genau wie in Kroatien filmten auch am Grenzfkuss Evros kürzliche AktivistInnen das illegale Vorgehen der griechischen Grenzschützer – und spielten die Aufnahmen dem Spiegel zu. Der wertete sie mit dem Recherchekollektiv Forensic Architecture aus – und fand prompt sechs aktive und ehemalige Polizisten und Soldaten, die übereinstimmend schilderten, dass Pushbacks am Evros „systematisch“ durchgeführt würden.

Maskierte Männer ohne Hoheitsabzeichen

Auf den Videos ist zu sehen, wie maskierte Männer in teilweise militärisch anmutender Kleidung ohne Hoheitszeichen Gruppen von Menschen von der griechischen Seite des Grenzflusses Evros auf die türkische Seite transportieren. Gruppe für Gruppe werden die Menschen in einem kleinen motorbetriebenen Schlauchboot auf der türkischen Seite der Grenze abgesetzt. Nach Angaben des Spiegels stammen die Bilder wohl vom September 2019.

Am selben Tag, an dem der Spiegel die Videos veröffentlichte, starben am Evros sechs Menschen. Der Gerichtsmediziner der Region, Pavlos Pavlidis sagte im griechischen Fernsehen: „Gestern sind die Leichen von zwei Frauen entdeckt worden. In den vergangenen zwei Tagen waren vier Männer ums Leben gekommen. Sie starben alle an Unterkühlung“, sagte der Gerichtsmediziner.

  • 1Stand des Artikels Dezember 2019